Die philosophische Madonna

Anläßlich ihres 30. Todestages: Ein Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit über Hannah Arendt

von Hannes Stein (DIE WELT, 03.12.2005)

Daniel Cohn-Bendit, 1945 in Montauban/Frankreich geboren und in Deutschland aufgewachsen, gehörte zu den Wortführern der Pariser Mairevolution 1968, war in den 1970er Jahren Mitglied der Frankfurter Sponti-Szene, redigierte dort die legendäre Zeitschrift "Pflasterstrand", trat 1984 der Partei "Die Grünen" bei und ist heute deren Ko-Fraktionsvorsitzender im Europaparlament.

DIE WELT: Was hat Hannah Arendt Ihnen bedeutet, als Sie noch ein ordentlicher, linksradikaler 68er waren?

Daniel Cohn-Bendit: Das ist kompliziert, weil sie ja eine Freundin meiner Eltern war. Ich kannte sie und ihre Thesen also schon damals. In der Emigration war sie um 1934 Mitglied einer Intellektuellengruppe in Paris, zu der auch mein Vater, meine Mutter, Walter Benjamin und Hannah Arendts Ehemann Heinrich Blücher gehörten. Mein Vater und Blücher wurden gemeinsam zu Beginn des Krieges interniert, und so gab es da eine tiefere Bekanntschaft. Aber Hannah Arendt war für mich in dieser Zeit noch nicht die prägende Denkerin.

DIE WELT: Wann haben Sie Hannah Arendt kennengelernt?

Cohn-Bendit: Als sie 1958 die Laudatio auf Karl Jaspers hielt, der den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. Da war mein Vater gerade gestorben, und sie besuchte meine Mutter. Zum zweiten Mal habe ich sie beim Auschwitzprozeß in Frankfurt gesehen. Ich war dort mit meiner Schulklasse zu Besuch.

DIE WELT: Wann haben Sie begonnen, sich mit Hannah Arendts Werk auseinanderzusetzen?

Cohn-Bendit: In den 1970er Jahren, als die Auseinandersetzungen über den Totalitarismus immer klarer wurden. Ich war von Hause aus ein linker Antikommunist, und als ich 1968 nach Deutschland kam, war ich verwundert, daß man sich hier aufgrund der Geschichte scheute, den Kommunismus mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen.

DIE WELT: Führte es zu Streit mit Ihren Genossen, wenn Sie sich auf Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" beriefen?

Cohn-Bendit: Streit hatte ich von vornherein, denn als ich 1968 aus Frankreich ausgewiesen wurde, war mir trotz allen revolutionären Unbehagens klar, daß ich lieber in der Bundesrepublik leben möchte als in der DDR. Ich sah in Frankreich und der DDR bürgerliche Gesellschaften - damals nannte man das so -, die reformbedürftig waren, aber nicht totalitäre Systeme.

DIE WELT: Was bedeutet Ihnen Hannah Arendts immer noch umstrittenes Buch "Eichmann in Jerusalem"?

Cohn-Bendit: Daß die Verteufelung der Nazis uns nicht weiterbringt. Das Wahnsinnige, was erklärt werden muß, ist doch, daß die Nazis "normale Menschen" waren! Adolf Eichmann war ein Nichts, das nur in einem totalitären, von Rassenwahn geprägten System seine herausragende Stellung erlangen und diese Vernichtung betreiben konnte.

DIE WELT: Aber einige Behauptungen, die Hannah Arendt in "Eichmann in Jerusalem" aufstellt, halten doch der historischen Überprüfung nicht stand. Denken Sie nur an ihre pauschale Verurteilung der Judenräte ...

Cohn-Bendit: Trotzdem bleibt die Frage, die sie bei der Betrachtung der Judenräte stellt, weiterhin relevant, nämlich: Wann akzeptiert man eine Entwicklung, und wann leistet man ihr Widerstand? Es mag ja sein, daß Hannah Arendt den Judenräten gegenüber ungerecht war. Aber ihre Grundfrage bleibt legitim: War es richtig, überhaupt zu kollaborieren? Denn es wollten ja nicht nur die Juden nicht wahrhaben, daß sie der Vernichtung entgegengehen. Als 1938 die westlichen Demokratien mit Hitler in München ein Abkommen schlossen, haben sie nicht gesehen, was in Deutschland für ein Vernichtungspotential entwickelt wird. Im Grunde ist es genau diese Frage, die den Staat Israel bis heute umtreibt. Die Ungerechtigkeit, die Israel gegenüber den Palästinensern an den Tag legt, hat etwas mit der Einsicht zu tun, daß man nie wieder in dieselbe Situation geraten will wie damals. Das ist ein Problem, das meiner Meinung nach nicht richtig verarbeitet wurde - aber es ist ein reales Problem.

DIE WELT: Hannah Arendts Haltung gegenüber dem Zionismus war interessant kompliziert, sie pendelte zwischen Zustimmung und Ablehnung. Sehen Sie Ihre eigene Haltung darin widergespiegelt?

Cohn-Bendit: Hannah Arendt sah ein, daß Juden irgendwo einen Ort haben wollen, wo sie als Juden in Ruhe leben können. Das ist eine Art Primärzionismus, den ich für die Generation der Menschen, die den Holocaust miterlebt haben, nachvollziehbar finde. Ich bin ja danach geboren. Und ich bin A-Zionist; das heißt, ich bin weder Zionist noch Antizionist. Ich kann nachvollziehen, wenn Juden in Israel leben möchten - ich aber will als Jude in der Diaspora bleiben. Hannah Arendt spürte 1947/48, daß das gewaltsam-militärische Durchsetzen des Staates Israel zu einem nicht enden wollenden Konflikt führen würde. Gleichzeitig stellte sie sich im Sechstagekrieg von 1967 den Realitäten: Es gab den Staat Israel nun einmal, und bei aller Kritik war sie mit den Menschen in Israel solidarisch. Die Vernichtung der Israelis wollte sie nicht.

DIE WELT: Zu einem anderen Thema: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Können Sie uns das erklären?

Cohn-Bendit: Nein! Aber das ist doch das Schöne im Leben: Liebe und Sex lassen sich philosophisch-rational nicht erklären. Hannah Arendt ist die philosophische Madonna - die Frau, die gesagt hat: Ich nehme mir den Mann, den ich will. Ob das Christus ist, den sie in ihrem berühmten Musikvideo vom Kreuz herunternimmt, oder ihr Sportlehrer - oder wer auch immer. Und Hannah Arendt ist eine politische Philosophin, die radikal denken kann, die sich im radikalen Denken als Studentin mit Heidegger mißt, die sich total in diesen Mann verliebt - und diese Liebe hat danach immer Bestand gehabt. Sie hat sich fest eingenistet in ihrem Kopf und in ihrem Körper. Es gibt Beziehungen, die sind ganz einfach unerklärlich, und das sollte man akzeptieren.

DIE WELT: Zurück zur Politik ...

Cohn-Bendit: Wir reden schon die ganze Zeit von Politik. Was für ein verrückter Anspruch, Hannah Arendt solle eine politisch korrekte Beziehung führen. Übrigens hat sie diese politisch korrekte Liebe ja auch gehabt: Das Interessante in ihrem Leben sind doch diese zwei Männer. Der andere war ihr Ehemann, ein ehemaliger Linksradikaler, der auch später links blieb. Heinrich Blücher hat Hannah Arendt sehr beeinflußt in ihrem Buch "Vita activa oder Vom tätigen Leben". Sie hatte ja immer einen linken Begriff des Sozialen. Über die demokratischen Institutionen dachte sie liberal, aber sie war sehr links, was das Soziale angeht. So hat sie gesagt, Amerika sei politisch eine Demokratie, und sozial sei es totalitär. Das stimmt! Wenn Sie in eine amerikanische Vorstadt gehen, dann sehen Sie den verwirklichten Kommunismus. Die kommunistische Gleichmacherei ist dort vollkommen durchgesetzt. Ein identisches Reihenhaus neben dem anderen, und das kilometerweit!

DIE WELT: Wie, glauben Sie, würde Hannah Arendt heute auf den Islamismus reagieren?

Cohn-Bendit: Sie würde sagen, daß der islamische Fundamentalismus ein Totalitarismus ist. Und daß man die Kraft haben muß, diesen Totalitarismus zu bekämpfen, während man den Islam als Religion den anderen Religionen gleichsetzt. Dabei würde sie aber auch sagen, daß alle Religionen totalitäre Momente in sich bergen. Daß unsere Demokratien sich in der Emanzipation von der Religion entwickelt haben. Und daß es im Grunde das ist, was dem Islam noch bevorsteht: die Emanzipation der Muslime von der Religion. Dabei werden am Ende ein veränderter Islam und ein muslimischer Atheismus entstehen.