Edith Thompson


Edith Thompson war eine attraktive 29jährige Engländerin  verheirated mit dem 32jährigen Percy Thompson .
Dieser war oft im Ausland und seit Juni 1921 hatte Edith eine Affaire mit dem 20 Jahre alten Schiffssteward Frederic Bywaters .
Am 4. Oktober 1922 ermordete Frederic den Ehemann von Edith . Man beschuldigte sie die Anstifterin zu diesem Mord zu sein wobei im Prozess vor allem ihre  "unmoralische und ehebrecherische Lebensweise" hervorgehoben wurde . 

Edith und Frederic wurden beide zum Tode durch den Strang verurteilt und am 9. Januar 1923 gehängt 


 


Frederic, Edith , Percy : 10. Juli 1921
 


Die letzten Stunden der Edith Thompson

Die Frau in der Todeszelle hält den Kopf gesenkt. Sie weint. Sie weiß, daß sie morgen früh sterben muß. Erst jetzt, nach einer Reihe endloser, leerer, grauer Tage und Nächte scheint sie die ungeheuerliche Bedeutung dieses einen Wortes voll zu erfassen: Sterben - das Ende von allem...

Der Mann vor der Tür, der durch das Guckloch zu ihr hineinstarrt, taxiert sie kühl. Er ist ihr Henker. Er weiß, daß er die Frau töten wird - aber er ahnt nicht, daß auch sein Leben an ihrem Tod zerbrechen soll.
Niemand ahnt es in dieser Stunde...

John Ellis sieht Edith Thompson zwischen ihren beiden Wärterinnen zu Boden sinken. Dann springt sie auf. Wirbelt herum. Fängt an, ihre Knöchel an den Wänden blutig zu trommeln. Sie schluchzt. Schreit. Worte, die in ihrem eigenen schauerlichen Echo ertrinken:
»Nein! Ich will nicht...! Ich will nicht sterben! Ich bin... unschuldig! Hört ihr: Unschuldig...!«
Ihr junges Gesicht ist jetzt häßlich grau. Ihr Haar hängt strähnig. Ihre Augen kreisen irre. Sie schreit, bis ihr die Stimme versagt. Bis sie nur noch flüstern kann:
»Man darf mich doch nicht aufhängen, nur, weil ich Frederick geliebt habe... Nein - deshalb doch nicht!«
Das trübe Licht wirft ihren Schatten verschwommen an die Zellenwand - und mit einem Mal muß John Ellis, der Scharfrichter, daran denken, daß es diesen Schatten bald nicht mehr geben wird. Daran hat er noch nie gedacht... Er hat bisher auch noch nie eine Frau hinrichten müssen.
Dann versucht er, sein Empfinden abzuschalten und beginnt mit gewohnter Routine, den Tod Edith Thompsons auszurechnen. Größe? Etwa 1,65 Meter. Gewicht? Kaum mehr als 115 Pfund. Noch ein Blick auf ihren Hals, auf den Vorsprung ihres Kinns... Einzelheiten, die ihm später helfen sollen, die Mechanik des Tötens rascher auszulösen.
Er weiß: Edith Thompsons Gnadengesuch wurde abgelehnt. Die einzige Gnade, die es für sie noch gibt, ist seine Schnelligkeit.
Gerade will er sich abwenden. Da hört er die Frau in der Todeszelle halberstickt fragen:
»Tut es sehr... weh?«
Die Wärterin zu ihrer Linken, eine resolute, hagere Frau mit strengen Zügen, hört auf, ihr Kreuzworträtsel zu lösen. Langsam schüttelt sie den Kopf.
»Nein - nicht sehr...«
»Dauert es lange?«
»Nein... Nur Sekunden. Bei John Ellis geht es schnell.«
Der Name des Henkers treibt die junge Frau wieder vom Schemel hoch. Doch die Resolute drückt sie mit knochigen, weißen Fingern zurück. Beruhigend sagt sie: »Eines Tages müssen wir alle sterben, Thompson!«
»Ich weiß...«, stöhnt die Delinquentin gequält. »Aber doch nicht so sinnlos... Und nicht so jung...«
John Ellis sieht, daß sie von einem trockenen Schluchzen geschüttelt wird. Daß sie an ihrer Angst zu ersticken droht. An der Angst vor dem Unabänderlichen... An der Angst vor der Angst...
Er tritt vom Guckloch zurück, nimmt seine altmodische Lackledertasche und geht langsam die wenigen Schritte zur Richtstätte, die hier im düsteren Gebäude des Londoner Frauengefängnisses Holloway im dritten Stock liegt, Wand an Wand mit der Todeszelle.
Es ist ein hoher, kahler, hellgekalkter Raum mit einer nackten Glühbirne an der Decke. In der Mitte, über dem hölzernen Podium wie ein drohendes Gespenst aus barbarischen Vorzeiten aufragend: das unheimliche Gerüst der »Gerechtigkeit« - der Galgen...

John Ellis hat einen Sandsack am Strick befestigt und auf die Falltür gestellt. Knapp 115 Pfund schwer, etwa 1,65 Meter lang - Edith Thompsons Maße - Ein Hebeldruck. Die Klappe öffnet sich. Der Sandsack stürzt ins Bodenlose - dann ein dumpfer Aufprall...
Der Henker schüttelt den Kopf, blickt unzufrieden. Der Strick ist zu lang. Noch einmal...
Ellis arbeitet plötzlich wie gehetzt. Eine seltsame Unruhe im Kopf und in den Händen. Er wischt sich fahrig über die Stirn, versucht, seine Gedanken festzuhalten. Aber sie laufen ihm davon. Zu der Frau im schmucklosen Drillich der Todeskandidaten.
Er weiß, daß sie niemals zu Gift, Messer oder Pistole gegriffen hat - und dennoch hat man sie als gemeine Mörderin verurteilt. Und dennoch soll er ihr morgen früh Punkt neun die Schlinge um den Hals legen.
Zu Recht?
Ihrem Henker, der nach dem strengen Reglement des Todes ihr Sterben zu üben hat, kommt unter dem Galgen der erste Zweifel...

Dreimal plumpst der Sandsack durch die Falltür auf dem hölzernen Podium. Dreimal knarrt, stöhnt unter seiner Last der Galgen. Dann erst ist John Ellis, der Henker, zufrieden: Das Seil ist jetzt lang genug, um den Wirbel zu verdrehen, aber nicht zu lang, um den Kopf abzureißen.
Die Probeexekution hat geklappt.
Edith Thompson wird morgen früh schnell und zuverlässig sterben...

Ellis geht aus dem Hinrichtungsraum, knipst das Licht aus. Den Sandsack läßt er über Nacht hängen, um den Strick noch zu dehnen... Soweit ist alles in Ordnung.
Soweit...
Auf dem schmalen Gang begegnen sie sich flüchtig: der Henker, der seine Vorbereitungen beendet, und die Frau, die ihren letzten Rundgang gemacht hat... Wenn sie sich das nächstemal treffen, ist für die Frau die letzte Minute auf Erden angebrochen...
Sie geht, flankiert von ihren Wärterinnen, mit erloschenen Augen an ihm vorbei. Sie weiß nicht, daß er es sein wird... Den Henker lernt man immer erst zum Schluß kennen...
Ellis hört eine der Wärterinnen fragen: »Möchten Sie noch etwas Besonderes essen, Thompson?«
Die Delinquentin gibt keine Antwort.

Ellis bleibt in dieser Nacht vor der Hinrichtung wie üblich im Gefängnis. In einer Zelle, nicht weit von der Zelle Edith Thompsons entfernt. Er findet ebensowenig Schlaf, wälzt sich ebenso unruhig wie sie.
Die Decke wärmt ihn nicht. Die Dunkelheit ist ihm zu hell. Die Luft zu stickig... Es ist, als ob sie sich immer enger um seinen Hals legt, ihn würgt - wie eine Schlinge...
Er weiß, wie es ist, wenn man Menschen sterben läßt. Er hat schon über 200mal auf den Hebel gedrückt. Und er hat vorher jedesmal fest und ruhig geschlafen.
Warum diesmal nicht?
Nur, weil sie eine Frau ist? Oder auch, weil er ebensowenig an ihre Schuld glaubt, wie Tausende und aber Tausende, die ihre Unterschrift auf die Gnadengesuche an den Innenminister setzten?

Für John Ellis war die Nacht ebenso unheimlich und quälerisch wie für Edith Thompson, die nur wenige Meter von ihm entfernt in der Todeszelle lag. Und die sinnlos, mit trockenen Lippen, darum betete, daß es nicht morgen werden würde.
Es wurde morgen - ein trüber, grauer Hinrichtungsmorgen...
Eine ihrer beiden Wärterinnen, die Resolute, faßt sie an der Schulter.
»Sie müssen aufstehen, Thompson.«
Die Todeskandidatin zieht sich noch fester unter die Decke. »Nein...«, stammelt sie. »Ich... will nicht...« Sie dreht das Gesicht zur Wand, als könne sie so das Entsetzliche noch abwenden.
Die Stimme der Resoluten wird scharf und eindringlich.
»Seien Sie doch vernünftig! Der Pfarrer kommt gleich... Sie haben nur noch eine halbe Stunde...«
Vernünftig sein... Der Pfarrer... Nur noch eine halbe Stunde...
Noch 30 Minuten...
Zu zweit zerren sie Edith Thompson aus dem Bett. Sie zittert an allen Gliedern. Halb bewußtlos vor Angst und Entsetzen, bemerkt sie kaum, daß es ihre eigenen Sachen sind, die man ihr über den Körper streift. Nicht das häßliche Drillich der Todeskandidaten, an dem man alle Knöpfe durch Bänder ersetzt hat. Nein - ihren dunklen Rock und die blaue Bluse, die Frederick so gut gefallen hatte.
Frederick...
Sie hatte geglaubt, ohne ihn nicht leben zu können - und nun muß sie mit ihm sterben...
Zur selben Minute. Eine halbe Meile voneinander entfernt.
Weil sie sich geliebt hatten. Weil die Geschworenen nichts von den Gefühlen, dem seelischen Wirrwarr einer verliebten Frau verstanden. Weil sie ein paar dumme Fantastereien für blutigen Ernst genommen hatten... Und weil der Innenminister »keinen Anlaß« sah, sie zu begnadigen...
Deshalb wird man sie und Frederick gleich am Galgen aufhängen. Am Halse - bis der Tod eintritt...
Der Fieberrausch ihrer Gedanken vermag nicht die Angst zu ersticken, die wie ein Schrei in ihr aufsteigt... höher und höher... bis er sich aus ihrer Kehle löst: schrill und verzerrt und beinahe unmenschlich...
Dann, in die bleierne Stille, die ihrem Ausbruch folgt, erklingt der gedämpfte Laut von Schritten.
Sie kommen! denkt sie mit verdämmerndem Bewußtsein. Sie holen dich... jetzt... Aber es ist noch nicht der Tod. Es ist sein schwarzer Vorbote: der Pfarrer.
»Wollen wir niederknien, Edith Thompson?«
»Nein...«, keucht sie. Sie zieht sich rückwärts, Schritt um Schritt, in den äußersten Winkel der Zelle zurück, kauert sich auf den kalten Boden. In einer seltsamen, halbaufgerichteten Stellung zwischen Stehen und Sitzen.
»In wenigen Minuten stehst du vor deinem Gott, Edith Thompson«, sagt der Pfarrer. Seine Miene zuckt. »Wir wollen beten, um dich mit ihm auszusöhnen...«
Im Rücken des Pfarrers ist die Tür. Die Tür, hinter welcher der Galgen wartet.
»Vater unser... der Du bist im Himmel... Vergib uns unsere Schuld... und vergib auch unseren Schuldigern...«
Sie ist hübsch und jung, in der Blüte ihres Lebens - und sie hat nur noch ein paar Schritte...
»Amen!« sagt der Pfarrer.
»Amen...«, murmelt sie erstickt.
Die Schritte ihres Henkers hört sie nicht. Die Tür wird plötzlich aufgerissen, drei Gestalten stürzen herein. Dann stehen sie sich gegenüber: die Frau und der Mann, der sie töten soll...
John Ellis geht auf sie zu. Mit freundlichem Lächeln und ausgestrecktem Arm.
»Guten Morgen«, sagte er dabei in sanftem Ton. »Ich bedaure, daß ich jetzt meine Pflicht tun muß - nichts für ungut...«
Er wartete darauf, daß sie ihm ihre Hand reichen würde - um sie ihr blitzschnell auf den Rücken zu drehen und sie zu fesseln. Seine hundertfach bewährte Methode.
Edith Thompson aber ist auf der Hut. Sie weicht vor ihm zurück - zitternd, Zentimeter um Zentimeter, von einer Zellenecke in die andere.
Es ist soweit...! toben ihre Gedanken. Sie holen dich! Sie alle, die sich gegen dich verbündeten, die dich verfemten und verurteilten, haben sich hinter diesem schmächtigen Mann versteckt: hinter dem Henker! Er wird dich jetzt töten - gemein und gewaltsam wie ein wehrloses Tier.
»Das ist... Mord!« schreit sie ihn an. Und noch einmal schrill und hysterisch: »Mord!«
Der Schrei reißt sich aus ihrer Kehle, gellt schaurig durch Flure und Gänge, lebt ein kurzes, rasendes, eigenes Leben - selbst noch, als die Stimme Edith Thompsons längst erstorben ist...
Er läßt die Menschen in der Todeszelle bis ins innerste Mark frieren: die Gefängnisvorsteherin, den Pfarrer, die beiden Gehilfen - und selbst John Ellis, den Henker...
Er wischt sich über die Stirn. Dann winkt er seinen beiden Helfern.
Drei gegen einen... Sie haben dieses Duell in der Todeszelle schon oft gekämpft - und nie verloren... Aber noch nie ist ihr Opfer eine Frau gewesen...
Edith Thompson sieht die Männer näher und näher kommen. Sie kreisen sie ein. Die Gesichter wachsen immer größer, bedrohlicher auf sie zu.
Ihre Hände krallen sich in die graugetünchte Zellenwand. Sie duckt sich, mit schreckgeweiteten Augen. Sie will nicht hängen. Sie will weiterleben. Und so springt sie vorwärts - auf John Ellis zu.
Der Anprall wirft den Henker zu Boden. Sie wirbelt herum, stößt ihre Finger in die Augen des Mannes zu ihrer Linken. Aufstöhnend sinkt er in die Knie. Dann wird sie von hinten gepackt. Sie schlägt um sich, trifft mit den Füßen, wird von der Wucht der eigenen Bewegung mit zu Boden gerissen.
Sie will wieder aufspringen. Hofft, halbirre vor Todesangst, mit der Tür die Freiheit zu erreichen - doch da sind die Männer fast gleichzeitig über ihr. Sie schlagen auf sie ein, schweigend und brutal, versuchen, ihre wild strampelnden Arme und Beine zu umklammern...
Zwanzig Sekunden sollte das Sterben Edith Thompsons dauern. Doch ihr Tod hält sich nicht an die Kalkulation. Er braucht Minuten...
Und jede Minute währt eine Ewigkeit...
Zwei Wärter müssen dem Henker und seinen Leuten zur Hilfe eilen. Dann erst kann man die Frau nach nebenan zum Galgen zerren: Kein menschliches Wesen mehr - nur noch ein wimmerndes, zuckendes Bündel Fleisch...
»Als wir das sahen«, schildert später Gefängnispfarrer Glanville Murray, »schien es mir einfach unmöglich zu glauben, was da geschehen sollte. Mein Gott, der Impuls, mit Gewalt einzuschreiten und sie zu retten, war fast zu stark für mich... Man hätte die Frau in diesem Zustand nie hängen dürfen!«
Aber ein von Menschen erdachtes, unmenschliches Gesetz wollte es so...

Im Holloway-Gefängnis wird es fünf Minuten nach neun, ehe John Ellis der Frau die schwarze Kapuze über das dunkelblonde Haar gestreift, ihr die Schlinge um den Hals gelegt hat.
Sein Atem geht stoßweise, wie nach einem langen Lauf. Seine Hände zittern - zum erstenmal...
Von vier Männern festgehalten, steht die Delinquentin in der schrecklichen, schwarzen Finsternis und stirbt tausend Tode - auf dem Gerüst, auf dem ihr Henker am Abend vorher ihr Sterben mit dem Sandsack »übte«.
Doch jetzt ist alles anders. Jetzt fliegen seine Finger. Jetzt hat er Mühe, den Knoten an der »richtigen« Stelle zu plazieren - unter der linken Kinnseite.
Dann liegt seine Hand am Hebel. Noch einmal bäumt Edith Thompson sich auf... Die Falltür kracht... Sie stürzt durch das gähnend schwarze Loch...
Ein furchtbarer Ruck.
Der Strick strafft sich...
In die Totenstille murmelt der Pfarrer: »Gott möge ihrer armen Seele gnädig sein...!«
Eine Stunde muß ihr Körper hängen. Dann verscharrt man Edith Thompson in einem Winkel des Gefängnishofes. Ohne Kreuz und ohne Grabhügel - in ungelöschtem Kalk.
Kurz darauf taucht ein schwarzgekleideter, kleiner Mann vor dem Ausgangstor auf. Der Wachbeamte steckt seinen Kopf durchs Fenster, winkt den Mann zu sich heran.
»Sie müssen noch zur Verwaltung, Mister Ellis - Ihr Honorar abholen!«
Der Henker scheint es nicht zu hören. Er wirkt unendlich alt. Seine Augen flackern. Sein Kopf ist lauschend halb in die Höhe gerichtet, als seien irgendwo hinter den Mauern noch Schreie zu hören... Schreie einer Frau...

Max Pierre Schaeffer
Der Henker und die Frauen

 



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