Zwischen Zagreb, Belgrad und Sarajevo

von Boris Kanzleiter (Nadir 13/1996)

(Links und Anmerkungen: Nikolas Dikigoros)

"Statt etwa ein altes Kloster in der Nachbarschaft zu besuchen, welches im übrigen durch das unausgesetzte Schneetreiben unzugänglich war, fuhren wir die Drina aufwärts, so immer die Grenze entlang, wo Olgas Mutter lebte, im Zweiten Weltkrieg Krankenschwester bei den Tito-Partisanen (der übelsten Mörderbande, die je den Balkan heim gesucht hat, Anm. Dikigoros - bloß damit hier keine falschen, romantisierenden Vorstellungen aufkommen). Ihr Mann hatte sich vor ein paar Jahren wegen einer schweren Krankheit, aber mehr noch aus Kummer über das Ende seines Jugoslawien mit seinem Partisanengewehr erschossen, und sie bewohnte nun allein ein winziges Haus (vergleichbar etwa dem eines Straßenwärters) am Fuße des Dicken Berges, zwischen dessen Steilabfall gerade Platz für ihren Garten und einen Streifen Kartoffellandes war. Obwohl die alte Frau im Zimmer den ganzen Nachmittag ihr Kopftuch aufbehielt, hatte sie, anmutig-stolz in ihrer Haltung und zugleich ständig sprungbereit, etwas von einer Befehlshaberin, oder von der einzigen weiblichen Person unter einer Hundertschaft von Soldaten, diesen gleichgestellt. Und sie würde bis an ihr Lebensende eine durchdrungene - nicht serbische, sondern jugoslawische Kommunistin sein; nicht allein für die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg - auch heute noch galt ihr das als die einzige vernünftige Möglichkeit für die südslawischen Völker: vor dem deutschen Einfall 1941 habe es, in dem Königreich, einige wenige gegeben, welchen fast alles gehörte, und neben ihnen nichts als himmelschreiende Armut, und jetzt, in diesem serbischen Sonderstaat - dessen Machthaber, wie in den anderen Neustaaten, seien "Verräter" -, wiederhole sich das mit den paar allesraffenden Kriegsgewinnlern und dem frierenden Habenichtsvolk."

Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt a. M. 1996.

Während sich in Berlin eine Million gut gebaute, braun gebrannte, dynamisch geformte Leiber schwitzend aneinanderreiben und im Takt hüpfen, vergnügt sich die Jugend ein paar hundert Kilometer weiter südlich auf andere Weise. Von Berlin über Leipzig, München, Salzburg, Graz, Malibor nach Kroatiens Hauptstadt Zagreb, stopp - hier herrscht Volkskultur. Um halb zehn in der Frühe während des chill-outs in Berlin zieht ein fröhlich-farbenfroher Zug mit traditionellen kroatischen Trachten ausstaffierter Jungs und Mädels zu klampfenden Gitarren und trällernden Flöten durch das morgendliche Zagreb. Sie tragen das Christenkreuz vor sich her und streben zum römisch-katholischen Gottesdienst, so sieht die Love-Parade auf Kroatisch auf. Und Nationalisten-Präsident Tudjman grinst dazu von allen Häuserwänden. Er hat zuerst den Krieg und dann - kürzlich - die Wahlen gewonnen.

Eine Reise durch das ehemalige Jugoslawien, durch die jetzt "unabhängigen" und durch den Krieg getrennten Staaten Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegovina ist eine Entdeckungsfahrt, die mehr Fragen hinterläßt, als sie Antworten bietet. Was aus der Ferne bereits kompliziert und verwickelt wirkt, wird, je näher man ihm kommt, noch verstrickter. Ein Staat, als Volksrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, ist an seinen inneren Widersprüchen und äußerer Einflußnahme zerbrochen. Was uns in den Medien über den Krieg, seine Ursachen und Auswirkungen verkauft wird, ist vor allem eines: Hier hauen und stechen unversöhnliche "ethnische Gruppen", "Religionsgemeinschaften" und "Nationalitäten" aufeinander ein. Und es ist sicher richtig: Überall im ehemaligen Jugoslawien ist der Bezug auf die Nation und die Religion zu spüren: Katholische Kroaten, orthodoxe Serben, muslimische Bosnier und dazu Slowenen, Kosovo-Albaner, Mazedonen, Juden, Ungarn, Deutsche, Sinti und Roma ... Doch der jugoslawische Staat ist nicht an der angeblichen Unvereinbarkeit der Identitäten seiner BewohnerInnen gescheitert, sondern an den wirtschaftlichen und sozialen Krisen seines politischen Systems. Zuerst kam die Wirtschaftskrise, die Stagnation der Entwicklung, die sozialen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd, zwischen oben und unten in der Gesellschaft, erst dann radikalisierten sich die Nationalismen, die in den Krieg führten.

Auf dem Autoput von Zagreb nach Belgrad: Das geht schnell. Die Landschaft ist gleichbleibend unscheinbar grün und flach. Die Dörfer fliegen vorbei. Auf einmal ist man in West-Slawonien, nichts hat sich verändert, auf den ersten Blick zumindest. Doch in den Dörfern stehen jetzt Hausruinen, bis auf das Skelett verbrannt oder mit Löchern, durch die man hindurchschauen kann, daneben friedliche Häuser, die unschuldige Mine machen und keine Narben tragen. In West-Slawonien war Krieg zwischen Serben und Kroaten, zwischen Kroaten und Serben. Jetzt ist West-Slawonien kroatisch. Ost-Slawonien, das wir anschließend durchqueren, stand bis vor wenigen Tagen unter UN-Verwaltung, jetzt ist es ebenfalls kroatisch, den Serben zum Mißfallen. General Tudjman und seine Nationalistenpartei HDZ dürfen jubeln. An der staubigen Grenze zur Bundesrepublik Jugoslawien (die gibt es noch und besteht aus Serbien, Montenegro, der Vojvodina und dem Kosovo) stehen wir in einem kurzen Stau. Links und rechts haben die Peacekeeper mit dem blauen Helmen kleine rot beschriftete Warnschilder mit Draht ins Gebüsch gehängt: MINES. Die neuen Grenzen im ehemaligen Jugoslawien sind zur Todesfalle geworden: "Überqueren lebensgefährlich" ist der metaphorische Gehalt der beschrifteten Pappkartons.

9 Millionen Serben, 600.000 Montenegriner, 5 Millionen Kroaten und zwei Millionen Moslems bildeten neben den Slowenen und Makedonen die sechs "Staatsvölker" des alten Jugoslawiens. Daneben gab es Albaner, Ungarn, Italiener und viele andere nationale Minderheiten. Die amtliche Bezeichnung der einheitlichen Sprache hieß je nach Republik Kroatisch oder Serbisch, Serbokroatisch oder Kroatoserbisch. Eine der vielen Mundarten, den sogenannten ŠTO-Dialekt, kürten serbische und kroatische Wissenschaftler und Schriftsteller im 19. Jahrhundert einvernehmlich zur Hochsprache. Weil der ŠTO-Dialekt jedoch in bestimmten lautlichen Punkten differiert, unterscheidet man eine östliche E-Variante (Serbien) und eine westliche IJE-Variante (Kroatien, Bosnien-Herzegovina und Montenegro). Doch wesentlich ist, daß die Grammatik aller Varianten identisch ist und daß sich alle, von Riejka bis Niš, von Ulcinj bis Varazdin ohne jegliches Problem verstehen, auch wenn sie dialektale Varianten der Hochsprache sprechen. Heute sitzen Linguisten in Belgrad und Zagreb, fünf Autostunden voneinander entfernt, an ihren Schreibtischen und zerbrechen sich den Kopf, wie sie eine neue Nationalsprache aus der regionalen Sprachgeschichte erwecken können.

Nur wenige Kilometer hinter der verminten Grenze macht Belgrad seine unerwartete Aufwartung. Entlang der Stadtautobahn in Richtung Innenstadt erhebt sich ein Neubauviertel, das Berlin-Marzahn zur Kleingartenkolonie degradiert. Bizarre Hochhauskonstruktionen, eine Mischung aus Bauhaus und expressionistischer Skulptur. Die Häuserblocks stehen aneinandergereiht parallel und quer zur Achse, die durch die Autobahn gebildet wird. Vorbauten ragen kreuz und quer in die Luft, Dächer sind zieharmonikaförmig aufgefächert, ein verwirrendes Durcheinander, das durch seine gigantische Größe beindruckt und erschreckt, durch seine Form fasziniert, zum Hinsehen und Entdecken auffordert, doch gleichzeitig durch seine Monströsität bedrohlich wirkt. Hier haben die Mitglieder eines Politbüros einen waghalsigen Beschluß gefaßt, Architekten den großen Wurf versucht und Zehntausende Bauarbeiter die Norm erfüllt. Entstanden ist Novi-Beograd, ein gewaltiges Symbol für den mißglückten sozialistischen Versuch der Tonnenideologie und des bürokratischen Administrierens, trotz der avantgardistischen Architektur. Der Mensch geht im Beton unter, das Ziel des Wohnen wird durch das Mittel des Bauwerks erdrückt. Die Betonornamente verschleiern das Dilemma nicht, sondern machen es noch eindrücklicher als in anderen Neubausiedlungen.

Doch Belgrads Innenstadt beeindruckt auf andere Weise. Die Stadt am Zusammenfluß von Save und Donau kann sich nicht entscheiden, ob sie das Gesicht einer osteuropäischen Hauptstadt mit Prunkbauten im stalinschen Zuckerbäckerstil oder der pulsierenden Metropole mit mediterran-orientalischem Einschlag zeigen soll: Menschen auf der Straße, belebte Straßencafés, Märkte und trotz der schwierigen Wirtschaftslage ein reges Geschäftemachen. Wenn man vom Boulevard der Volksarmee, einer der Hauptachsen, den Hügel hinunter durch die engen Straßen der Innenstadt in Richtung Donauufer schlendert und dann irgendwo ein ausgeleiertes Gartentor aufschiebt, an der Hinterseite des Hauses vorbei an rostigem Schrott und wildem Unkrautbewuchs geht und an die Türe des zweiten Gartenhauses klopft, öffnet Dragomir. Er trägt ein rotes T-Shirt, rote Socken und dazwischen ausgewaschene Jeans. Seine kleinen, klugen Augen schauen aus einem Gesicht, das von einem ergrauten Bart und der dazugehörigen zornigen Haartracht umlockt wird.

"Dobar dan, guten Tag. Wollt Ihr Kaffee und Zigaretten?"

Ja, das wollen wir. Die Wohnung besteht aus zwei stickigen Zimmern im Parterre. Bücherregale ringsherum, Nietzsche, Marx, Kant, Hegel, Lenin, Bucharin, Trotzki, Bakunin, Preobraschinski, Tito, Kropotkin, Lukács, Djilas, Mandel, aber auch Shakespeare und Dante. Zeitungsartikel, feinsäuberlich ausgeschnitten und mit Datum versehen, sind in Mappen mit Themenaufschriften gelegt und stehen meterlang aneinander gereiht in anderen Regalen, die den Schreibtisch umtürmen, als müßte er gegen einen unsichtbaren Feind geschützt werden, der hinter der Türe lauert.

Dragomir macht Kaffee auf die serbische Art: Wasser in einem schmalbauchigem Topf mit verengtem Hals kochen, Kaffeepulver hinein, nochmal aufkochen, und dann den braunen Saft mitsamt dem körnigen Satz in die kleine Tasse gießen. Er redet über die Geschichte der revolutionären Bewegungen auf dem Balkan, von der Stärke der Kommunisten nach dem Ersten Weltkrieg, von der Repression durch die Monarchie, den Linienkämpfen und Spaltungen innerhalb der Kommunistischen Bewegung. Die antistalinistische Opposition in den 20er und 30er Jahren war stärker als anderswo, doch Moskau setzte sich auch auf dem Balkan durch. Während der brutalen Besetzung durch die deutsche Nazi-Wehrmacht entwickelte sich ein bewaffneter Partisanenwiderstand unter Führung der Kommunisten. In den kroatischen und moslemischen Ustascha-Verbänden fanden die Nazis willige Verbündete. Doch auch der Widerstand wurde von Angehörigen aller Völker getragen. Der Kroate Tito an seiner Spitze vereinte die antifaschistische Partisanenarmee und sorgte für Disziplin. Oppositionelle Antifaschisten erlitten das Schicksal ihrer Genossinnen und Genossen in Spanien - den Genickschuss aus den Gewehrläufen des NKWD. Wer weiß heute eigentlich noch, was das NKWD war?

Nach der Befreiung von den deutschen Besatzern versuchten Jugoslawiens Kommunisten, unter Tito ihren eigenen Weg zu gehen. Es folgte 1948 ein Schisma der kommunistischen Weltbewegung, nach der Abspaltung der Trotzkisten und der "rechten Opposition" vor dem Weltkrieg war der Titoismus ein dritte internationale abtrünnige Strömung, die aus dem Schoß der Komintern/Kominform hervorging. Dragomir schlürft Kaffee und schöpft aus dem kollektiven Gedächtnis, das in seinen Büchern vereint ist.

Doch auch Jugoslawiens Weg war nicht der Weg des befreiten Sozialismus. Titos Partei billigte den Einmarsch der Sowjetunion zur Niederschlagung des Arbeiteraufstandes in Ungarn 1956. Und Tito opferte im Einvernehmen mit Stalin die kommunistischen griechischen Partisanen dem Großmachtkalkül von Jalta. Nie wurde aus Jugoslawien eine demokratische, selbstbestimmte revolutionäre Gesellschaft. Dragomir hat es am eigenen Leib erfahren. Aus vollem Herzen Revolutionär wurde er als "Konterrevolutionär" denunziert und in den 1980er Jahren mehrmals verurteilt und inhaftiert. Seine damaligen Richter sind heute die neureichen Kapitalisten, er bleibt sich treu und bekämpft sie mit den Mitteln, über die er verfügt. Er schreibt. Er schreibt die Nacht hindurch, den Tag über und wieder in die Nacht hinein. Seine Artikel erscheinen in einer Wochenzeitung, das Honorar hält ihn gerade so über Wasser.

Es gibt wenige unabhängige und oppositionelle Medien im ehemaligen Jugoslawien. Irgendwo in einem Hinterhof im Norden Belgrads liegen die Redaktionsräume einer Zeitung: "1990 betrug der Durchschnittslohn in Ex-Jugoslawien etwa 1000 DM, heute beträgt er in Serbien 200 DM. 1990 bewohnte Präsident Milosevic von der Sozialistischen Partei mit seiner Familie eine 60 qm Wohnung, heute eine große Luxusvilla. 70 Familien verfügen über 90% des Geldes in Serbien", faßt Rade Radevanovic das Resultat der kapitalistischen Wende zusammen. Rade ist Journalist bei der neugegründeten Tageszeitung Danas in Belgrad. "Unsere Gesellschaft ist im Griff einer Mafia, und das ist die Regierung", ergänzt sein Kollege.

Dragomir sieht die Lage ähnlich, doch präziser. Krieg und Wirtschaftsembargo haben Serbiens Wirtschaft ruiniert. Das Bruttosozialprodukt ist zurückgegangen. Kapital- und Devisenreserven sind aufgezehrt, Privatersparnisse verbraucht, der Staat ist bankrott, seine Bürger verarmt. Doch die Kriegswirtschaft hat eine neue Schicht von Superreichen hervorgebracht: Schwarzhändler, Schmuggler und Kriegsprofiteure, die Millionen US-Dollar verdient haben. Diese Klasse ist verflochten mit dem Staatsapparat und Funktionären der serbischen Regierungspartei SPS. Ohne Deckung von oben hätten sie ihre einträglichen Geschäfte, die auch im Interesse der Regierenden waren, nicht betreiben können.

Der Unmut der unterbeschäftigten Bevölkerung ist groß, die Demonstrationen des Winters beweisen es. Korruption, Willkür und undemokratische Methoden von oben stoßen auf Widerstand von unten. Doch Dragomir warnt vor den Oppositionsparteien, die sich im Zajedno-Bündnis zusammengeschlossen haben. "Sie sind Rivalen um die Macht, aber stehen nicht grundsätzlich gegen das System", sagt er. "Die Opposition ist teilweise extrem nationalistisch und behauptet, sie hätte den Krieg gewonnen, wäre sie an der Macht gewesen. Auch sie sehen in den Kosovo-Albanern Menschen zweiter Klasse. Und die Oppositon tritt wie Milosevics SPS für Privatisierungen ein. Letztlich basiert die Politik der Opposition auf dem gleichen Programm wie die der Regierung."

Aber steht die Opposition nicht wenigstens für mehr demokratische Rechte, für Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit? "Heute ist der Geburtstag des exilierten serbischen Königs und die Führer der Oppositionsparteien Vuc Draskovic und Zoran Djindjic werden zur Feier des Tages vor dem Rathaus Belgrads eine Rede halten", relativiert Dragomir solche Erwartungen sofort.

Doch nicht alle Kräfte, die sich während des Winters im Zajedno-Bündnis zusammengeschlossen hatten, sind Monarchisten oder Neoliberale. Dragan Milovanovic beispielsweise hat sich ebenfalls an führender Stelle an den Demonstrationen beteiligt. Er ist Präsident der Asocijacija Slobodnik i Nezavisnih Sindikata, des Zusammenschlusses der freien und unabhängigen Gewerkschaften Serbiens: "In Serbien gibt es drei Gewerkschaftsverbände: die regierungsloyalen Staatsgewerkschaften, einen gemäßigt unabhängigen und wir als oppositioneller und kämpferischer Zusammenschluß von verschiedenen Einzelgewerkschaften." Dragan sitzt im dritten Stock eines Bürohauses in der von Abgasen bewolkten Innenstadt Belgrads und läßt uns Kaffee und Schnaps servieren. Gute Idee am frühen Nachmittag. Wir sind allerdings noch etwas benebelt, weil wir mit Dragan am Abend zuvor bereits ausgiebig getrunken haben.

Wie groß die Gewerkschaft ist, deren Präsident er ist, wollen wir wissen.

"Insgesamt repräsentiert unser Dachverband 600.000 Mitglieder von Einzelgewerkschaften aus fünfzehn verschiedenen Berufssparten."

Was ist das Hauptproblem, das sich Euch stellt?, fahren wir fort.

"Wir haben in den letzten Monaten eine Reihe von Streiks geführt, weil unseren Mitgliedern in vielen Betrieben seit Monaten keine Löhne ausgezahlt werden."

Nächste Frage: Warum habt Ihr Euch an der Zajedno-Bewegung beteiligt, obwohl auch die Oppositonsparteien ein nicht gerade arbeiterfreundliches Programm haben?

"Die SPS ist eine korrupte und undemokratische Regierung. Milosevic muß weg, erst dann ist eine demokratische Reform möglich, darin sind wir mit der Opposition einig, in vielen anderen Punkten nicht. Deshalb haben wir uns an den 88 Tage dauernden Demonstrationen beteiligt."

Es bleiben viele Fragen, aber zu wenig Zeit.

Wir fahren weiter nach Bosnien-Herzegovina, dieser vom Krieg geplagten Region, dem Brennpunkt der jugoslawischen Tragödie. Vor dem Krieg wohnten hier Serben, Muslime und Kroaten zusammen in Städten, Dörfern und Häusern. Alle sprechen dieselbe Sprache, niemand unterscheidet sich außer - vielleicht - durch seine Religion und damit verbundene Traditionen. Sicher haben Serben, Muslime und Kroaten eine jeweils eigene Geschichte, haben oft gegeneinander gestanden, gegeneinander gekämpft im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg, davor und danach. Doch viele Menschen betrachten sich hier nicht als Serbe, Muslim oder Kroate, sondern als Mensch, der in Bosnien geboren wurde, zufällig, wie andere zufällig an anderer Stelle geboren wurden. Aus Religion machen sie sich nichts, die atheistischen Traditionen Ex-Jugoslawiens waren nicht nur auferlegt. Gerade hier im innersten Schauplatz des Krieges wird deutlich, wie konstruiert "Volk", "Nation" und "Rasse" sind. Konstruiert von den Mächtigen von innerhalb und außerhalb des Landes, die diese Zuschreibungen für ihre politischen Zwecke benötigen. Die besondere Grausamkeit des Krieges, der geführt wurde, um die Menschen voneinander abzugrenzen, zu kategorisieren, erklärt sich vielleicht gerade daraus, daß die Konstruktion der Kategorien in Bosnien so willkürlich ist.

Wir überqueren zuerst die Grenze nach Kroatien, dann die Grenze nach Bosnien-Herzegovina. Die Brücke über die Drina wurde im Krieg gesprengt und bis heute nicht wieder aufgebaut, eine Fähre setzt im Pendelverkehr über den schlammig-braunen Fluß. Nach weiteren zwei Stunden Fahrt durch eine hügelige grüne Landschaft gelangen wir nach Tuzla, dem wichtigsten Industriezentrum im Nordosten Bosnien-Herzegovinas. Diese Stadt wurde während des Krieges von nationalistischen Serben über Monate hinweg belagert und beschossen, überall sind die zentimetertiefen Wunden zu sehen, die die Granatsplitter in den Häusern hinterlassen haben. Zehntausende von Flüchtlingen, hauptsächlich muslimische Bosnier, haben sich in die Stadt und das angrenzende Gebiet vor den ethnischen Vertreibungen geflüchtet. Das Kohlekraftwerk am Eingang Tuzlas spuckt zwar dunkle Rauchwolken in den Himmel, sie können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Bergbau, der Lebensnerv der Stadt, durch den Krieg weitgehend stillgelegt werden mußte und nur schwer wieder in Gang kommt.

Die politische Situation in Bosnien-Herzegovina ist paradox. Der Staat teilt sich real in zwei voneinander getrennte Gebiete. Die Republika Srpska, der von den nationalistischen Serben beherrschte Teil und die moslemisch-kroatische Föderation mit der Hauptstadt Sarajevo. Die drei früheren Kriegsgegner kontrollieren jeweils bestimmte Territorien, die nur mehr oder weniger formal ein gemeinsames Staatsgebiet bilden. Tuzla liegt auf dem Gebiet der Föderation nicht weit von der Grenze zur Republika Srpska. Die vielen tausend Moslems, die während des Kriegs von den Serben vertrieben wurden, haben bis heute kaum eine Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren, obwohl sie im selben Staat liegt. Das gilt in vielen Fällen auch in den gegenteiligen Konstellationen. In einer kroatisch kontrollierten Ortschaft wurde kürzlich das Haus einer alten Muslimin, die eben zurückgekehrt war, niedergebrannt. Im muslimisch kontrollierten Una Sana dagegen wurde ein alter serbischer Mann, der wieder in seiner Heimat leben wollte, ermordet.

"WARNING!

- DEATH TO INVADERS AND INTERNAL TRAITORS!

- ARRESTING OF HONOURABLE SERBIAN PATRIOTS IS PROHIBITED.

- ONLY SERBS WILL PUT SERBS ON TRAIL.

- IMMEDIATELY CEASE CO-OPERATION WITH THE ENEMIES OF THE SERBIAN PEOPLE AND DENY THEM THE HOSPITALITY THEY HAVE ENJOYED UNTIL NOW.

- SOMALIA WAS TOO MILD!

- WE ARE GOING FORWARD WITH GOD'S HELP!

A HEAD FOR A HEAD.

"FOR THE HONOURABLE CROSS AND FOR FREEDOM"

THE CETNIK MOVEMENTS OF ALL SERBIAN COUNTRIES"

So lautet ein Flugblatt, das nationalistische Serben nach der Festnahem beziehungsweise Ermordung zweier gesuchter mutmaßlicher serbischer Kriegsverbrecher in der Republika Srpska durch amerikanische Soldaten Anfang Juli an Nichtregierungsorganisationen in Tuzla schickten. Der Haß ist groß.

Die Preise in den Schaufenstern in Tuzla sind in DM ausgewiesen, wie sich in Bosnien-Herzegovina überall die Deutsche Mark als allgemein anerkanntes Zahlungsmittel durchgesetzt zu haben scheint. Lautsprecher der Moscheen rufen zum Gebet, die Mädchen sitzen im Minirock vor den Cafés, während uniformierte Milizionäre vorbeischlendern. Auf dem jüdischen Friedhof der Stadt stehen Grabsteine mit deutscher Aufschrift. Bis heute hat sich Tuzla der nationalistischen Dynamik widersetzt. Die Stadt beherbergt Muslime wie Serben und Kroaten, und eben viele Menschen, die sich nicht einkategorisieren lassen wollen. "Ich bin Serbin, meine beste Freundin ist Kroatin und ich lebe und arbeite hier in Tuzla mit vielen Moslems zusammen", sagt eine Frau, mit der ich spreche. Als Tuzla von den nationalistischen Serben eingekesselt war und permanent beschossen wurde, haben sich auch viele Serben freiwillig gemeldet und gemeinsam mit Muslimen die Stadt gegen den Nationalismus verteidigt. Hier ist etwas scheinbar Vergangenes, das vielleicht die Zukunft sein könnte, über den Krieg gerettet worden.

Von Tuzla aus fahren wir mehrere Stunden in Richtung Sarajevo. Je näher wir der größten Stadt in Bosnien-Herzegovina kommen, desto zerstörter und gespenstischer werden die Dörfer, die wir passieren. Während der letzten Kilometer sehen wir fast nur noch ausgebrannte Ruinen, ganze Dörfer, in denen kein einziges Haus ohne Wunden ist. Dann, am Ortseingang von Sarajevo, zieht sich ein Friedhof den Hügel hinauf, und deutlich sichtbar sind die vielen neuen Gräber. Kurze Zeit später das selbe Bild auf der anderen Straßenseite. Zwei Bürohochhäuser sind die höchsten Gebäude der Stadt, eines ist in den oberen Etagen vollständig entglast und ragt wie ein nacktes Gerippe aus Beton in den Himmel. In merkwürdigem Kontrast zum Bild des Krieges, das die Gebäude zeigen, steht das Leben auf der Straße. Die Menschen bewegen sich mit der größten Selbstverständlichkeit durch die Stadt.

Doch diese Selbstverständlichkeit, die uns überall begegnet, wirkt wie ein Schutzschild vor dem noch nicht beendeten Krieg: Wenige Tage nach unserem Aufenthalt in Sarajevo werden in Jajce, einer im kroatisch kontrollierten Teil Bosnien-Herzegovinas gelegenen Ortschaft, 500 Muslime, die in ihr altes Dorf zurückkehren wollten, gewaltsam vertrieben. Mit Billigung der kroatischen Polizeitruppe zündete ein Mob von mehreren hundert Kroaten die sich im Bau befindlichen Häuser der Rückkehrer an.


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