Seit einiger Zeit findet in der Volksrepublik China eine kulturell, sozial und geschichtlich locker verbundene Volksgruppe zunehmende Beachtung: die Überseechinesen. Diese ethnischen Chinesen mit Wohnsitz entlang der Peripherie des Asien-Pazifik-Raumes werden massgeblich zur Erklärung des wirtschaftlichen Wachstums in China sowie in den benachbarten Ländern Ostasiens herangezogen.
Teils direkt, teils über Zwischenstationen wie Taiwan, Hongkong, Vietnam, Thailand, Malaysia und Singapur ziehen chinesisch-stämmige Kaufleute und Unternehmer kaum wahrnehmbar die Fäden der rätselhaften Choreographie des Aufbaus der Volksrepublik. Sie praktizieren dabei einen kapitalistischen Stil, der durch seine stille Effizienz und Ideologieferne kaum dramatischer dem gewohnten Bild vom «Sozialismus chinesischer Prägung» widersprechen könnte. Was verbirgt sich hinter der vereinfachten Rede von den Überseechinesen? Wie sind diese Gruppen zum Ruf gekommen, über buchstäblich unbeschränkte materielle Mittel und unverschämtes
Geschick im Wirtschaften und Überleben in feindlicher Umgebung zu verfügen?
Wenn wir China als das «Reich der Mitte» bezeichnen, richten wir den Blick auf das Landesinnere, vornehmlich mit der Hauptstadt Beijing und der «Verbotenen Stadt» als Fluchtpunkt. Das ist gut chinesisch. Es ist aber auch eine grandiose Verkürzung der Geographie, der Politik und der Kulturen Chinas auf ein lange Zeit
staatstragendes China-Bild. Heute stellt sich diese Verkürzung als eine unhaltbare Verzerrung der chinesischen Wirklichkeiten dar. China an der Schwelle zum 21. Jahrhundert entfaltet eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsdynamik, die uns ein Land jenseits des Isolationismus verspricht, der immerhin von Kaisers Zeiten bis hin zu
Mao Zedong
reichte. Das gilt besonders für die beiden Jahrzehnte vor dem (vorläufigen) Einbruch des Aufschwungs in Ost- und Südostasien im Herbst 1998 - und es gilt nach wie vor: China erscheint wenig betroffen von den Zusammenbrüchen in der Region.
Dieser Befund ist eng mit dem Abschied von einer Haltung verknüpft, die bereits zu Zeiten der Ming als «Seeverbotspolitik» praktiziert und dann von der mandschurischen Qing-Dynastie im 17. Jahrhundert unter dem euphemistischen Titel «Verlegung der Grenzen» an der Südostküste mit dem Verbot jeglicher privater
Aussenkontakte fortgesetzt worden war. Während der Blick aufs Festland einen Eindruck von Behäbigkeit erzeugen kann, erschliesst die Umkehrung der Ansicht auf die Ränder und das Meer aufregende Perspektiven. Das ergibt sich schon aus der Anordnung der boomenden Sonderwirtschaftszonen. In der Tradition der Vertragshäfen des
19. Jahrhunderts bilden diese eine Kette freier Industrie- und Handelsplätze entlang der chinesischen Peripherie, allesamt im Küstenbereich. Mit der Ernennung von Shenzhen, Zhuhai, Xiamen und Shantou zu Sonderwirtschaftszonen hatte sich Deng Xiaoping 1979 für eine Strategie der wirtschaftlichen Öffnung entschieden und zugleich auf die Karte der Auslands- oder Überseechinesen gesetzt.
Die Heimat dieser rund 60 Millionen Menschen bzw. ihrer Vorfahren liegt überwiegend in eben diesen südlichen Landesteilen, im Perlflussdelta um Guangzhou (Kanton), bei Hongkong und Macao. Rüdiger Machetski vom Hamburger Institut für Asienkunde spricht von einer regelrechten Kultur des «küstenorientierten Südchinesentums». Dieser Landstrich ist seit mehr als zwei Jahrtausenden stark vom maritimen Austausch geprägt. Überseehandel, Schmuggel, Piraterie und Emigration haben hier eine lange Geschichte. Der nach 50 Jahren Volksrepublik China festzustellende wirtschaftliche und soziale Wandel wird heute durch enorme materielle und logistische
Investitionen aus Übersee getragen. 1996 wurde allein das Barvermögen der Überseechinesen auf 2 Billionen US-Dollar geschätzt, mehr als das Geld der 1,3 Millionen Menschen in der VR China. Der Anteil der chinesischstämmigen Ausländer an den Investitionen auf dem Festland liegt bei 80%; zum Vergleich: Deutschland
bescheidet sich mit einem Anteil von 0,25%. Diese Wirtschaftsmacht ist den Herausforderungen der offenen chinesischen Märkte so souverän gewachsen, dass sie zu einem dominierenden Faktor der Weltwirtschaft werden kann - sofern sie dies nicht bereits ist.
Ein besonders faszinierendes Kapitel stellt die «chinesische Diaspora» dar. Chinesische Hochburgen ausserhalb Südostasiens sind besonders in Toronto, Vancouver, Hawaii, New York, Los Angeles und in dem von ihnen Jiujinshan (Alte Goldmine) genannten San Francisco zu finden. Das kanadische Vancouver kokettiert seit der anstehenden Heimholung der Kronkolonie in die Volksrepublik China 1997 als wichtigste Zufluchtsstätte Hongkonger Exilchinesen mit dem Spitznamen «Hongcouver». Andererseits bemühte man sich in Australien zeitweise, zu Asien gerechnet zu werden - und damit zur magischen Zone des «ostasiatischen Wirtschaftswunders», von dem die Weltbank noch 1993 zu melden wusste. Wissenschaft und Massenmedien hatten damals das Phänomen schlagartig in den Rang einer futuristischen Kuriosität erhoben. Obwohl es den auf Diskretion bedachten Überseechinesen nur recht sein könnte, wäre es eine gravierende Fehleinschätzung, diesen Wirtschaftsfaktor im derzeitigen
konjunkturellen Abschwung wieder aus dem Blick zu verlieren. Die überseechinesisch organisierten Unternehmen denken in Zeiträumen von Generationen, und die Weltmärkte des 21. Jahrhunderts werden etwa nach Einschätzung des Sinologen Jürgen Franzen nachhaltig von ihren langfristig angelegten Initiativen geprägt sein.
Der Mythos der Überseechinesen hängt mit der sprichwörtlichen
Verborgenheit ihrer Operationen, ihrer Effizienz und Allgegenwart
zusammen, die sich aus weitverzweigten Loyalitätsnetzwerken,
Diversifikationsstrategien und extrem kurzen Reaktionszeiten auf
Veränderungen der Marktlage speist. Sie haben keinen Staat, keine
gemeinsame Muttersprache, keine Flagge, keine Grenzen. Gemeinsam ist ihnen ein starker Bezug zu den ethnischen Ursprüngen sowie ein unbedingter Lebens- und Wachstumswille und ein geschichtlich gewachsenes Misstrauen gegen den Staat. Kaum hatte sich China entschieden, auf die Liberalisierung zu setzen, strömte Kapital ins Land zurück, das während einer der Vertreibungswellen dieses
Jahrhunderts abgezogen worden war. Prompt wurden lange ruhende
Loyalitätspflichten eingefordert. Grossstädte wie Shanghai und
Guangzhou (Kanton) hängen nun an diesem Tropf und erblühen in
atemberaubender Rücksichtslosigkeit auf das urbane Fassungsvermögen
oder gewachsene Stadtbilder unter dem wohlkalkulierten
Infusionssegen aus Übersee.
Das unternehmerische Geschick der Überseechinesen wird vielfach
beschworen und gelegentlich geradezu mystifiziert. Der Hongkonger
Ökonom S. Gordon Redding sieht in ihrer Wirtschaftsweise den
verkörperten «Geist des chinesischen Kapitalismus». Demnach mischen
sich unter ökonomisches Raffinement auch kulturelle Gesichtspunkte.
Institutionell bleibe dieser Erfolgskapitalismus eingebettet in die
chinesische Kultur. Namentlich die Bindekräfte der Familienclans
werden in diesem Sinne ins Spiel gebracht. Gewachsen in jahrzehnte-,
in vielen Fällen sogar jahrhundertelangen Erfahrungen mit
politischer Willkür und verbunden durch ein undurchschaubares
Netzwerk aus Familienbanden, Kapitalverflechtungen und
Wohlfahrtseinrichtungen, haben diese Strukturen die Zeitläufte
unauffällig überlebt und wurden in ihren ungeschriebenen inneren
Regeln fortlaufend perfektioniert.
Dazu gehört auch ein soziales Sicherungssystem, das die Angehörigen chinesischer Kommunen überall auf der Welt in den Ruf von Idealbürgern gebracht hat. Die kulturellen Leistungen der Chinesen im Ausland gehen weit über die Verbreitung von
China-Restaurants und Qigong hinaus. Fleissig, erfolgreich und
nutzbringend widmen sie sich neben der Profitmaximierung nicht nur
der Ausbildung und dem Austausch von Informationen, sondern bieten
darüber hinaus gesellschaftliche Aktivitäten und psychosoziale
Betreuung ihrer Angehörigen. Von den amerikanischen Chinatowns bis
zu der auf etwa 10.000 Menschen geschätzten chinesischen
Gemeinde in Berlin gelten sie als überaus sozialverträglich.
Das Geheimnis dieses Zusammenhaltes verbirgt sich für viele
Fachleute hinter dem Stichwort «Guanxi» (Beziehungen). Dieses
chinesische Wort zählt zu den wenigen, die Einzug in den
amerikanischen Jargon gefunden haben. Demnach erfüllen persönliche
Verpflichtungen die Funktion, Ordnungssicherheit auch dort zu
gewährleisten, wo zuverlässige rechtliche oder politische
Rahmenbedingungen nicht bestehen. Die Zahl derartiger Netzwerke wird
heute allein in Südostasien auf etwa sechstausend geschätzt.
Reddings Erfolgsformel für diese informellen Institutionen lautet:
«Das chinesische Familienunternehmen ist ein Mechanismus aus
Reaktionen auf wirtschaftliche Milieus, die hochgradig politisiert,
unbestimmbar, willkürlich und unstrukturiert sind»; sie sind geprägt
von der Abwesenheit rechtsstaatlicher Verhältnisse. Diese
Beschreibung trifft weitestgehend noch immer auf das heutige China zu.
Die dunkle Seite des Prinzips der intelligenten Selbsterhaltung
um jeden Preis schlägt sich in Form notorischer Geheimorganisationen
nieder, von denen die Tongs und die Triaden in puncto Effizienz in
den Branchen Erpressung von Schutzgeld, Menschen- und Drogenhandel
herausragen. Ein internes Sanktionssystem sorgt dafür, dass die
Loyalität aller Angehörigen sichergestellt bleibt - natürlich
diskret und nicht immer im Sinne des wechselseitigen
Verpflichtungsgedankens der jeweiligen «Schutzgemeinschaft». Es ist
eine wohl nie zu klärende Frage an die Historiker, ob es diese
kriminelle Seite gewesen ist, die das feindselige Klima gegenüber
den Überseechinesen erzeugt hat - oder umgekehrt.
Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte dabei die moralische
Diskriminierung des Standes der Kaufleute durch den konfuzianischen
Mainstream spielen. Das gilt ebenso für die Tatsache, dass es den
Regenten der Ursprungs- und Gastgeberländer dieser Menschen nie
schwergefallen ist, sich der Früchte ihrer Arbeit zu bemächtigen,
routinemässig unter Einsatz von Gewalt und Vertreibung. Die jüngsten
Ausschreitungen gegen die chinesische Minderheit in Indonesien
stehen in dieser Tradition, wenn auch der chinesische Blutzoll
diesmal relativ begrenzt geblieben ist.
Nicht nur ihr heterogenes Geflecht aus legalen und illegalen
Verbindungen hat die Überseechinesen regelmässig zu Sündenböcken
werden lassen. Ihre ethnische und sprachliche Andersartigkeit sowie
ihr blosser Erfolg haben das Ihrige dazu beigetragen.
Berührungsängste mit «der chinesischen Kultur» sind besonders dort
nachzuvollziehen, wo Chinatowns entstanden sind, die einer
Assimilation entgegenstehen. Dass diese Ghettos regelmässig auf
Druck der Gastgeber gegründet worden waren, übersieht man leicht.
Die Überseechinesen werden deshalb von der in Shanghai geborenen
Exilchinesin und Geschichtspublizistin Lynn Pan mit der jüdischen
Diaspora verglichen. Für den Autor eines bahnbrechenden Buches über
die Geschichte der Überseechinesen, Sterling Seagrave, ist die
«chinesische Diaspora» zuerst das Produkt eines jahrhundertealten
Staatsterrorismus der chinesischen Zentralregierung gegen Kaufleute,
besonders gegen Händler mit Interessen im Ausland oder in Übersee.
Zweifellos kann man das Phänomen Überseechinesen nicht ohne seine
beiden wichtigsten Entstehungsgründe verstehen: Arbeitsmigration und
Flucht. Vor über 2000 Jahren kamen die ersten Chinesen in den Häfen
Südostasiens an. Sie waren Nachkommen von politischen Flüchtlingen
und Verbannten aus den Königreichen im Norden; viele waren Händler,
gehörten also zu einer abschätzig angesehenen Gesellschaftsschicht -
die neben ihrem Sachverstand Geld, Initiative und Arbeitskraft
mitbrachte. Die Vorfahren der Mehrzahl der heutigen Überseechinesen
sind in den letzten 150 Jahren ausgewandert. Briten und Amerikaner
benutzten chinesische Fremdarbeiter für Projekte wie den Panamakanal
oder die amerikanische Eisenbahn - als «Kulis», Billigarbeiter für
extreme körperliche Tätigkeiten; chinesische Kontingente kämpften in
den Weltkriegen auf europäischem Boden für Frankreich und
Grossbritannien. Innere Wirren Chinas sorgten dabei für einen
ständigen Nachschub an Flüchtlingen: 1661 hatte der junge
mandschurische Kaiserhof keine Verwendung mehr für seine imposante
Hochseeflotte und erklärte den Küstenstreifen im Südosten des Landes
kurzerhand zur verbotenen Zone. Dörfer, Schiffe und Felder wurden
verbrannt, und wer angetroffen wurde, musste mit seiner Hinrichtung
als Hochverräter rechnen.
1949 vertrieben die Kommunisten viele Millionen aus den
florierenden Küstenstädten, besonders aus Shanghai. Ungewollt
drängten sie damit Katalysatoren für die sich gerade entwickelnden
Wirtschaften nach Hongkong und Taiwan. Nachdem offene Repressionen
gegen Hongkong 1997 ausblieben, kehrten viele Exilanten von ihrer
nunmehr zweiten Flucht zurück - nicht ohne die Sicherheit eines
zweiten Passes im Gepäck - und fuhren mit Nachdruck damit fort, auf
dem Festland zu investieren. Sie leben weiterhin von der Hoffnung,
gebraucht zu werden. Das lässt sie freilich nicht die
antichinesischen bzw. antikapitalistischen Pogrome vergessen, die
zum Beispiel 1965 in Indonesien 300.000 bis 500.000 Opfer
gefoltert hatten; oder die Greueltaten an der chinesischen
Minderheit in Vietnam nach Abzug der Amerikaner. Stets wurde das
Eigentum der missliebigen «Schmarotzer» konfisziert. Derartige
Reminiszenzen nähren das generelle Misstrauen in den Staat und
stärken die Neigung, sich auf eigene Regeln und «Guanxi» zu
verlassen.
Für viele Überseechinesen sind der globale Markt und das globale
Dorf längst selbstverständlich. Sie haben mehrere Wohnsitze, ihre
Nachkommen studieren als «Fallschirmkinder» an internationalen
Eliteuniversitäten und fliegen während der Ferien ein. Berufstätige
Ehepaare sehen sich nur zu Familienfesten, persönliche Beziehungen
werden unabhängig vom Wohnort geführt - Handy und Internet machen es
möglich. So entfaltet auch die Verteilung von materiellem und
Human-Kapital im pazifischen Raum eine neue Dynamik. Der nach 1949
in China spürbare Verlust an Strukturen, Geld und Kontakten,
besonders der brain drain, beginnt sich umzukehren. Nicht mehr nur
die Aufnahmeländer profitieren davon. Das offene China kommt in den
Genuss der Rückflüsse des ins Ausland geflüchteten Kapitals - mit
deftigen Zinserträgen. Die mittelfristige Auslagerung von Kapital
jeder Art entpuppt sich als ertragreiche Investition. In vielen
Bereichen der Wirtschaft, in den Naturwissenschaften, Ingenieurs-
und Technikberufen spricht man bereits von einer Phase des brain
gain.
So werden die Überseechinesen heute zu regen Gliedern, welche
China mit der Weltgesellschaft verbinden. Fern davon, ihr Exil bloss
zum Überwintern zu nutzen, knüpfen sie die globalen Netzwerke, die
für die transnationalen Ökonomien im 21. Jahrhundert
entscheidend sein werden. Nebenbei betätigen sie sich als
Botschafter Chinas, eines neuen China, dessen Antlitz reicher an
Spielarten des Menschlichen sein dürfte, als wir es vom «Reich der
Mitte» zu denken gewohnt sind.
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