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Tagesspiegel, 29.03.02
   

Als Bolle brannte
In der Nacht des 1. Mai 1987 tobten Straßenkämpfe in Kreuzberg
 – so heftig wie nie zuvor

Von Sabine Beikler

Losgerissene Starkstromkabel bewegen sich funkensprühend und zischend wie monströse Schlangen auf dem Asphalt. Fahrkartenentwerter liegen auf den Gleisen. Die Luft ist beißend, die Augen tränen. Überall kokelt, brennt und qualmt es: Autos, Reifen, Barrikaden, Müllcontainer, Baufahrzeuge. Wellenförmig schwillt der Lärm unter der Hochbahn an: das lauter und leiser und wieder lauter werdende Stakkato vom Trommeln und Klopfen auf Eisen und Stahl. Stundenlang.

Görlitzer Bahnhof, Berlin-Kreuzberg, 1. Mai 1987. Seit Stunden toben im Kiez Straßenkämpfe. So heftig wie nie zuvor an einem „Revolutionären 1. Mai“. Das innerstädtische Klima der Stadt war an diesem Tag verschärft: Am frühen Morgen durchsuchten Polizeibeamte die Räume des Volkszählungsboykott-Büros im – damals autonomen – Zentrum Mehringhof. Türschlösser wurden zerstört und Tausende von Flugblättern, Broschüren und Plakaten beschlagnahmt. Der damalige Innensenator Wilhelm Kewenig (CDU) äußerte „Genugtuung über die erfolgreiche Durchsuchung“: Die Staatsanwaltschaft werde wegen des Verdachts zur Aufforderung zur Sachbeschädigung und der Aufforderung zur Urkundenunterdrückung ermitteln. Wolfgang Wieland, heute Grünen-Fraktionschef, damals vor 15 Jahren AL-Fraktionsvorsitzender, sprach von einer „provokativen Durchsuchung“.

Friedlich beginnt am Nachmittag das Straßenfest am Lausitzer Platz, das von AL und SEW organisiert wurde. Alternative Gruppen verkaufen Grillwürste, Kuchenstücke und Getränke von Orangensaft bis Dosenbier. Als am Rande des Straßenfestes ein leerer Streifenwagen der Polizei umgekippt wird, ist jedem Besucher des Straßenfestes klar, dass der Abend nicht mehr so friedlich verlaufen wird. Gegen 19.30 Uhr schlägt die Stimmung schlagartig um, als Polizeibeamte den Platz abzusperren versuchen. Die ersten Steine fliegen gegen die Schutzschilder der Beamten, die ersten Barrikaden brennen am Heinrichplatz, und in der Oranienstraße werden die ersten Geschäfte geplündert. In ganz Kreuzberg sind Menschen unterwegs. Alte, junge, deutsche, türkische Anwohner laufen zwischen schwarz vermummten „Autonomen“ mit und ohne geplünderten Waren auf den Armen durch die Straßen.

Feuerwehrautos werden mit Steinhagel angegriffen und zu den Brandherden nicht mehr durchgelassen. Es geht das Gerücht um, dass sich in den Einsatzfahrzeugen Polizeibeamte verstecken. Verletzte werden in Privatwagen abtransportiert. Bis 23 Uhr hat sich die Polizei aus dem Kiez zurückgezogen. Mehr und mehr Alkoholisierte sind auf den Straßen, man hört von sexistischen Übergriffen auf Frauen. Nachts um ein Uhr brennt „Bolle“, der Lebensmittelmarkt Ecke Wiener Straße. Betrunkene laufen blindlings in das brennende Gebäude, bis sie teils gewaltsam herausgezogen werden. Drei Jahre später wird bekannt, dass ein 26-jähriger Pyromane das Chaos dazu genutzt hatte, den Bolle-Markt anzuzünden.

Die Bilanz nach dem 1. Mai: Millionenschäden, mehr als 400 Verletzte, eine innenpolitische Krise, die Distanzierung der politischen Szene von den Ereignissen. Keiner der 53 Festgenommenen gehörte zum „harten politischen Kern“. Sie gaben an, sich einer „Proteststimmung“ angeschlossen zu haben. Von einem politischen Motiv sprach niemand. So „revolutionär“ war der 1. Mai 1987 dann doch wieder nicht.
 






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