Frau Schimmel und die Menschenrechtsfundamentalisten

Über die deutsch-islamische Verbrüderung im Namen kultureller Identität

Mal war es ein lateinamerikanischer Dichter-Mönch, der es mit dem von seinem Land eingeschlagenen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus hatte und längst wieder ganz im Schoß der Kirche angekommen ist, mal ein liberaler Schwallkopf aus dem Elsaß, der in deutsch-französischer Freundschaft macht, dann wieder ein zum Antikommunisten geläuterter spanischer Überlebender deutscher KZs, der von den Verwerfungen im 20. Jahrhundert zu erzählen weiß und jetzt eben eine schrullige alte Professorin, die ein Leben lang Bücher über die islamische Kultur und Religion geschrieben hat als Mittlerin zwischen den Kulturen.

Je nach geistiger Konjunktur bekommen solche Leute den "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels", der, obwohl von einer privatwirtschaftlichen Stiftung ausgegeben, sich als deutscher Friedensnobelpreis gut bewährt hat. Je nach den geistigen Bedürfnissen der Nation, also den politischen Erfordernissen des Standorts Deutschland, wird die Wahl getroffen, die meistens auf breite Zustimmung stößt, und gerne halten die höchsten Repräsentanten der Nation die Laudatio.

Doch ausgerechnet für die unpolitische Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel hätte, wenn es nach einigen Kritikern gegangen wäre, Bundespräsident Roman Herzog die Laudatio nicht halten dürfen, wegen möglicher Standortschädigung.

Bekommen hat Annemarie Schimmel den Preis, weil sie "für eine kulturübergreifende Zusammenarbeit der Aufklärer, der Pragmatiker, der Sucher nach einer Zivilisation der Versöhnung gegen die Maler der Feindbilder" eintrete (Herzog, Laudatio, FR 16.10.95). Das Anliegen des Stiftungsrates des Deutschen Börsenvereins, eine "Konfrontation der Kulturen" (FAZ, 12.9.95) zu vermeiden, ist an der Wahl Schimmels unschwer zu erkennen: ausgezeichnet wird Annemarie Schimmel nicht für eine wie auch immer kritische Auseinandersetzung mit dem Islam, sondern für das aus allen Ländern und Zeiten zusammengeklaubte Sammelsurium islamischer Kulturleistungen, mit dessen Darstellung sie für eine deutsch-islamische Verständigung werben will. Ihr Wunsch, einen Beitrag zu einer Verständigung zwischen "Kulturen" zu leisten, liegt im Trend. Daß an ihrer Nominierung überhaupt Kritik geübt wird, ist lediglich einer Erinnerung geschuldet, die mit dem Namen Salman Rushdie verbunden ist.

1. Der Fall Schimmel

Diejenigen, die 1989 im Namen des Rechts auf Redefreiheit für den von Ayatollah Khomeini mit dem Tod bedrohten Schriftsteller Partei ergriffen hatten, waren bereits im Frühjahr dieses Jahres aufmerksam geworden, als Annemarie Schimmel öffentlich kund tat, daß dessen Roman "Die satanischen Verse" auf eine "sehr üble Art" die Gefühle gläubiger Muslime verletzt habe. Als schließlich bekannt wurde, daß sie auch noch den Mordaufruf Khomeinis mit dem Verweis auf die islamische Tradition für verständlich hielt, formierten sich die ehemaligen Verteidiger Rushdies zum zweiten Mal: Anfang September wurde ein u.a. von Lea Rosh, Ralph Giordano, Daniel Cohn-Bendit und Jürgen Habermas unterzeichneter offener Brief veröffentlicht, mit der Aufforderung an den Bundespräsidenten, die vorgesehene Preisrede nicht zu halten.

Sowohl vom Deutschen Börsenverein als auch von Annemarie Schimmel selbst wurde zunächst jeder Zusammenhang zwischen einer von den Kritikern besonders beanstandeten Passage und dem Mordaufruf Khomeinis bestritten. Die umstrittene Textstelle stamme aus dem Vorwort eines bereits 1981 veröffentlichten Buches und besage lediglich, daß die Schmähung des Propheten aus islamischer Sicht ein todeswürdiges Verbrechen sei. Jedoch hatte das Dementi in der Öffentlichkeit nur wenige Tage Bestand. In einer 1989 erschienenen 2. Auflage des gleichen Buches ("Und Muhammed ist sein Prophet") – und um die ging es – hat Frau Schimmel ihr Vorwort in bemerkenswerter Weise aktualisiert: "Wer im Frühjahr 1989 die Zeitungsveröffentlichungen verfolgte, die sich mit Rushdies Satanischen Versen befaßten, bemerkte, daß kaum je der Grund für die Empörung nicht nur Ayatollah Khomeinis, sondern auch weiter muslimischer Kreise richtig verstanden wurde: Beleidigung des Propheten ist seit Jahrhunderten nach den meisten islamischen Rechtsschulen ein todeswürdiges Verbrechen. Man flüchtete in formalistische Argumente, in denen historische Fakten dargelegt wurden, oder, in den meisten Fällen, in eine Verteidigung der ,Redefreiheit’". Statt den Mordwunsch vieler Islamisten richtig zu verstehen, flüchteten sich also die Khomeini-Kritiker in ein so formalistisches Argument wie das des Rechts auf Redefreiheit – man muß schon einen recht eigenartigen Umgang mit der deutschen Sprache haben, um daraus nicht die Billigung des Mordaufrufs herauszulesen. Wenig später wurde eine Bemerkung Schimmels auf einer Veranstaltung ebenfalls im Frühjahr 1989 bekannt, Salman Rushdie gehöre umgebracht, am liebsten würde sie es selber tun. Das wurde von ihr nicht etwa dementiert, sondern zu einem Ausrutscher erklärt: "Leider habe ich die schlechte Angewohnheit, Ausdrücke wie ,den könnte ich umbringen‘ oder ,in den Rhein werfen‘ auch zu meinen besten Freunden zu sagen, obwohl ich nicht einmal eine Spinne oder Fliege töten könnte und aus Abscheu vor all den Grausamkeiten im Fernsehen noch nie einen Krimi gesehen habe" (FAZ, 13.9.95). Wieder einige Tage später kamen lobende Worte Schimmels über den pakistanischen Militärdiktator, Massenmörder und Islamisten (Einführung der Sharia) Zia ul Haq ans Licht, den man leider nie richtig verstanden habe: "Die beiden Reizworte für westliche demokratische Liberale, ,Militärherrschaft‘ und ,Islam‘ haben jedoch leider zu einem Negativbild des Generals beigetragen" (Die Woche, 21.9.95). Das von Zia auf den rechten Weg gebrachte Pakistan, das sich gerade daran macht, die von Schimmel so geliebten islamischen Mystiker und damit Sektierer, die Sufis, zu verfolgen, hat ihr bereits zu Lebzeiten eine Annemarie-Schimmel-Straße gestiftet.

Erinnert man sich der Sympathien, mit denen 1989 Salman Rushdie weit über die linksliberale Öffentlichkeit hinaus bedacht wurde, und auch an die Kundgebungen des Abscheus gegen Khomeini und seine Sympathisanten, dann hätte Annemarie Schimmel als zukünftige Trägerin eines "Friedenspreises" disqualifiziert sein müssen.

Doch Schimmel hat ihren Preis bekommen, Herzog hat die Laudatio gehalten, und öffentlich disqualifiziert wurden ihre Kritiker. Dabei haben sie gegen Schimmel und Herzog nur das in Anschlag gebracht, was sie seit 20 Jahren bei allen möglichen Gelegenheiten tun, nämlich im Namen der unverletzlichen Menschenrechte öffentlich gegen deren Verletzung Klage zu führen. In den Rücken gefallen sind ihnen dabei nicht nur Börsenverein und Bundespräsident, sondern auch jene, auf deren Zuspruch sie sich früher immer verlassen konnten, die Agenten der "kritischen Öffentlichkeit" in den Feuilletons und Talkrunden.

2. Die Menschenrechte und ihre Freunde

Neu an der Schimmel-Kampagne war keineswegs deren Form und Inhalt. Neu sind die Spielregeln, unter denen Menschenrechtskampagnen heutzutage abzulaufen haben.

In den Zeiten der sogenannten Blockkonfrontation war die Einhaltung der unveräußerlichen Menschenrechte ein Markenzeichen des kapitalistischen Blocks. Auf ihre Einhaltung weltweit zu dringen, diente im wesentlichen dazu, den Systemgegner als die Freiheit mit Füßen tretende Gewaltherrschaft der Weltöffentlichkeit vorzuführen. Zugleich mußte sich der kapitalistische Block jedoch selbst verpflichten, die Sache im eigenen Herrschaftsbereich durchzusetzen. Daß es damit nicht weit her gewesen ist, war die moralische Ressource jener Demokraten, die sich das Menschenrecht aufs Pannier geschrieben haben. Weil sie die sozialistischen Staaten stets beschuldigten, mit den individuellen Freiheiten nicht Ernst zu machen, durften sie mit der gleichen Verve auf die Zustände im amerikanischen Hinterhof und anderswo hinweisen und entzogen sich so dem Verdacht, lediglich Agenten imperialistischer Interessen zu sein. Da die Rechte, für die sie kämpften, nirgendwo ganz verwirklicht waren, konnten sie ihre Beschuldigungen gleichmäßig austeilen und das eigene Lager gelegentlich in einige moralische Bedrängnis bringen.

Ihr Kampf blieb immer eigenartig abstrakt. Zwar führten sie reihenweise die Opfer staatlicher Übergriffe vor, doch dienten ihnen diese immer nur als Fallbeispiele für einen rechtlosen Zustand, der nach der Anwendung des zuständigen Menschenrechts verlangte. So war ihnen Salman Rushdie lediglich der personifizierte Sachverhalt, auf den das Gesetz angewendet wird. Beschädigt ist im Endeffekt weniger der verfolgte Dichter als vielmehr die abstrakte Norm, derzufolge niemand dafür verfolgt werden dürfe, daß er in Wort oder Schrift seiner persönlichen Überzeugung Ausdruck verleiht. Zum Ansprechpartner erklärten die Menschenrechtsritter die Öffentlichkeit in der freien Welt, also die Leser von Zeitungen, in denen der Appell erscheint, oder die Zuschauer von Talk-Runden, in denen die Unterschriftsteller ihr Anliegen diskutieren. Sie organisierten Betroffenheit mit den anschaulich vorgeführten menschlichen Schicksalen, die sich seit dem Abdanken revolutionärer Hoffnungen bei der West-Intelligenz vor rund 20 Jahren im Ruf nach Rechtsschutz entlud. Der stumme Zwang, aus dem menschliche Schicksale gemacht werden, mußte unbenannt bleiben, wenn nicht das Menschenrechtsgebäude als Komplize der tatsächlichen Gewalt, der es sich zu seiner Exekutierung andient, kenntlich werden sollte. Denn wer die Verletzung von Gesetzen beklagt und ihre Einhaltung fordert, wendet sich notwendig an einen Souverän, der im Zweifel in der Lage ist, den gewünschten Rechtszustand durchzusetzen.

Die Menschenrechtsfreunde vom Schlage des Rushdie-Kartells haben sich den gewalttätigen Konsequenzen ihrer Beanstandungen lange Jahre nicht stellen müssen, weil der Status Quo der Nachkriegsordnung Kriege für die Gerechtigkeit vorerst nur in evangelischen Bildungsakademien zuließ. Die Gewalt, die sie einforderten, war ähnlich abstrakt wie das Recht, dem sie zum Durchbruch verhelfen sollte. Sie sollte einer dem jeweiligen nationalen Kalkül übergeordneten Weltrechtsordnung anhängen, die sich seit den 70er Jahren in einem immer undurchschaubareren Urwald völkerrechtlicher Verträge, Menschenrechtsakten, UN-Kommissionen etc. niederschlug, von dem jeder wußte, daß es bei der Produktion von Papier sein Bewenden haben würde. Den weltweiten Erfolg der supranationalen Bemühungen um die Etablierung der Menschenrechte sah man lange durch die Blockkonfrontation beschädigt, wegen der nationale Sicherheitsinteressen über die internationale Rechts- und Werteordnung gestellt würden.

Die Annahme, daß dem Niedergang der Sowjetunion der als "Ende der Geschichte" schon vorab gefeierte Sieg der Menschenrechte folgen würde, erwies sich jedoch als grandioser Irrtum. Allein die Existenz des Warschauer Paktes und die damit einhergehende Unmöglichkeit, Glaubenskriege zu führen, hat das kurze Menschenrechts-Zeitalter erlaubt. Obwohl die Menschenrechtler ihre ihnen seinerzeit eigene Rigorosität bei der Benennung von Staatsverbrechen nicht weltrevolutionärer Einsicht, sondern der abstrakten Allgemeinheit des Völkerrechts entlehnten, war es ihnen dadurch möglich, öffentlichkeitswirksam und ohne loyalitätsbedingte Abstriche Mörder und Komplizen zu benennen. Nur die garantierte außenpolitische Folgenlosigkeit ihrer Interventionen hat die Propagandisten der Menschenrechte davor bewahrt, als die Kriegstreiber, die sie immer schon waren, ausgemacht zu werden.

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus wurde auch die Forderung nach "Menschenrechten" zu dem, was sie im Kern immer schon war: ein Mittel zur Erpressung unbotmäßiger Staaten. Der Wegfall des Systemgegners hat nicht nur das Waffen- und Wirtschafts-Bündnis der freien Welt obsolet gemacht. Der bislang nur ideologische Kriegsschauplatz zur Durchsetzung weltweit garantierter Rechte verlagerte sich nun von Bad Boll auf die Schlachtfelder des Golfkriegs und Bosniens. Die Zelebrierung der Freiheit durch die dazu bestallten Tuis hatte sich von da ab zu messen an den konkreten staatlichen Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung. Jene, die früher nichts sehnlicher wünschten, als daß endlich Richtigkeit gemacht werde mit ihren gerechten Forderungen, müssen nunmehr hilflos zusehen, wie ihnen vom Menschenrechtspraktiker Staat der Rang abgelaufen wird. Der bescheidet sich keineswegs mit der Exekution des Rechts in Bosnien und bald schon anderswo. Er nimmt auch die Definition darüber, was ein Menschenrecht konkret bedeuten soll, in eigene Regie.

Hatte man früher um des guten Rufs des kapitalistischen Blocks willen auch eine linksliberale Öffentlichkeit geduldet, die auf ihrer Forderung nach der kompromißlosen Einhaltung von Menschenrechten auch dort bestand, wo dies staatlichen Interessen in die Quere kommen konnte, so machen die Angriffe des deutschen Feuilletons auf die Schimmel-Kritiker deutlich, das die Faxen jetzt ein Ende haben müssen.

3. Der Islam und das Recht auf kulturelle Identität

Der Islam, so haben außer einigen Unbelehrbaren inzwischen alle gelernt, ist zuvörderst eine große Weltkulturgemeinschaft mit eigenen Werten und Identitäten, die sich nicht einfach mit christlich-abendländischen Wertevorstellungen messen ließe. Das haben Habermas und andere durch Nicht-Verhalten anerkannt. Denn als sie Rushdie 1989 in Schutz genommen hatten, haben sie sich nicht zum Inhalt der von gläubigen Muslims zurecht als beleidigend empfundenen Passagen der "Satanischen Verse" geäußert. Mit Rushdies Schmähung des Propheten als eines kleinkrämerischen Geschäftsmannes, dessen heiliges Buch ein die letzte menschliche Regung penibel unter staatlich-religiöse Verwaltung stellender Verbotekatalog sei, hatte man sich geflissentlich nicht auseinandergesetzt. Doch trotz ihrer grundsätzlichen Anerkennung des Rechts auf kulturelle Identität blieben sie ihrer alten Gesinnung, wonach Mord eben immer und überall Mord sein soll, treu und sitzen plötzlich zwischen allen Stühlen. Wer heute noch in Sachen Islamismus mit dem Menschenrechtshammer auffährt, wird stracks mit dem Etikett versehen, das bis vor kurzem der herrschenden Strömung im Islam vorbehalten war: Fundamentalist.

So vermag die FAZ (am 13.9.95) in Habermas’ Kritik an einer sich kulturalistisch begründenden Relativierung des Rechts auf Redefreiheit nur eine "engherzige Borniertheit" zu sehen, "das schärfste Argument gegen jene europäische Kultur, die die Unterzeichner zu verteidigen glauben". Die ganze Auseinandersetzung habe "wahnhafte Züge" angenommen, das Verhalten der Kritiker gleiche inzwischen demjenigen von Inquisitoren und "kafkaesken Untersuchungsrichtern".

Der Fall Schimmel gibt der FAZ Anlaß dazu, die Kritiker an ihre frühere mangelnde Loyalität zur antikommunistischen Staatsräson zu erinnern. Denn gegen die Verletzung von Menschenrechten in der Sowjetunion hätten einige der jetzigen Unterzeichner des Protestschreibens nichts einzuwenden gewußt. Dabei sei es doch "müßig", belehrt uns die FAZ (am 26.9.95), "darüber zu spekulieren, was den Fundamentalismus der Breschnew-Ära von dem Fundamentalismus Khomeinis unterscheidet". Davon abgesehen, daß Gestalten wie Habermas die Menschenrechtslage in der SU immer brav kritisiert haben, verdient der Hinweis, daß die Kritik an islamischen Staaten als Beharren auf kommunistischem Ungeist ausgelegt werden könnte, Beachtung.

Leuten wie Habermas wird ihre Einsicht aus jüngeren Jahren dahingehend ausgelegt, sie hätten "dem Kommunismus das Erbe der Aufklärung und des wissenschaftlichen Geistes" (FAZ, 26.9.95) zugutegehalten. Der Streit dreht sich um die auch von Habermas einst aufgeworfene Frage, ob das frühbürgerliche Projekt Aufklärung in den real existierenden kapitalistischen Metropolen seine Erfüllung gefunden habe, oder nach seiner Aufhebung in einem höheren Aggregatzustand von Vergesellschaftung heische – der Aufhebung in einem System, das das zur bloßen Litanei verkommene Glücksversprechen der Aufklärung wieder aufgreift und unter Freiheit ungegängelte Entfaltung statt der Wahl zwischen Dash und Omo versteht, mit Gleichheit die Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse aller statt gleicher Startbedingungen beim Wettlauf zu den Fleischtöpfen meint und unter Vernunft die Einrichtung der Verhältnisse von Menschen und nicht der von Sachen. Der Vorwurf gegen die einst linken Kritiker der Aufklärung beruht in dem (leider unbegründeten) Verdacht, daß sie auch mit ihrer neuen Beschäftigung, der kompromißlosen Einforderung des Menschenrechts, noch ein anderes, antikapitalistisches Lösungsmodell des Elends der Welt mit sich herumtrügen, oder auf deutsch gesagt, die organischen Bindungen von Volk und Staat untergrüben.

Wo so viel kommunistischem Ungeist geschuldete "engherzige Borniertheit" herrscht, ist der von Annemarie Schimmel betriebene Kulturrelativismus willkommen, und zwar gerade deshalb, weil "ein solcher Historismus, der alles versteht und zu viel verzeiht, das genaue Gegenteil von Fundamentalismus" sei (FAZ, 6.9.95). Die Verteidigung von Frau Schimmel will dabei keineswegs als Absage an die abendländische Zivilisation verstanden werden. Vielmehr gilt Annemarie Schimmel der FAZ als "letzte Erbin einer großen deutschen Tradition", nämlich des "romantischen Orientalismus der späten Goethe-Zeit" und damit als Repräsentantin einer Aufklärung, die man als deutsches Kulturgut reklamiert. In die Gegenwart verlängert meint der Bezug auf einen "romantischen Orientalismus" indessen nichts anderes als ein unter Verweis auf die kulturelle Identität der stets als naturhaftes Kollektiv vorgestellten Bewohner jedes Erdwinkels ausgesprochenes Kritikverbot an den unter dem Signum von Kultur und Religion verübten Verbrechen.

Daß der, der sich in das als Kultur bezeichnete Kollektiv nicht fügt, nicht auf "Verständnis" rechnen kann und sich die als "kulturspezifische Äußerungen" (FAZ, 26.9.95) bezeichneten Folgen selber zuzuschreiben hat, machte Annemarie Schimmel gegen die aus Bangladesh in die BRD geflohene Taslima Nasrin deutlich. Die Schriftstellerin habe durch "ihren kontroversen Roman und ihre unklugen Bemerkungen" die "kleine Gruppe fundamentalistischer Muslime" überhaupt erst auf den Plan gerufen. Frau Schimmel sieht durch Leute vom Schlage Nasrins ihr Bemühen um die Vermittlung des Islams in seiner geistigen Vielfalt gestört. Das Verhalten der von den Nasrins und Rushdies aufgebrachten Muslime sei "Wasser auf die Mühlen derer, die gern nur die negativen Aspekte eines ‘militanten’ Islam betonen oder politisches Kapital daraus zu schlagen versuchen" (FAZ, 5.10.95). Andere lassen dem Kritiker seiner eigenen Kultur seine Untat ausnahmsweise dann durchgehen, wenn er von den Provozierten mindestens halb totgeschlagen wird. So disqualifiziert die SZ (am 23.9.95) Taslima Nasrin mit dem Argument, sie habe zugunsten einer "internationalen Märtyrerkarriere" die ihr drohende Gefahr maßlos übertrieben und damit die Öffentlichkeit getäuscht.

4. Aufklärung über die Aufklärung

Mit dem Bezug auf den deutschen "romantischen Orientalismus" in Abgrenzung zum "kolonialistischen Orientalismus der imperialistschen Epoche" (FAZ, 12.9.95) wird eine deutsch-islamische Nähe unter antikolonialem Vorzeichen gesucht und gefunden. Deutschland, das Land, das im Gegensatz zu England und Frankreich kein Kolonialreich in der islamischen Welt unterhalten hat, muß sich in dieser Hinsicht nicht nur nichts nachsagen lassen, sondern stellt sich stolz als ehrlicher Freund der Region dar. Man hat auch in dieser Hinsicht aus der Vergangenheit gelernt, aus der der anderen. Daß es bei einem deutsch betriebenen Versuch einer "Wiedergutmachung" am kolonialen Sündenfall des "Westens" vor allem Ressentiments sein werden, über die diese beiden "Kulturen" zusammenfinden, verrät Annemarie Schimmel schon jetzt (FAZ, 12.9.95): "An der Harvard University trugen meine jüdischen Kollegen oder Studenten ihre Jarmulke, ihr Käppchen, und wir fanden das absolut normal. Wenn es dem einen gestattet ist, ein äußeres Zeichen seiner Religiosität zu tragen, warum sollte es dem anderen nicht gestattet sein?" Da treten sie aufeinander zu, die von der feindlichen Welt ewig mißverstandenen Volkskollektive, die in ihrem verständlichen Ringen um Identität immer auf den gleichen Dunkelmann stoßen, den mit dem Käppchen; auf den, der nichts gelernt hat aus den Lehren, die ihm das deutsche Volk beigebracht hat (und für die es so ungerecht bestraft wurde) und der es immer noch nicht lassen kann, auf die mit dem Finger zu deuten, denen das "äußere Zeichen ihrer Religiosität" und der markige Schlachtruf "Kahrolsun Israil!" (nieder mit Israel) zur puren Identität gerinnt.

Dafür, daß dieses Programm, das in der deutschen Bosnienpolitik schon seine erste Verwirklichung erfahren hat, auch weiterhin konsequent erfüllt wird, will auch die FAZ (am 26.9.95) sorgen. Mit der Forderung, daß sich "Europa" endlich seiner "eigenen geistigen Abgründe" vergewissern, d.h. mit den hierzulande immer schon anrüchigen Ideen von 1789 brechen solle, ist der Bogen geschlagen zu einer genuin deutschen Aufklärung über die Aufklärung. Aufklärung, von der FAZ buchstabiert, heißt nunmehr wieder das, was es bis zum Kollaps der Sowjetunion nicht mehr heißen durfte: die Option auf Belehrung all derjenigen Staaten, die sich deutschem Interesse nicht fügen und die dazu notwendige Konsensstiftung nach innen: "Es ist wahr, jene Staaten, die den wirklichen Fundamentalisten ausgeliefert sind, bedürfen der unablässigen Kritik, der nachdrücklichen Aufklärung darüber, was eine Weltzivilisation duldet und was sie verurteilt. Aber wahr ist auch, daß wir, die Teilnehmer des abendländischen Unternehmens, dieser Aufklärung ebenso bedürfen. Sonst werden wir nicht erkennen können, welche Kulturen nur anders und welche die Gegner unserer Überzeugungen sind".

Im O-Ton Herzog (FR, 16.10.95) wird der Unterschied zwischen böse und "anders" deutlich: "Ein friedliches, menschenwürdiges Miteinander verlangt aber mehr ... Deshalb plädiere ich, wo immer es geht, für freie Märkte, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und – im Interesse der Ärmsten – für Entwicklungshilfe." Und marktwirtschaftlich, also nur "anders", ist die Ideologie des Islamismus allemal. Diese Einschätzung teilt mit dem deutschen Bundespräsidenten fast die gesamte westliche Welt, wenn es um privilegierte Handelsbeziehungen mit islamistischen Regimes geht. Nur hat der die Nase vorn, der für optimalen Dialog einsteht, und das sind eben die Weltmeister in völkischer Identität, die Deutschen. Da durfte auch der Hinweis nicht fehlen, daß von deutscher Seite kein Menschenrechtsfundamentalismus gegenüber der islamischen Welt ausgehen werde. Menschenrechte, so Herzog, sollten künftig in der islamischen Welt so eingefordert werden, daß "niemand mehr befürchten (müsse), daß hier eine Fortsetzung alter kolonialistischer Herrschaftsmethoden mit ideologischen Mitteln stattfindet."

Daß der Islam "nur anders" sei und daß sich darum eine Kritik an ihm verbiete, meint auch Tilman Zülch von der Gesellschaft für bedrohte Völker, der den Kritikern Schimmels vorwirft, "dreieinhalb Jahre zur Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Muslimen in Bosnien geschwiegen zu haben" (FAZ, 13.9.95). Zwar ist der Vorwurf an die falschen Adressaten gerichtet: mitnichten hatten Lea Rosh, Ralph Giordano, Daniel Cohn-Bendit und zuletzt auch Jürgen Habermas "geschwiegen", sondern eine militärische Intervention in Bosnien ausdrücklich gefordert. Daß sie dies etwas spät und in der Annahme taten, die Bundeswehr werde sich um die Durchsetzung von "Menschenrechten" kümmern, ist dem obersten Artenschutzbeauftragten Zülch, dem ein einzelner Mensch ein Dreck und ein Volk genannter Zwangsverband der Himmel ist, Verdachtsmoment genug, daß sich die Unterschriftsteller seine Vorstellung von der Welt als Ethnozoo immer noch nicht zu eigen gemacht haben.

Die Habermas und andere haben sich in der selbstgelegten Menschenrechtsschlinge hoffnungslos verfangen. Daß sie heute als Buhmänner vorgeführt werden, verdankt sich lediglich einer gewissen Langsamkeit im Nachvollzug dessen, was einem kritischen Intellektuellen heutzutage abverlangt wird. Denn sie sind ja nicht umgefallen. Alles was ihnen heute vorgeworfen wird, haben sie so nicht gemeint. Schon bei der ersten Rushdie-Kampagne haben sie sich getreu ihres Rechtsdogmatismus um das eigentliche Problem herumgestohlen, sich aus "eurozentristisch" schlechtem Gewissen dem Identitätskult gebeugt und sich nicht zum Islam geäußert.

Auch ihr spätes "ja" zum deutschen Kriegseintritt in Bosnien verschleiert eher ihre maßgeblichen ideologischen Vorarbeiten zur aktuellen Kriegsbegeisterung deutscher Intellektueller. Sie haben vielleicht nie bedacht, daß, wer unter Freiheit staatlich garantierte Rechte versteht, irgendwann mitmarschieren muß, wenn es ernst wird. Die vorauseilende Kriegsbegeisterung der linksliberalen Intelligenz in Sachen Bosnien ist dennoch nicht zuletzt der Verdienst derer, die das linke Projekt Befreiung in juristische Kategorien gepreßt und der Weltstaatengemeinschaft zur Durchführung anempfohlen haben. Wenn ihre ehemaligen Schüler in den Redaktionen von taz und FR heute wegen Handlungsunfähigkeit der Weltgemeinschaft lieber gleich auf den eigenen nationalen Souverän setzen, haben sie lediglich die praktische Konsequenz aus dem Denken der Lehrer gezogen. Entpolitisierten Ideologen vom Schlage Habermas’ mußte entgehen, daß die totale Universalisierung des Kapitalverhältnisses zur in nationalstaatliche Identitäten zerfallenen "einen" Welt führen und so die völlige Partikularisierung ihres schlechten Utopie-Ersatzes, des Menschenrechts nach sich ziehen würde.

Justus Wertmüller/Tina Heinz (BAHAMAS 18/1995)


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