Die WELT hatte es kürzlich als Schlagzeile formuliert: "Die Ukraine wird ein
Schwerpunkt der Bonner Außenpolitik." Im Anschluß an Kinkel will im Juni '93
auch Kohl nach Kiew reisen, um, wie es in einer gemeinsamen Erklärung heißt, der
"traditionellen Freundschaft" eine "neue Qualität" zu verleihen. In der Tat
waren schon Kaiser Wilhelm und Adolf Hitler der Ukraine stets besonders
zugeneigt. Die Sympathie basiert seit Beginn dieses Jahrhunderts auf Prämissen,
die auch für das neuerwachte Interesse der Bundesregierung maßgeblich sind:
Erstens auf dem rassischen Konstrukt, demzufolge der europäische, d.h.
zivilisierte Ukrainer das völkische Gegenstück zum Russen darstelle, der
"geprägt von über zweihundertfünfzigjähriger Herrschaft der Mongolen und Tataren
... nie so produktiv arbeiten (wird) wie ein Westler." (Reißmüller) Dieses Bild
ist nicht allein eine Erfindung deutscher Ideologen, sondern zugleich
Hauptinhalt des neuentflammten ukrainischen Nationalismus. Anders als der
russische war jener mit antiwestlichen Untertönen nie durchsetzt. Im Gegenteil.
Man betrachtet die Ukraine als Teil des Westens, als – so Krawtschuk –
"europäische Großmacht", der heute eine Gefahr nur vom Osten aus drohe. Für das
Verhältnis zwischen der Ukraine und seinem östlichen Nachbarn gelten insofern
Trennungsmomente, die bei der Spaltung Jugoslawiens in das "europäische"
Slowenien und Kroatien sowie das "asiatische" Serbien zur Demarkationslinie und
schließlich Kriegsfront hochgepeitscht wurden.
Zweitens hat die Ukraine aufgrund ihrer natürlichen Reichtümer für den
deutschen Imperialismus schon immer wie ein Magnet gewirkt. Nicht nur als
"Kornkammer", sondern auch als eine Art "Ruhrgebiet" der Sowjetunion: 50% des
sowjetischen Urans, 45% des sowjetischen Eisenerzes und 26% der sowjetischen
Kohle wurden hier 1990 gefördert. "Wenn wir die Ukrainer verlieren, verlieren
wir unseren Kopf", soll 1918 schon Lenin erklärt haben und noch drastischer im
selben Jahr Trotzki: "Ohne die Ukraine gibt es kein Rußland, ohne ukrainische
Kohle, Eisen, Erz, Brot, Salz und ohne das Schwarze Meer kann Rußland nicht
existieren, es wird ersticken, und damit auch die Sowjetmacht."
Zu den Schätzen der Ukraine gehören auch die Reichtümer strategischer Natur,
die den deutsch-ukrainischen Beziehungen eine besonders prekäre Note verleihen:
Als Atommacht könnte die Ukraine Deutschland auf längere Sicht etwas bieten, was
ihm Frankreich und die USA bis heute verweigern – eine gleichberechtigte
Zusammenarbeit im Atomwaffenbereich. Im Zentralorgan der deutschen Militaristen,
der "Europäischen Sicherheit", wird hoffnungsfroh davon gesprochen, daß Kiew das
Ziel der Atomwaffenfreiheit nur vorgebe, um westliche Hilfeleistungen zu
erhalten. "In der Ukraine laufen indes" – so das bundeswehrnahe Organ – "zwei
Prozesse ab: ein nach außen gerichteter und ein nach innen gewandter, der ein
militärisch starkes Land wünscht", wofür die Hardthöhe durchaus auch im
nuklearen Bereich Verständnis aufzubringen vermag: "Ein möglicher Besitz von
Nuklearwaffen könnte auch der Abgrenzung gegenüber Rußland dienen." Das Projekt
einer deutsch-ukrainischen Raketenkooperation hatte bereits ganz oben auf der
Tagesordnung gestanden, als im Oktober 1992 Schwarz-Schilling, damals noch
Kabinettsmitglied, in Kiew weilte. Der grienende Postminister und sein
ukrainischer Kollege "kündigten an, daß künftig deutsche Satelliten mit in der
Ukraine gebauten Raketen vom einstigen sowjetischen Weltraumbahnhof Baikonur in
Kasachstan ins All befördert werden sollten. Diese Satelliten könnten dann, auch
für die Versorgung deutscher Bevölkerungsgruppen in der GUS, mit
deutschsprachigen Programmen genutzt werden." (Stuttgarter Zeitung, 21.10.92)
Das dritte Element der deutschen Ukrainepolitik betrifft die Einflußnahme auf
Rußland. Solange die Ukraine Bestandteil einer zaristischen bzw. sowjetischen
Großmacht war, sollte Kiew als "deutscher" Brückenkopf entsprechende Dienste
leisten. Zugleich nutzte Deutschland jede Möglichkeit, die Ukraine von Rußland
abzuspalten und den Gegensatz zwischen Moskau und Kiew zu vertiefen. Zuletzt
hatte sich diese Möglichkeit 1990 geboten. Im Frühjahr dieses Jahres war die
ukrainische Staatsführung nach München gereist. Dort hatte man ihr nach Auskunft
der britischen Zeitschrift "Political Quarterly" seitens der bayerischen
Gastgeber zu erkennen gegeben, daß man die ukrainische Ablösebewegung von der
Sowjetunion mit der allergrößten Sympathie verfolge. Im Rahmen der bilateralen
Gespräche über die deutsche Einheit wurde die Bundesregierung daraufhin von der
Sowjetunion aufgefordert, ihren "großen Einfluß bei den Ukrainern dahingehend
geltend zu machen, daß die Ukraine Mitglied einer reformierten Sowjetunion
bleibt", wie "Political Quarterly" schreibt.
In der Tat war es Kiew, das 1991 den Hebel zur Sprengung der alten
Sowjetunion in seiner Hand und jenen im Sinne der bayerischen Empfehlungen zu
nutzen verstanden hatte. Im folgenden sollen die Etappen und Grundzüge der
"alten" deutschen Ukraine-Politik in Erinnerung gerufen, sowie einige aktuelle
Aspekte derselben dargelegt werden.
Schon 1897 hatte Paul Rohrbach, ein führender Osteuropa-Ideologe, die Devise
ausgegeben, die dann im Laufe des Ersten Weltkrieges voll zum Tagen kam: "Wenn
Rußland noch fünfzig Jahre in Ruhe bleibt, dann kann es vielleicht sein, daß die
ukrainische Frage einschläft, trotzdem die ukrainischen Patrioten sich bemühen,
sie wach zu machen. Wenn aber der Tag kommt, wo Rußland das Schicksal
herausfordert, und dann hat zufällig dort, wo bei uns die Entscheidungen
getroffen werden, jemand so viel Kenntnis von den Dingen und soviel
Entschlossenheit, daß er die ukrainische Bewegung richtig loszubinden weiß –
dann, ja dann könnte Rußland zertrümmert werden. Wer Kijew hat, kann Rußland
zwingen!" (P. Rohrbach)
Von der Hoffnung auf eine Erhebung der russischen Fremdvölker ließen sich
Kaiser und Kanzler leiten, als sie unmittelbar bei Kriegsausbruch Aktionen in
die Wege leiteten, die die ukrainische (überwiegend sozialrevolutionäre)
Bewegung "richtig losbinden" sollte. Fortlaufende Finanzspritzen aus Berlin für
den "Bund zur Befreiung der Ukraine" sollte in der Entfesselung eines
ukrainischen Aufstands ebenso dienen, wie die Absonderung, Aufhetzung und
Indienstnahme ukrainischer Kriegsgefangener durch deutsche Spezialkommissionen.
Unter dem Banner der "Selbstbestimmung" sollte Rußland "dekomposiert", d.h. in
eine Vielzahl von schwachen, anlehnungsbedürftigen Einzelstaaten sowie einen
geschwächten Reststaat zerbröselt werden. Insbesondere galt die "Zurückdrängung
des Moskowiterreiches nach Osten unter Absplitterung seiner westlichen
Landesteile", so Reichskanzler Bethmann-Hollweg in einem Brief an Kaiser
Wilhelm, als ein Ziel, daß aller Kriegsopfer würdig sei. Rußland sollte durch
Abspaltung seiner Korn -und Rohstoffkammern nicht nur entscheidend geschwächt
sondern, Deutschland als Erbfolger Rußlands zugleich gestärkt werden: Die in
Denkschriften verpackten Aufrufe der deutschen Schwerindustrie, die Ukraine und
ihre Erzvorkommen für Deutschland zu okkupieren, waren Legion und die Forderung
nach Umbau des ukrainischen Schienennetzes auf deutsche Spurweite nur ein
Programmpunkt unter vielen.
Flankierend wurde von den Ruhrindustriellen, Kirdorf und Hugenberg, der
"Verband deutscher Förderer der ukrainischen Freiheitsbestrebungen" gegründet
und über eine eigene Zeitschrift ("Osteuropäische Zukunft") auf Massenbasis
"Ukrainekunde" betrieben. Entsprechend vorbereitet war die Stimmung, als im
Februar 1918 Deutschland – gestützt auf fingierte Hilferufe ukrainischer
Nationalisten – mit 500.000 Soldaten, darunter 3.000 Ukrainern nach Kiew
marschierte, die dortige bolschewistische Regierung verjagte und sich die
Rohstoffgebiete der Ukraine sowie des Donez-Beckens und die Krim unter den Nagel
riß. Nachdem die Berliner Regierung ihre ukrainischen Stichwortgeber abgesetzt
und eine Marionettenregierung unter dem Großgrundbesitzer Skoropadski
installiert hatte, war die "selbstständige" Ukraine endgültig zu einem Anhängsel
Deutschlands geworden. Auf drei großen Gebieten – so Fritz Fischer – "entfaltete
sich nunmehr, organisiert und gelenkt, die Initiative des Reiches: in der
Agrarreform, der Bahn- und Bankenfrage und schließlich in der Eisenerz- und
Kohlefrage." Zugleich wurde die Ukraine aus dem Rubelblock herausgelöst und
wurden große Pläne zur massenhaften Ansiedlung von Deutschen in der Krimregion
geschmiedet, um dort – so General Ludendorff – "ein Staatengebilde" zu schaffen,
"in dem der deutsche Einfluß vorherrscht". Daß daraus vorerst nichts wurde, ist
bekannt. Nach der deutschen Niederlage und jahrelangen kriegerischen
Auseinandersetzungen mit Polen sowie den reaktionären Bürgerkriegsparteien wurde
die Ukraine 1920 in die Sowjetunion integriert.
Zwei durchaus aktuelle Aspekte der deutschen Kriegspolitik von 1917/18 fallen
ins Auge: Zum einen der Stellenwert, der der Loslösung der Ukraine von Rußland
beigemessen wurde. So war die Reichsregierung nach Etablierung der bürgerlichen
Herrschaft in Kiew am Überleben der Lenin'schen Regierung geradezu interessiert:
"Denn es war vorauszusehen", so Borowsky in seiner Studie, "daß mit dem Sturz
der Bolschewiki und der Bildung eines monarchisch-konstitutionellen Regimes in
Rußland der sozial- und wirtschaftspolitische Stein des Anstoßes zur
ukrainischen Separation wegfallen und Deutschland mit der Ukraine den
wichtigsten Stützpunkt zur ,Durchdringung' Rußlands verlieren würde." Das
allgemeine soziale Interesse des Imperialismus am Sturz der Bolschewiki wurde
dem Interesse am Erhalt der Einflußgebiete am Dnjepr ganz offenkundig
untergeordnet.
Der zweite Aspekt betrifft die im ersten Weltkrieg vollzogene Abkehr von
einer allzu plumpen Annektionspolitik zugunsten der indirekten Beherrschung
anderer Länder unter der Losung von "Selbstbestimmung" und "Autonomie", welche
in der Ukraine wie auch im Baltikum eine innere Selbstverwaltung mit dem
militärischen, politischen und wirtschaftlichen Anschluß an Deutschland zu
kombinieren verstand. Gegenüber dem annektionistischen Imperialismus hatte jener
modernisierte, so Borowsky, "den Vorteil, daß er von der revolutionären Idee des
Selbstbestimmungsrechts der Völker moralisch gedeckt wurde und daher auch für
die Liberalen und Sozialdemokraten annehmbar war."
Wenn auch die ukrainischen Exilanten die deutsche Regierung weiterhin als den
Schlüssel für die Lösung des osteuropäischen "Gesamtproblems" betrachteten, war
doch zunächst die deutsche Ukrainepolitik zu gründlich diskreditiert, um sofort
wieder in Erscheinung treten zu können. Erst 1926 wurde ein vom Auswärtigen Amt
finanziertes "Ukrainisches Wissenschaftliches Institut" als neue diesbezügliche
Kaderschmiede etabliert. Der Leiter dieses Instituts, Ivan Mircuk, hatte sich
1935 freiwillig zum Offiziersdienst gemeldet und in seinen Aufsätzen nicht nur
das Konzept der rassistisch begründeten deutsch-ukrainischen Sonderbeziehung
propagiert, sondern sich darüber hinaus als extremer Antisemit eine Anerkennung
verschafft, die die Naziherrschaft überdauerte: Nach 1945 wurde Mircuk in die
Bayerische Akademie der Wissenschaften gewählt. Seit 1955 war er Mitglied des
Münchner Instituts zur Erforschung der UdSSR" und Chefredakteur der Zeitschrift
"Sowjetstudien".
Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung trat die "Stoßrichtung Ukraine" um so
energischer in das Stadium konkreter Überlegungen und Pläne. Erneut erlebte die so genannte
"Ukrainewissenschaft" einen Aufschwung, mit deren Hilfe nicht nur die natürlichen Reichtümer
jener Regionen im Vorgeschmack statistisch erfaßt, sondern insbesondere der Nachweis erbracht
wurde, daß die Ukraine als das natürliche "Vorfeld des Abendlandes" durch uralte und
vielseitige "Schicksalsverbindungen" mit dem "Deutschtum" verwoben sei. Schon
1933 versuchte die NSDAP die verschiedenen ukrainischen Emigrantenorganisationen
zusammenzufassen und auf spätere militärische Aktionen gegen die Sowjetunion
vorzubereiten. Erfolglos waren diese Anstrengungen nicht: Admiral Canaris ließ
ab 1938 ein ukrainisches Spezialbataillon ausbilden, das 1939 beim Überfall auf
Polen erstmals zum Einsatz kam. 1943-1945 wüteten in den Reihen der Wehrmacht
jene berüchtigte "Ukrainische Division" mit über 10.000 Mann, sowie die
SS-Division "Galizien". Zu einschlägiger Berühmtheit hatte es insbesondere das
Ukrainer-Bataillion "Nachtigall" gebracht. Es wurde nach dem Polen-Überfall aus
kriegserfahrenen ukrainischen Nationalisten unter Führung des Ostforschers
Theodor Oberländer zusammengestellt. Mit Oberländer an der Spitze marschierte es
am 30.6.1941 in Lwow (dem ehemals galizischen Lemberg – ukrainisch: Lwiw) ein,
um dort insbesondere die jüdische Bevölkerung zu massakrieren. Die
"Ereignismeldung UdSSR" der Nazi-Schergen vom 30.6. 1941 spricht eine deutliche
Sprache: "Von der Sicherheitspolizei wurden 7.000 Juden zur Vergeltung für die
unmenschlichen Greueltaten (der Sowjets) zusammengetrieben und erschossen." Auch
Oberländer machte anschließend Karriere. Als "Bundesminister für Vertriebene,
Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte" gehörte er von 1953 bis 1960 verschiedenen
Adenauer-Kabinetten an.
Dennoch war das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und ukrainischem
Nationalismus nicht unumstritten. Eine "ukrainophile" Linie des "Reichsministers
für die besetzten Ostgebiete", Alfred Rosenberg, suchte den ukrainischen
Nationalismus für die deutschen Zwecke einzuspannen, während die noch borniertere
Konzeption des "Reichskommissar für die Ukraine", Erich Koch, keine "ukrainischen",
sondern ausschließlich "deutsche" Interessen anzuerkennen bereit war. Entsprechend
widersprüchlich agierten die Deutschen gegenüber der Organisation Ukrainischer
Nationalisten (OUN), deren berüchtigter Führer, Stephan Bandera, 1939 von Deutschland
aus dem polnischen Knast und in die antibolschewistische Front entlassen wurde. Als Bandera
– gestützt auf die Massaker des "Nachtigall"-Bataillons – am 30.7.1941 eine "selbständige"
Ukraine mit eigenem Ministerpräsidenten proklamierte, ging dies der Berliner Führung zu
weit. Mit einer Verhaftungswelle gegen den Bandera-Flügel der OUN wurde jenes Experiment
liquidiert und das "Nachtigall"-Bataillion aufgelöst. Erst 1944 wurde der ukrainische
Nationalismus als Bündnispartner im Kampf gegen die immer näher rückenden Sowjetarmeen von
Deutschland erneut hofiert und dafür gesorgt, daß der reaktionärste Teil jener Bewegung in
den Westzonen des besetzten Deutschlands Unterschlupf fand. Wenn auch die deutschen
Ambitionen mit den Zielen der ukrainischen Nationalisten nicht in Deckung zu bringen waren,
hatte sich doch die ideologische Übereinstimmung auf mindestens zwei Gebieten – dem
Antisemitismus und dem Antikommunismus – als tragfähig erwiesen.
Über die Zusammenarbeit zwischen Exilukrainern und deutschen Behörden nach
1945 ist mir eine zusammenhängende Untersuchung bisher nicht bekannt. Daß es sie
gegeben hat, ist gewiß. Ihre neuen Zelte hatten die Exilukrainer in der
Hauptstadt der Ostemigration und dem Knotenpunkt aller einschlägig
antikommunistischen Front-Organisationen von Ustacha-Kroaten, Ungarn, Polen,
Letten, Esten, Bulgaren und Albanern aufgeschlagen: in München. In der
Zeppelinstraße begann ab 1945 Bandera (unter dem Decknamen Popel und von
"westlichen", wie es heißt, Finanzquellen gestützt) nicht nur die
antibolschewistischen Exilukrainer in der OUN zu organisieren. Von hier aus
wurde zugleich die sogenannte "Ukrainische Aufstandsarmee" (UAA) angeleitet, die
im Zweiten Weltkrieg vorrangig im Rahmen der Hitler-Armeen gekämpft hatte und
bis Anfang der 50er Jahre mit mehreren Bataillonen die damalige Tschechoslowakei
(CSR) und die Westukraine in der Region um Lwow unsicher gemacht hatte. Über den
Charakter jener Banden gibt ein Programm der OUN-Führung Auskunft, das im
Oktober 1945 auf einer Münchener Tagung verabschiedet worden sein soll: "Die
bewaffneten Aktionen der UAA in Nordgalizien", heißt es dort, "werden sich in
Terroraktionen fortsetzen; ... (Wir werden) auf dem Gebiet der CSR eine
Organisation der UAA und ein geeignetes Netz schaffen, damit der Kurierdienst
zwischen München und dem Osten ordnungsgemäß funktioniert. ... (Wir werden) die
Werbung für die OUN auf dem Gebiet der CSR erweitern und die Bevölkerung
propagandistisch gegen die Sowjetordnung ausrichten." (zit. nach Remer/Fricke)
Daß der heute in der Ukraine als Nationalheld gefeierte Bandera bei diesen
Aktivitäten von der Bundesregierung geschützt und entsprechende
Auslieferungsbegehren der Sowjetunion stets abschlägig beschieden wurden, liegt
auf der Hand. 1959 wurde er in München von einem Agenten des KGB getötet.
Über die deutsche Ukrainepolitik der 70er und 80er Jahre sind die
Anhaltspunkte bisher noch besonders dürftig. War es Zufall, daß 1983 der
"Unterschied" zwischen Russen und Ukrainern von Helmut Kohl persönlich in
Erinnerung gerufen wurde? Im Juli 1983 war er nach Kiew gereist, "dieser 1.500
Jahre alten europäischen Stadt", wie die FAZ emphatisch schrieb, um in seiner
Tischrede "den Anteil der Ukraine an der Geschichte Europas" zu würdigen. (FAZ,
8.7.83) Bis in die Gegenwart hinein ist München der Erscheinungsort der
ukrainischen Emigrantenzeitschrift "Schljach Peremohy" (Straße des Sieges)
geblieben, deren Mitarbeiter im Rahmen der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung
Ruch eine finstere Rolle gespielt haben sollen. (NZZ, 20.9.89)
Seit wann die Ukraine auch formell als "das Partnerland Bayerns am Dnjepr"
(FAZ) fungiert, ist mir unbekannt – der Tatbestand spricht allerdings für sich
und ist, wie wir oben gesehen haben, auch im Kontext der Auseinandersetzungen um
die Zerschlagung der Sowjetunion nicht ohne Bedeutung gewesen..
Die fatale Gesamtausstrahlung der deutschen Einheit hatte die osteuropäischen
Nationalismen wie ein Katalysator angeheizt. Ob solche äußeren Faktoren für die
Entstehung des neuen ukrainischen Nationalismus eine bedeutsamere Rolle als die
eines Geburtshelfers gespielt hatten, ist derzeit nicht zu
erkennen.
Als erwiesen kann jedoch gelten, daß jene Entwicklung vom Kabinett Kohl –
wenn auch nicht marktschreierisch – unterstützt wurde, während Margret Thatcher
wie auch George Bush (bei seinem Besuch im August 1991 in Kiew) vor dem
"selbstmörderischen Nationalismus" gewarnt und die ukrainische
Separationsbewegung offen brüskiert hatten. 1989 begannen sich in der FAZ und
der WELT Artikel zu häufen, die fortan – etwa unter der verblüffend
geschichtsträchtigen Überschrift "Wenn sich die Ukraine gegen das Moskauer
Regime erhebt" – ihren Hoffnungen freien Lauf ließen: "Wenn sich die Ukraine
eines Tages aus der Sowjetunion verabschieden sollte, dann gibt es keine
Sowjetunion mehr." (Welt, 11.9.89)
Am 3. Dezember 1991 hatten sich über 90% der ukrainischen Bevölkerung in
einem Referendum für die Unabhängigkeit ausgesprochen und den Abschied von
Moskau damit besiegelt. Ein letztes Mal versuchte Gorbatschow zu beschwichtigen:
Ein Ja zur Unabhängigkeit sei noch kein Nein zur Union. "Würde aber der 'Prozeß
in diese Richtung gedrängt', so Gorbatschow, dann bedeutete das 'eine
Katastrophe sowohl für die Union als auch für die Ukraine, Rußland, Europa und
die Welt'." (FAZ, 3.12.91) Wie TASS damals meldete, hatte Gorbatschow
insbesondere mit Helmut Kohl telefoniert und ihn vor "überstürzten
Entscheidungen" gewarnt. Hierfür gab es Gründe.
Einerseits hatte die Riege von Dregger bis Reißmüller nach dem Referendum für
die sofortige Anerkennung getrommelt (während die EG eine "abwartende Haltung"
eingenommen hatte und das Kohl-Kabinett zumindest die Schamfrist von drei Wochen
gewahrt sehen wollte). Andererseits hatten nicht nur die bayerische
Staatsregierung sondern auch das Bundeskabinett bereits im Vorfeld des
Dezember-Referendums die Ukraine als eigenständigen Faktor fortlaufend hofiert.
Im Oktober 1991 hatte Genscher als "wichtigen Baustein" die "erste deutsche
Kulturwoche"in Kiew eröffnet, nachdem er dort "für seine Verdienste um die
deutsch-ukrainischen Beziehungen" mit einem Preis ausgezeichnet worden war. Im
November 1991 wurde der deutsche "Abrüstungsbotschafter" für mehrtägige
Gespräche mit der ukrainischen Regierung nach Kiew geschickt. Ihm folgte wenige
Tage nach dem Referendum ein weiterer Sonderbotschafter aus Bonn, dessen Besuch
"als Zeichen des besonderen deutschen Interesses an umfassender Vertiefung und
Entwicklung der deutsch-ukrainischen Beziehungen gewürdigt worden" sei, wie die
FAZ kolportiert. Als erste der nach dem Moskauer Putsch aus der Sowjetunion
hervorgegangenen Republiken wurde die Ukraine am 26.12.91 von Bonn schließlich
völkerrechtlich anerkannt. Einige Monate später hatte die deutsche Botschaft in
Kiew mehr Personal aufzuweisen, als alle anderen westlichen Vertretungen
zusammen. Auch ohne Kenntnis der bilateralen Geheimdiplomatie ist somit zu
konstatieren, daß Bonn die Zerschlagung der Sowjetunion via ukrainischer
Bewegung auch offen ermutigt hatte. Es bleibt die Frage der Atomwaffen. Wird der
ukrainische Separatismus auch in dieser Hinsicht von der Bundesregierung unterstützt?
"Die 'eurostrategische' Landschaft hat sich mit dem Ende der Sowjetunion und
dem Aufstieg der selbständigen Atommacht Ukraine in einer vom Westen noch
unbegriffenen Weise verändert", hieß es vor einigen Monaten in der FR. Dieser
Einschätzung ist zuzustimmen. Erstens verfügt die Ukraine über das drittstärkste
Nuklearpotential der Welt. Zweitens sucht Kiew nicht nur ganz unverhohlen bei
der NATO Schutz vor Moskau, sondern man sieht (zumindest von Seiten der
deutschen NATO-Macht) durch das ukrainische Potential zugleich die russische
Großmacht eingedämmt und gebunden. Drittens wird die Entscheidung der Ukraine
über einen Beitritt oder Nichtbeitritt zum Sperrvertrag für die Zukunft jenes
Vertragssystems von einer entscheidenden Bedeutung sein. Und viertens könnte der
deutschen Nuklearpolitik mit der ukrainischen Atommacht ein künftiger
wesentlicher Ansprechpartner erwachsen (was jene nicht davon abhalten bräuchte,
eigene Atomwaffenaspirationen mit eben jener neuen Atommacht zu rechtfertigen).
Mit anderen Worten: So wie zuvor bei der Zerschlagung der Sowjetunion nimmt
heute die Ukraine hinsichtlich der Zukunft des internationalen nuklearen Systems
eine Schlüsselstellung ein.
Während demgemäß die ukrainische Nuklearpolitik die Schlagzeilen der angelsächsischen
Medien in Beschlag nimmt und seitens der USA kaum ein Mittel (vom finanziellen Anreiz bis
zum diplomatischen Druck via der Unterzeichnung des START II-Vertrages) ungenutzt zu bleiben
scheint, um die Ukraine zur Atomwaffenfreiheit zu bewegen, wird dieses Thema in den
bundesdeutschen Medien heruntergekocht und bleibt der Standpunkt der Bundesregierung
merkwürdig ambivalent.
Zwar hütet sich die Bundesregierung, aus dem Reigen internationaler Stellungnahmen auszuscheren,
welche auf die künftige Atomwaffenfreiheit der Ukraine insistieren. In den nicht ganz
unmaßgeblichen Kommentaren der FAZ wird jedoch eine andere Sprache gesprochen. Das ukrainische
Bemühen um militärische Eigenständigkeit sei – so der Ukraine-Kommentator Werner Adam – "eine
begreifliche Reaktion auf die Neigung Rußlands, die anderen Nachfolgestaaten des
sowjetischen Imperiums vor vollendete Tatsachen zu stellen." (6.1.92) Von den
Ukrainern also zu erwarten – so "W.A." in Abgrenzung zu den USA – "sie soll ohne
jede Gegenleistung auf die nukleare Hinterlassenschaft der Sowjetunion
verzichten und diese allein Rußland anvertrauen, bedeutet, ihre
Sicherheitsinteressen zu ignorieren." (9.1.93) Ambivalent hatte im Februar 1993
auch Klaus Kinkel anläßlich seines Kiew-Besuchs argumentiert. Bei allem
"Drängen" auf den ukrainischen Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag hatte er doch
zugleich das Krawtschuk-Junktim in Bezug auf westliche Sicherheitsgarantien (als
Vorbedingung eines Vertragsbeitritts) als "berechtigt" anerkannt – wohl wissend,
daß die westlichen Atommächte derartige Garantien nicht geben wollen und
Deutschland sie nicht geben kann.
Derartige Andeutungen sollten nicht nur als Ausdruck einer hochbedeutsamen
innerimperialistischen Differenz ernst genommen werden. Als Fingerzeige werden
sie vermutlich auch in Kiew ihren Einfluß nicht verfehlen. Die Regierung
Kraw-tschuk steht einerseits vor einem ökonomischen Desaster, was die Immunität
gegen äußeren Druck (von seiten Moskaus oder Washingtons) erheblich schwächt.
Auf der anderen Seite ist die innenpolitische Front der Atomwaffenbefürworter im
Wachsen begriffen, wobei insbesondere interessant ist, die Genese der
oppositionellen Ruch-Bewegung zu verfolgen: Einst in der Folge der Katastrophe
von Tschernobyl als antinukleares Bündnis entstanden, hatte sich Ruch
anschließend zu einem Zentrum der nationalistischen Bewegung entwickelt, um sich
mittlerweile – ohne die Gegnerschaft zur zivilen Atomenergienutzung aufzugeben –
als entschiedenste Befürworterin eines nationalen Atomwaffenprogramms zu
entpuppen.
Selbst wenn das Kiewer Parlament im Frühjahr 1993 seinen grundsätzlichen
Willen zum nichtnuklearen Status bekräftigen sollte, würde dies an der Praxis
des Lavierens vermutlich wenig ändern: Erstens wird die Ukraine ihre
strategischen Atomwaffen auf keinen Fall der russischen Regierung überlassen,
d.h. sie müßten vor Ort zerstört werden, wozu aber die Kapazitäten fehlen.
Zweitens hat sich die Regierung Krawtschuk eine Auslegung des START-Vertrages
zueigen gemacht, derzufolge eine Abschaffung der strategischen Atomwaffen
ohnehin erst sieben Jahre nach Ratifizierung jenes Abkommens vorgesehen ist. Ein
langer Zeitraum, innerhalb dessen die deutsche Regierungspolitik durchaus
geneigt sein könnte, sich die verständnisvolle Flankierung der ukrainischen
Position mit nuklearer Münze (d.h. entsprechenden Kooperationsangeboten)
honorieren zu lassen. Selbst die von Kinkel ankündigte Zusammenarbeit bei der
Vernichtung von Atomwaffen ist unter diesem Aspekt interessant: Anregungen aus
der Bundesregierung, etwa das russische Waffenplutonium in Hanau verarbeiten zu
lassen, hatte Washington mit Verweis auf Bonner Sperrvertragsverpflichtungen
bisher stets zurückpfeifen können.
Der mit dem Kinkel-Besuch in Kiew eingeleitete "Beginn einer Etappe der
Vertiefung und des Ausbaus unserer Beziehungen", so Krawtschuk, hat
selbstverständlich auch eine ökonomische Dimension. Doch dominiert auf diesem
Sektor bisher die wechselseitige Enttäuschung: Die Regierung in Kiew hatte sich
erhofft, daß ihre avantgardistische Rolle bei der Zerschlagung der Sowjetunion
auf dem Gebiet des Kreditwesens, der Industriekooperation und der Anbahnung
besonderer Beziehungen zur EG weitaus großzügiger, als bisher geschehen,
honoriert würde. Die Bundesregierung wiederum macht der Ukraine zum Vorwurf,
durch Nichtanerkennung sowjetischer Altschulden die Umschuldungsverhandlungen
zwischen der GUS und den westlichen Gläubigerländern zu blockieren. Außerdem
fordert Bonn, daß die Ukraine jedem ausländischen Interessenten den privaten
Erwerb von Eigentum an Grund und Boden uneingeschränkt möglich macht, was nicht
zuletzt in Hinblick auf die in Aussicht gestellte Besiedlung der Süd-Ukraine
durch ca. 400.000 "Deutschstämmige" aus dem GUS-Raum von Bedeutung ist. Last but
not least wird derzeit das Geschäft mit Kiew durch Hyperinflation und
Zahlungsunfähigkeit gründlich verleidet. Dennoch scheint die deutsche Industrie
guten Mutes zu sein, daß die Ukraine "nach einer Phase der Emanzipation
...einmal ein starker Partner" sein könnte. An die 90 deutsche Unternehmen haben
in Kiew ein Büro eröffnet. Etwa 50 deutsch-ukrainische
Gemeinschaftsunternehmungen sind registriert. Eine zweite Tagung des (vom
Wirtschaftsministerium initiierten) deutsch-ukrainischen Kooperationsrates hat
soeben in Kiew mit 30 Regierungsvertretern und 60 Industrierepräsentanten aus
der BRD stattgefunden. Eine Nachfolgetagung ist bereits für Ende 1993 anvisiert.
Soviel über die Geschichte und den Stand der deutsch-ukrainischen Beziehungen.
Abschließend als Diskussionsanstoß einige
1. Die Zukunft der GUS-Staaten ist heute nicht prognostizierbar – solange dies so bleibt, wird auch die deutsche Osteuropa-Politik, ohne sich festzulegen, ein breites Profil von Optionen abzudecken suchen.
2. Als sicher kann jedoch gelten, daß Rußland in absehbarer Zukunft aufgrund seines militärischen Potentials in Osteuropa ebenso Großmacht und Gegenspieler bleiben wird, wie Deutschland dank seiner Finanzkraft in Westeuropa. Es ist insofern im Interesse des deutschen Imperialismus, die machtpolitischen Spielräume Rußlands (etwa im Bündnis mit der Ukraine oder der Türkei) einzudämmen.
3. Die öffentliche Propagierung einer deutsch-ukrainischen Sonderbeziehung (wie im Vorfeld der beiden Weltkriege) ist zumindest kurzfristig nicht zu erwarten: Es wäre in einer Übergangsphase, wie der gegenwärtigen, geradezu unsinnig, die russische Großmacht vor den Kopf zu stoßen. Dennoch besetzt die Ukraine für den deutschen Imperialismus auch heute eine Schlüsselposition. Erstens, weil allein ihre Existenz Rußland maßgeblich schwächt. Zweitens als Einflußfaktor für den gesamten GUS-Bereich: Immer wieder hatte die Ukraine ihre die GUS betreffenden Absichten mit der Drohung, anderenfalls die GUS-Organe zu verlassen, durchsetzen können. Nach Auskunft ihrer Ideologen "hängen die Sicherheitsinteressen des demokratischen Europas mit der Möglichkeit des zivilisierenden Einflusses auf Rußland zusammen. Zum wesentlichsten Faktor solchen Einflusses wird die Ukraine." ("Europäische Sicherheit", 2/93) Drittens gibt es im deutsch-ukrainischen Verhältnis eine Reihe ideologischer Schnittmengen, die aus der Historie verlängert werden, weil jede kritische Bestandsaufnahme unterbleibt: Der völkische Charakter beider Nationalismen, der Antislawismus sowie der Antikommunismus.
Dies sind zusammengefaßt die Gründe, warum die Bundesregierung (bzw. deren Publizistik) in den bisherigen ukrainisch-russischen Konflikten stets für die Ukraine Partei ergriffen hat.
4. Auch heute gilt das historische Muster, demzufolge der deutsche Imperialismus sich freut, wenn Moskau und Kiew sich streiten. Wie die Auseinandersetzungen über die Umschuldungsverhandlungen beweisen, widerspricht diese These zumindest partiell der Logik der Kapitalverwertung.
Daß das Interesse an Kapitalverwertung von der Logik der Machtpolitik überlagert werden kann, veranschaulicht der Bericht über eine hochrangige Besprechung von Osteuropa-Experten beim Auswärtigen Amt, die unmittelbar nach dem ukrainischen Referendum vom 3.12.1991 stattgefunden hatte. "Beim Bemühen, die Situation und die weitere Entwicklung zu beschreiben, dominierte in der Einschätzung der Experten der Begriff des Chaos und der Anarchie", heißt es bei Karl Feldmeyer in der FAZ. "Unterschiedlich waren allein die Antworten auf die Frage" – und nun wird es spannend! – "ob dieses Chaos als schöpferische Kraft zu bewerten sei, das vor einer 'desintegrativen Reorganisation der Sowjetunion' bewahre, mit dessen Kräften sich der Westen verbünden solle, weil, so urteilte einer der Teilnehmer, Chaos und Krise die angemessenen Formen der Veränderung und Überwindung der sowjetischen Strukturen seien – oder ob man das Chaos eher als Gefahr einzustufen habe, wozu Vertreter der Wirtschaft neigten. Von ihnen kam die Warnung vor einer Glorifizierung des Chaos als 'schöpferisch', denn es bedrohe Millionen mit dem Hungertod." (FAZ, 12.12.91)
5. Die altneue deutsche Ostpolitik hat sich in den letzten zwei Jahren kontinuierlich mit der "schöpferischen Kraft" von "Chaos und Krise" verbündet und hierfür das Risiko von Blutbädern (z.B. in Bosnien) in Kauf genommen. Dies ist der Punkt, in dem sich deutsche Osteuropa-Politik – in der Frage der Anerkennung des Baltikum und Kroatiens oder im Hinblick auf die Ukraine und die Zukunft der GUS – von der Osteuropa-Politik der USA, Großbritanniens oder Frankreichs unterscheidet.
6. Dieses Spezifikum folgt nicht nur dem alten Ziel, den russischen Machtbereich so weit wie möglich zu "dekomposieren". Sondern Chaos und Krise waren bisher ebenso notwendig wie willkommen, um zu vernichten, was unter der Chiffre "Jalta" läuft: Alle an den Sieg über Deutschland erinnernden Überbleibsel im internationalen System. Dieser Reflex auf die Geschichte trägt zwanghafte Züge. Er könnte erklären, warum selbst das kümmerliche Rest-Jugoslawien jenen – mit Titos Partisanenkrieg verknüpften – Namen nicht mehr führen darf und macht zugleich plausibel, daß mit den Balten, Ukrainern und Kroaten erneut auf Nationen gesetzt wird, auf die Deutschland auch in früheren Zeiten sich bevorzugt glaubte stützen zu können.
7. Die altdeutsche Ukrainepolitik und "traditionelle Freundschaft" werden explizit verlängert. In Deutschland interessieren heute nicht historische Bestandsaufnahme und Distanz – von Bruch ganz zu schweigen – sondern die Pflege der deutschen Kriegsgräber, worüber Kinkel in Kiew ein Abkommen zu fordern in der Lage war. Mit den Toten wird aber immer auch die Geschichte geehrt. Gibt es vielleicht auch in der Außenpolitik den von den Mitscherlichs beschriebenen "Wiederholungszwang"?
Quellen:
Peter Borowsky, Deutsche Ukrainepolitik 1918, Lübeck 1970
Fritz Fischer, Der Griff zur Weltmacht, Düsseldorf 1967
Claus Remer, Dieter Fricke et.al., Zur Ukraine-Politik des deutschen Imperialismus, Jena 1969
Nachtigall in Lemberg, in: Spiegel 9/1960; J.G.Reißmüller, Weil Rußland anders ist, in: FAZ, 20.5.92; Osteuropa Nr.6/92, S.521ff
Clemens Range, Die sicherheitspolitischen Verhältnisse zwischen den GUS-Republiken, in: Europäische Sicherheit 1/93, S.45ff
Roger Morgan, Germany in the new Europe, in: The Political Quarterly, Towards a Greater Europe?, Oxford 1992
A. Heinemann, M.Petersen, Die unbekannte Großmacht, in: Blätter 5/1992; Oleg Strekal, Die Ukraine und die NATO, in: Europäische Sicherheit, 2/93, S.84ff
Die neue polnische Ostpolitik, die Ukraine und Weißrußland, in: Osteuropa-Archiv, Oktober 1992 sowie diverse Tages- und Wochenzeitungen.
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