Wo verläuft die Grenze zwischen Mystik und Mystifizierung?
Diese Frage kann man sich bei Annemarie Schimmel schon einmal stellen. Als
die 1922 geborene Orientalistin im November 1986 Pakistan besucht, schenkt
ihr der damalige Präsident, der Militärdiktator Zia ul-Haq einen Ausflug
nach Hinglaj, einem Jahrtausende alten Zentrum der Hindu-Göttin Kali im
muslimischen Siedlungsgebiet. Auf dem Weg zu den Makran-Bergen im Norden
Pakistans fliegt sie in schwindelerregender Höhe über die weite
Indus-Ebene. Begeistert notiert sie in ihrem 1994 erschienenen Reiseband
Berge, Wüsten, Heiligtümer, dass sie diese ferne Welt so
empfindet "wie ich sie mir als Kind manchmal erträumt hatte:
Mondlandschaft, Geisterlandschaft, Feenlandschaft". In dem
Alouette-Helikopter fühlt die große Gelehrte sich wie die Königin von Saba
"auf Salomos windgetragenem Thron".
In solchen Anfällen von
Verzückung meint man bei Schimmel manchmal den Beleg jener "imaginären
Geographie" zu lesen, mit der für den amerikanisch-palästinensischen
Sprachwissenschaftler Edward Said der westliche Orientalismus den
Orient als das schlechthin Andere konstruiert: exotisch, glitzernd,
geheimnisvoll. Auch in ihrer eben erschienenen Autobiographie
Morgenland und Abendland befindet Schimmel im türkischen Gordion
in den fünfziger Jahren: "Gefühle im Orient sind heftiger in Liebe und
Haß". In der Stadt, in der einst Alexander den berühmten Knoten
durchschlagen haben soll, wähnt sie abergläubisch noch die Kunst am Werk,
verderbenbringende Knoten zu schürzen, weil sie irgendwo ein paar
"hasserfüllte Augen auf mich gerichtet" fühlt und am Tag nach dem Besuch
mit einer "rätselhaften Krankheit" ans Bett gefesselt bleibt.
Poetisches Erweckungserlebnis
Doch solche gelegentlichen Essentialismen stehen im Schatten eines
beeindruckenden wissenschaftlichen Oeuvres. Schimmels 1975 zuerst in den
USA erschienenes Standardwerk Die mystischen Dimensionen des
Islam über die Geschichte des Sufismus gehört zu den faszinierendsten
Lektüren eines Leselebens. Freilich durchzieht ihr ganzes Werk immer
wieder eine merkwürdige Mischung aus Romantik, Positivismus und
unterschwelliger Religiosität. Woher die stammt, versteht man besser, wenn
sie von dem "Blitzschlag" des Jahres 1940 erzählt. Zufällig nimmt sie im
Studium an der Berliner Universität die Verse des 1207 geborenen
mystischen Dichters Metlana Rumi in die Hand: "Der Klang der Gedichte",
schreibt sie, "riß mich hin, und obgleich ich damals noch kaum etwas von
persischer Metrik und Rhetorik gelernt hatte, verstand ich die Texte fast
unmittelbar, so dass sich viele von ihnen gleichsam ohne mein Zutun in
deutsche Verse verwandelten." Dieses poetische Erweckungserlebnis lässt
sie zu einer der bedeutendsten Vermittlerinnen zwischen Orient und
Okzident werden. Aber vielleicht erklärt es auch Schimmels oft geringe
Distanz zu ihrem Gegenstand. Etwa, wenn sie in Syrien das Mausoleum des
theosophischen Mystikers Ibn `Arabi besucht und eine fatiha, die
erste Sure des Korans, spricht. Oder wenn sie sich an den heftigen Streit
um ihre unglücklichen Äußerungen als neu gekürte Friedenspreisträgerin des
Deutschen Buchhandels 1995 zur Fatwa gegen Salman Rushdie erinnert: "Der
42. Psalm und die koranischen Schutz-Suren waren meine geistige Nahrung in
jenen Wochen", weiß man nie so genau wer spricht. Die Wissenschaftlerin?
Die Gläubige?
Doch wer immer noch auf der Suche nach der
verkappten Rechtsislamistin ist - in ihrer Autobiographie wird er sie
nicht finden. Schimmels Memoiren bieten vielmehr eine spannende
Sozialgeschichte der Nachkriegswissenschaft. Vom Studium im zerbombten
Berlin über die "Lageruniversität", die die amerikanische Kriegsgefangene
in Marburg aufbaute, über die Jahre als erste Professorin für
Religionsgeschichte in Ankara bis zum "Eliot House" in Harvard, wo sie 25
Jahre als Professorin für indo-muslimische Kultur wirkte. Den US-Unis
wirft sie vor, "völlig Amerika-zentrisch" zu sein und beklagt, dass 25
Lehrstühlen für amerikanische Geschichte in Boston nur einer für
islamische gegenüberstünde: "Wundert man sich, dass die amerikanische
Nahostpolitik seltsame Wege geht?" fragt die Orientalistin ungewohnt
kritisch. Solche Spitzen sind selten. Denn wenn man etwas in Schimmels
Erinnerungen findet, dann das fatale (deutsche) Ideal einer
weltabgewandten, unpolitischen Wissenschaft, die in eine höhere geistige
Sphäre zielt. In ihrem Elternhaus wurde nie über Politik gesprochen. Auch
als Wissenschaftlerin diskutierte sie lieber mit Kollegen solange über
altpersische Verse, bis "wir Zeit und Raum vergaßen". Im Fahrstuhl in
einem Hotel in Tokio vertieft sie sich mit ihrem französischen Kollegen
Massignon sofort in eine Auslegung der "Rosa Mystica".
Kein
Wunder, dass sie in ihrem Buch auch auf den 11.September 2001 eher hilflos
reagiert. Sie spricht nicht wie der tunesisch-französische Lyriker und
Essayist Abdelwahab Meddeb in seinem gerade erschienenen Buch von einer
Krankheit des Islam. Sondern sie beschwört sehr allgemein die
"edle Humanität" und das "wahre soziale Engagement", das der Islam
gebiete. Doch wie die Verbindung traditioneller Formen und "kühner Ideen"
für einen Islam der Zukunft aussehen soll, die sie sich bei dem geistigen
Vater Pakistans, dem Philosophen Muhammad Iqbal (1877-1938), ihrem zweiten
Erweckungserlebnis, abgeschaut hat, vermag sie nicht zu sagen. Stattdessen
verliert sich diese universell gebildete Wissenschaftlerin leider sehr oft
so atemlos wie eitel darin, ihre zahlreichen Ehrendoktorhüte,
Prominentenbekanntschaften und Vortragsrekorde aneinander zu reihen.
Zwar ahnt man, um was es Schimmel geht, wenn sie erzählt, dass sie
aus lauter Begeisterung über Iqbals Payâm-i mashriq, diese
Botschaft des Ostens übersetzt. In dem Lyrik-Werk treffen sich
Goethe und Rumi im Paradies. Doch so etwas wie ihrem Vermächtnis kommt man
erst näher, wenn man das gut geführte Gespräch zwischen ihr, dem Erlanger
Islamordinarius Hartmut Bobzin und dem Kölner Publizist Navid Kermani
gelesen hat. Da erklärt sie, dass Iqbals "dynamische" Lesart des Islam
eine "persönlich geschenkte Offenbarung" des einzelnen Gläubigen gegen die
scholastische Orthodoxie des islamischen Klerus birgt. Erst in diesem
hervorragenden, lebendigen Bändchen, in dem ihr endlich einmal die
richtigen Fragen gestellt werden, erfährt man, dass Schimmel die
islamische Mystik (wie Meddeb) als Katalysator des Dialogs der Religionen
sieht. Weil für sie diese Volksfrömmigkeit "der große Strom des Glaubens
und der Liebe ist, der unter den Religionen hinwegfließt". Mit ihrer
"Sprache der Erfahrung" verbinde sie die einfachen Menschen.
Der große Strom der Liebe
Genau an dieser
Stelle klafft eine frappierende Diskrepanz. Schimmel favorisiert den
"emotionalen" Sufismus gegenüber dem "intellektuellen". Aber die eigenen
Emotionen bleiben in ihren Erinnerungen merkwürdig ausgespart. Bis auf das
knappe Worte von einer "hässlichen" Liebesaffäre vor fünfzig Jahren in der
Türkei erfährt man nichts über den Gefühlshaushalt einer herausragenden
Wissenschaftlerin, die mit Iqbal immerhin die Liebe dem Intellekt
vorzieht. Ihre Schreibmaschine IBM Selectric nennt die Frau mit einem Hang
zum Registerschreiben und Wettrezitieren dagegen ihre "beste Freundin".
Schimmels manchmal etwas kleinkarierte Mischung aus
Selbstdarstellung und Zurückhaltung schmälert jedoch nicht die Bilanz
eines einzigartigen Forscherlebens. Mag auch in ihrer Bonner Wohnung jedem
Besucher das stolz präsentierte Großfoto mit dem goldgeprägtem Staatsadler
auf grünem Lederrahmen ins Auge fallen, das sie und Bundespräsident Roman
Herzog beim Staatsbesuch in Pakistan 1995 zeigt. Der poetische Diskurs der
Annemarie Schimmel entstammt nicht der "Komplizenschaft" mit der Macht,
der für Edward Said den klassischen, britischen und französischen,
Orientalismus erst konstituiert hat. Schimmel fasziniert am Islam "die
absolute Hingabe" der Gläubigen. Auch der schwärmerische Pantheismus, der
ihre "Arbeit der Liebe" grundiert, mag strenggläubigen Aufklärern
Magengrimmen verursachen. Profunder als mancher Karneval der Kulturen hat
sie es so aber geschafft, mit dem Orient in seinen eigenen, teilweise
vergessenen Sprachen zu kommunizieren - statt in Drohgebärden. Schimmel
hat die Vielfalt des historischen Orient aufgefächert. Damit hat sie die
Grenzen zwischen "uns" und "den anderen" verwischt.
Annemarie Schimmel: Morgenland und Abendland. Mein
west-östliches Leben. Verlag C.H.Beck, München 2002, 320 S., 24,90
EUR
Annemarie Schimmel: Auf den Spuren der
Muslime. Herausgegeben von Hartmut Bobzin und Navid Kermani.
Herder-Verlag, Freiburg, Basel, Wien 2002, 192 S., 9,90
EUR
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heim zu Lügen haben schöne Beine