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         von: ROTE AKTION BERLIN
   

Erklärung der Roten Aktion Berlin zum Revolutionären 1. Mai 2002

Die Temperaturen steigen, der Frühling naht, und jeder in Kreuzberg wacht auf und weiß: Der 1. Mai ist da. Hektik breitet sich aus, vielfältigste Aktivitäten auf der einen wie der anderen Seite werden begonnen; Umtriebe wie sonst nur in der Flora sind zu sehen. Dieses Jahr ist ein besonders interessantes Gewächs zu beobachten. Nach 14 Jah-ren einer von Parteien und Gewerkschaften losge-lösten, einer nicht auf Integration und bestenfalls Verwässerung abzielenden, sondern eben Revolu-tionären 1. Mai-Demonstration lassen sich die grade auf dieser Demonstration Kritisierten einfallen, selbst diesen Tag zu prägen. Nachdem diese Kräfte 14 Jahre lang allenfalls mit einem Straßenfest aufgefallen waren, möchte nun ein Personen-Bündnis genannter Kreis aus Vertretern der Regierungsparteien SPD, Grüne und PDS, von nie streikenden Gewerkschaften wie die IG Medien (jetzt Teil von Verdi), verschiedener Stadtteilini-tiativen sowie einer selbst ernannten Avantgarde der radikalen Linken wie die AAB den 1. Mai in Kreuzberg selbst bestimmen, ihn mit ihren politischen Vorstellungen prägen.

Die Zivilgesellschaft marschiert
Dabei wird programmatisch von einer Repolitisierung des 1. Mai gesprochen, und davon, das „Ritual der Gewalt“ zu durchbrechen. Dieses wird sowohl auf Seiten der Demonstrierenden wie auch auf Seiten der Staatssicherheitsorgane verortet. Obwohl mehrfach eine bullenfreie Zone in SO 36 gefordert wird, entsteht jedoch ein Bild, wonach die Revolutionäre 1. Mai-Demonstration in keinster Weise ein Politikum gewesen sei. Vergessen werden dabei die politischen Initiativen, die jedes Jahr ein zentraler Bestandteil dieser Demonstration waren, angefangen 1988 mit dem Kampf gegen die IWF-Tagung in Berlin und 1989 mit der Unterstützung der politischen Gefangenen in der BRD bis hin zu den Anti-Kriegs-Mobilisierungen 1999 und 2000. Da die Vertreter in diesem Personen-Bündnis 14 Jahre lang allenfalls am Rande mit dem Revolutionären 1. Mai zu tun hatten, mag es sein, dass sie diese Geschichte des 1. Mai nicht kennen. Was wir jedoch nicht wissen, ist, was sich dieses Personen-Bündnis unter einer Repolitisierung vorstellt. Müssen wir auf Grund der Teilnahme des Landesvorstandsmitglieds der Grünen, Volker Ratzmann, an diesem Bündnis nun mit einem Beschluss zur Bombardierung Kreuzbergs rechnen oder gar mit einem Einmarsch von Nato-Truppen? Werden nun unsere 40 Prozent nichtdeutschen Nachbarn abgeschoben, wie es bundesweit unter Rot-Grün geschieht? Oder: Was wird uns der IG-Metall-Vorstand Dirk Linder erzählen? Dass er unsere Kündigung unterschreibt wie bei Millionen von anderen, ein Streik aber nichts bringt? Wir fragen uns auch, was diese „Demokratie von unten“ angesichts von offiziell über vier Millionen Arbeitslosen erreichen soll. Sollen alle Kreuzberger Arbeitslosen ihre gesellschaftliche Teilhabe in Frei-karten für das Orlowsky-Schwimmbad am Spree-waldplatz finden? Sollen wir alle einen Eimer Wasser mitbringen, um die Betriebskosten zu senken? Und: Wird der im AAB-Block sehr gerne gerufene Spruch „Eins, zwei, drei - Oberkörper frei“ nun zum Motto der Revolutionären 1. Mai-Demonstration erklärt? Wir wissen es nicht.

Strategie der Integration vs. Strategie der Revolution
Wir wissen aber, dass es heute wie vor 14 Jahren notwendig ist, sich außerhalb der staatstragenden Parteien, der Gewerkschaften und der zahlreichen Vorfeldorganisationen selbstständig zu organi-sieren, um die eigenen Interessen vertreten zu können. Solange jede wählbare Partei an der herrschenden gesellschaftlichen Aufteilung der Arbeit und damit des Reichtums festhält, wird sich nichts ändern. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Subventionen in Milliardenhöhe fließen weiter in den Rachen der Bourgeoisie, Millionen Arbeitende müssen sich weiter mit allen erdenklichen Zwangsmaßnahmen auf den diversen Arbeits-, Sozial-, Wohnungs- und Schulämtern rumschlagen. Nicht die Abschaffung des Elends ist dann Programm, sondern die Verwaltung des Elends, also weitere Kürzungen von Sozialleis-tungen und Schließungen von kommunaler Infrastruktur wie Kitas, Bibliotheken und Schwimmbäder. Die Vertreter der Parteien und Gewerkschaften aber werden immer reicher. Landowsky ist nur ein Beispiel, Walter Momper ein anderes. Der Vorstand von Verdi bekommt 30 000 Mark monatlich - wessen Interessen vertreten sie wohl?

Der Revolutionäre 1. Mai ist der radikalste Ausdruck von Widerstand in der BRD
Vor 14 Jahren wurde in Kreuzberg etwas Neues begonnen, eine Abkehr von der delegierten Inte-ressenvertretung hin zu einer Vertretung der eigenen Interessen. Der Revolutionäre 1. Mai ist dafür alljährlich Ausdruck und Symbol. Dass die Herrschenden in Wirtschaft und Politik dieses Symbol bekämpfen, ist nur verständlich, immerhin ist dieser Revolutionäre 1. Mai die radikalste Kritik an ihnen. Der damalige Innensenator Wilhelm Kewenig von der CDU erklärte deshalb nach dem Kreuzberger Aufstand vom 1. Mai 1987, die Kreuzberger Bevölkerung sei „nicht mehr integrier-bar“. Seitdem erleben wir jedes Jahr eine Besetzung unserer Kieze, an die 10 000 schwer bewaffnete Beamte bis hin zu paramilitärischen Einheiten des BGS marschieren morgens in Kreuzberg ein. Seitdem sahen wir die Menschenjagden der Polizei-Spezialeinheit EBLT 1988, das Ziehen der Knarre eines Beamten zu Beginn der Demonstration 1989 ebenso wie den so genannten Palästina-Haken bei Festgenommenen, wir sahen das Anketten von Festgenommenen an die Vorderfront der Wannen 1992, die das Horst-Wessel-Lied singenden BGS-Einheiten 1993 in der O-Straße, und immer wieder Überfälle und die Zerschlagung der Demonstration wie 1999 und 2000, mitunter durchgeführt von Polizeieinheiten, die nicht im Dienst, also extralegal waren.

IG Medien sind der Schoßhund des Systems
Obwohl auch Journalisten oft Opfer der Polizeigewalt wurden, hat die IG Medien fast nichts unternommen, um eine Verfolgung der prügelnden Beamten durchzusetzen. Dieselben Medien aber berichten alljährlich von dem „Ritual der Gewalt“ und von dem „unpolitischen Krawall“ - selbstverständlich auf Seiten der Demonstrierenden und nicht auf Seiten der bewaffneten Sicherheitskräfte. Aber das ist auch kein Wunder bei mindestens 3000 Mark netto und sehr hohen Rentenansprüchen. Nicht nur Journalisten geben da schnell ihr Gewissen am Personaleingang ab. Die Hand, die einen füttert, beißt man schließlich nicht. Auch wir wissen, dass am 1. Mai nicht alles so läuft, wie wir es gern hätten. Sicherlich kommen auch einige ohne einen Bezug zu unserer Politik, einige kommen sicherlich auch von außerhalb. Auf den Fahndungsplakaten im letzten Jahr waren aber zwei Drittel der Identifizierten aus Kreuzberg. Wenn einer Entpolitisierung entgegengewirkt wer-den soll, sollte vor allem der AAB-Lautsprecher-wagen benannt werden, der eher zur Love-Parade passt als zum Revolutionären 1. Mai, von der Inhaltslosigkeit, die von ihm ausgeht, ganz zu schweigen. Die Kritik an dem, was am 1. Mai abgeht, ist aber so alt wie der Revolutionäre 1. Mai in Kreuzberg selbst. Schon 1987 zerrissen sich viele das Maul ob der angeblichen blinden Gewalt, und schon damals schrieb die radikale Linke:
„In der 1. Mai-Nacht ergoß sich alles, was alltäglich da ist an Sexismus, Gewalt, materiellen Wünschen, Wut, Frust in konzentrierter Form auf die Straße. Das ist ein gesellschaftlicher Zustand, für den die HERRschende Klasse verantwortlich ist. Unsere Verantwortung als politische Kraft liegt darin, uns unserer Rolle darin bewußt zu werden, die Ereignisse zu beeinflussen, positive Sachen aufzugreifen (Wille der Menschen zur Veränderung der kapitalistischen Alltagsscheiße, vorhandene Gewaltbereitschaft gegen Bullen u. Staat, Bereitschaft zum Verstoß gegen die ,Unantastbarkeit’ des Privateigentums) und negativen Sachen entgegenzuwirken (Sexismus, Konkurrenzdenken, Gewalt gegeneinander usw.).
Es nützt nichts, sich von den negativen Sachen, die passiert sind, zu distanzieren, denn was passiert ist, ist Ausdruck des gesellschaftlichen Zustands hier und der Subjektivität der Menschen, die daraus entsteht. Wenn hier einige Autonome diejenigen, die aus ihrer Subjektivität heraus kleine Läden plündern, als Arschlöcher bezeichnen, dann drückt das ein Nichtbegreifen der Lage der Menschen und eine Bezugslosigkeit zur Situation der unterdrückten Klasse hier aus.
Es ist sinnlos, sich von einem gesellschaftlichen Zustand zu distanzieren, es kommt darauf an, ihn zu verändern. Da liegt auch unsere politische Verantwortung, Strukturen aufzubauen, den Widerstand organisieren.“
(Hervorhebung v. uns)
(Flugblatt: Gewisse Dinge sollten Sie einfach tun, bevor Ihnen das Wasser bis zum Halse steht, Mai 1987)

AAB ist weder Stellvertreter noch Teil der radikalen Linken
Ein seit August im Geheimen tagendes Personen-Bündnis zeigt deutlich, dass das Konzept eines „politischen 1. Mai“; nur die Alternativstrategie zum gescheiterten Versuch Eckehard Werthebachs vom letzten Jahr ist, den Revolutionären 1. Mai völlig zu verbieten. Es ist jedenfalls absurd, von einer Eskalation des Staates zu sprechen (Grottian), gleichzeitig aber nicht mal die Einstellung aller Ermittlungsverfahren gegen die Demonstrierenden zu fordern. Es hat eher den Anschein, dass mit der neuen Regierungspartei PDS nun versucht wird, den Integrationshut über die gesamte radikale Linke zu stülpen: keine radikale Kritik mehr an den bestehenden Verhältnissen, dafür aber Teilhabe am Verteilungskampf. Es ist uns egal, ob die AAB eine Demo um 18 Uhr vom Oranienplatz jetzt schon angemeldet hat. Im 25. Jahr der Mordnacht von Stammheim werden wir uns selbstverständlich nicht die Straße nehmen lassen. Wir gehen auf die Straße, um den Protest gegen die Zwangsmaß-nahmen gegen Arbeitslose und Flüchtlinge öffent-lich zu machen. Wir demonstrieren für die Freiheit der politischen Gefangenen und die Aufklärung der Morde von Stammheim, wir protestieren gegen die militaristische Politik der Bundesregierung und versuchen, diesen Protest in Widerstand zu verwandeln. Mit dem Revolutionären 1. Mai geben wir der berechtigten Wut über die sozialen und politischen Missstände in diesem Land eine Adresse, damit die Wut nicht blind gegen unsergleichen rausgelassen wird, sondern die Verantwortlichen trifft.

Klassenkampf von unten statt Integration von oben!
Krieg dem Krieg!
Hoch die internationale Solidarität!


Rote Aktion Berlin
| Februar 2002





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