Im Jahre 1755 erschien Immanuel Kants "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie
des Himmels". Es grenzt an Ironie des Schicksals, daß diese optimistische
Welterklärung wenige Monate vor dem ersten Erdbeben, das zugleich ein
Medienbeben war, herauskam. So geriet mit der Naturkatastrophe von Lissabon auch
der europäische Optimismus ins Wanken. Gerade als der Vernunftphilosoph Kant
Gott aus der Natur verbannte, passierte ein Ereignis, das weithin als Zeichen
Gottes gewertet wurde.
Kant reagierte schnell. Damit die Menschheit nicht in reaktionäre
Erklärungsmuster zurückfiel, veröffentlichte er 1756 seine sogenannten
Erdbebenschriften. Sie gelten als Beginn der modernen Erdbebenforschung.
Voltaire dagegen schreibt sein "Poème sur le désastre de Lisbonne". Er
solidarisiert sich mit den Leidenden und opponiert gegen die Objektivierung von
Beben und Betroffenen. So standen sich die kalte Objektivität des
Naturwissenschaftlers und das empfindsame Mitgefühl des Zeitgenossen diametral
gegenüber.
Dies allein kann die historisch einmalige Aufmerksamkeit für das Beben nicht
erklären, da es genügend vergleichbare Ereignisse gab, die man heute kaum noch
kennt. Die Erdbeben von Santiago de Chile (1647) oder Messina (1780) sind trotz
mächtiger Zerstörungskraft fast vergessen. Katastrophe ist nicht gleich
Katastrophe, das zeigte Lissabon zum ersten Mal. So ist heute das verheerende
Erdbeben in der Kaschmirregion weniger präsent als New Orleans.
Entscheidend ist immer die Bildproduktion, die das Unglück auslöst. Die erste
Nachricht aus Lissabon kam mit dreiwöchiger Verspätung am 22. November in London
und Paris an. Ab dem 29. November beginnt die Nachrichtenflut, die gegen Januar
1756 abebbt, um schließlich im März zum Ende zu kommen.
Waren die Nachrichtenkanäle auch langsamer, so ist doch die Dauer, die das
Erdbeben die europäischen Zeitungen dominierte, bemerkenswert. Doch ist für die
Bildberichterstattung nicht nur die Intensität wichtig, sondern auch die
Innovation, sprich: die oft einschneidenden Veränderungen im Umgang mit Bildern.
Diese "neuen" Bilder wirken dann auf das Ereignis zurück und stellen es auf
diese Weise als einzigartig dar.
Die Flugblätter, die nach Lissabon in Umlauf kamen, waren zunächst
konventionell. Besonders die Szenen des Leids - die Mutter, die ihr totes Kind
beklagt, die zum Himmel erhobenen Hände - gehörten damals wie heute zum Kanon
der Katastrophe. Die eigentliche Bildrevolution vollzog sich zwei Jahre später.
1757 veröffentlicht Jacques Philippe Lebas eine Folge von sechs Stichen. Die
"Receuil des plus belles ruines de Lisbonne". Auf allen sechs Abbildungen werden
die Ruinen öffentlicher Gebäude dargestellt: Ansichten vom zerstörten Palast,
Überreste dreier Kirchen und der Oper. Zu sehen sind Spuren fortgeschrittenen
Verfalls, die Trümmer sind bereits tief in die Erde versunken, auf den Kämmen
der Mauern wuchern erste Pflanzen. In und um die Ruinen wandeln Menschen, die
Besucher oder "Touristen" zu sein scheinen. Überraschenderweise findet sich in
den Gesichtern kein Ausdruck des Schreckens, man unterhält sich offenbar
angeregt über den Zustand der Stadt.
Die Reihe der Stiche wird eröffnet von der Darstellung eines abgebrochenen
Bogens der "Tour de S. Roch". Vor dem Trümmerberg der rechten Bildhälfte
beratschlagen sich vier Männer, einer weist auf ein neues Bauwerk hin. Dieses
imposante Gebäude im Hintergrund ist eine Erfindung des Künstlers. Visionär läßt
er aus den Trümmern Neues entstehen und zielt damit auf die Zukunft. Die
Katastrophe wird zum Motor des Fortschritts. Diese hier ins Bild gesetzte
radikale Umdeutung von Zerstörung und Gottesstrafe zur Chance auf Erneuerung
erscheint kunsthistorisch revolutionär.
Lebas war auch ein begnadeter Geschäftsmann: Seine "schönen Ruinen" von Lissabon wurden ein gewaltiger Erfolg mit hohen Auflagen in ganz Europa. Sie stehen so auch für die weiter ungebrochene Mediengier nach Katastrophen. Getreu Kants Diktum: "Je schrecklicher je besser, vorausgesetzt man ist in Sicherheit."
Artikel erschienen am 30. Oktober 2005
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