Krieg mit Bildern
oder
Wer lügt gewinnt

Das englische "libel law" ist ein brutales Mittel der Zensur. Thomas Deichmann, Zeuge der Verteidigung im Verleumdungsprozess des englischen Nachrichtensenders ITN gegen das Magazin LM, über erfolgreiche Täuschungen vor, während und nach dem Prozess.

Am 14. März 2000 fällte das "High Court" in London ein brachiales Urteil: Nach elf Verhandlungstagen wurden in einem vom britischen Nachrichtensender Independent Television News (ITN) und seinen beiden Reportern Penny Marshall und Ian Williams angestrengten Verleumdungsprozess der Chefredakteur des britischen Magazin LM (ehemals Living Marxism), Mick Hume, dessen Verlegerin Helene Guldberg und ihr Verlag Informinc (LM) für schuldig befunden und zu Schadenersatzzahlungen von £ 75.000 an ITN und jeweils £ 150.000 an die beiden Reporter verurteilt. Aufgebürdet wurden den Beklagten überdies die Rechtskosten des Klägers - weitere £ 300.000. Angesichts der Gesamtforderungen von umgerechnet über DM 2 Mio. erklärten Mick Hume und Helene Guldberg unmittelbar nach dem Urteilsspruch ihren Bankrott. Eine sofort implementierte einstweilige Verfügung hatte zur Folge, dass LM noch am gleichen Tag einen Grossteil seiner Website (www.informinc.co.uk) schließen musste. Wenige Stunden nach Ende des Rechtstreits erreichte LM ein Brief von ITN mit der Anfrage, wann die Forderungen beglichen würden.

Zensur zum Mieten

Mit diesem Prozess ging ein trauriges Kapitel der modernen Mediengeschichte zu Ende, und möglicherweise wurde damit eine bedrohliche neue Ära eingeleitet. Erstmals nutzte eine mächtige Medienorganisation die im "Mekka der Verleumdungskläger" London als Zensurgesetze bekannten "libel laws", um einen unliebsamen und weitgehend mittellosen Widersacher aus dem Rennen zu werfen. Das arrogante Vorgehen von ITN, bei Gericht vertreten durch Chefredakteur Richard Tait, Penny Marshall und Ian Williams ist ein Schlag ins Gesicht eines jeden Journalisten und eine Warnung für investigative Reporter, die ihre Aufgabe auch darin sehen, gegen den Mainstream zu recherchieren und unangenehme Wahrheiten ans Tageslicht zu befördern.

Auslöser des Prozesses war die Publikation meines Artikels "The picture that fooled the world" in der LM-Ausgabe von Februar 1997. In diesem Artikel, der zuvor in renommierten Blättern in Europa erschienen war und später mehrfach nachgedruckt wurde, hatte ich detailliert aufgezeigt, dass die berühmten ITN-Aufnahmen eines ausgemergelten bosnischen Muslims hinter einem Stacheldraht - aufgenommen im bosnisch-serbischen Lager Trnopolje in Nordbosnien im August 1992 - eine Täuschung waren. ITN und seine Reporter hatten für diese Berichterstattung hoch dotierte Preise erhalten und damit seit 1992 kontinuierlich für die Qualität der eigenen Arbeit geworben. Angesichts wachsender Kritik an der ITN-Berichterstattung in den vergangenen Jahren und sinkender Zuschauerzahlen sollte ein weiterer Imageverlust nunmehr durch den Gang zum High Court verhindert werden. Der Sieg von ITN hinterlässt einen fauligen Nachgeschmack - zu offensichtlich waren die Manipulationsversuche des Mediengiganten.

Unmittelbar nach dem Urteilsspruch setzte ITN seinen PR-Apparat in Bewegung, um die Öffentlichkeit erneut in der Sache hinters Licht zu führen. Die Statements der beiden Reporter und des Nachrichtensenders vermittelten dem uninformierten Beobachter den Eindruck, das Gericht habe befunden, mein LM-Artikel von Februar 1997 sei irreführend gewesen. Das Gegenteil ist der Fall.

ITN-Reporter hinter Stacheldraht

In meinem Artikel von 1997 hatte ich detailliert aufgezeigt, dass es erstens keinen Stacheldraht um das Lager Trnopolje und die gefilmten Muslime herum gab, dass zweitens der Stacheldraht auf der berühmten ITN-Aufnahme zu einem alten Bauhof neben dem eigentlichen Lagergelände gehörte, die britischen Reporter auf diesem mit Stacheldraht umzäunten Grundstück standen und von dort heraus die berühmten Bilder schossen, dass es drittens nirgendwo sonst im Lager Trnopolje einen Stacheldraht gab und dass viertens die Schlussfolgerung, die sich angesichts der berühmten ITN-Aufnahme Politikern und Medien weltweit aufdrängte, Trnopolje sei ein Konzentrationslager ähnlich wie Auschwitz oder Bergen-Belsen gewesen, auf einer Täuschung beruhte.

Die ersten drei Aspekte wurden im Laufe des Prozesses eindeutig bewiesen - vor allem mit Hilfe des unbearbeiteten ITN-Filmmaterials, das mir auch bei meinen Recherchen im Herbst 1996 zur Verfügung stand. Punkt vier war nicht Gegenstand der Verhandlung. Dass Trnopolje kein KZ war, wurde jedoch von keinem der Zeugen bestritten.

Richter Morland wandte sich in seiner Zusammenfassung am vorletzten Prozesstag an die Geschworenen und betonte, dass die Reporter im August 1992 von einem Stacheldrahtzaun umgeben waren:

"Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Aber ist es, nachdem man die unbearbeiteten Aufnahmen und das Bündel mit den Fotografien von Herrn Deichmann gesehen hat, nicht klar, dass vor dem Bürgerkrieg eine Umzäunung den Bereich umgab, in dem sich die Scheune, die Garage und das Stromtransformatorgebäude befanden? Dieser Zaun bestand aus hohen Metallpfosten, an denen oben Stacheldraht und unten Maschenzaun befestigt waren, und hatte ein Tor zur östlich gelegenen Straße. Ian Williams und Penny Marshall und ihre Fernsehteams irrten sich offensichtlich, als sie dachten, dass sie nicht von dem alten Stacheldrahtzaun umgeben waren."

Richter Morland ergänzte an dieser Stelle seiner Zusammenfassung: "Aber tut das etwas zur Sache?" Er wollte damit den Mitgliedern der Jury in Erinnerung rufen, worum es im Verleumdungsprozess ging. Die zentrale Frage, über die die Jury zu entscheiden hatte, war nämlich, ob LM im Zuge des Verfahrens der Nachweis gelungen war, dass die ITN-Reporter absichtlich ein irreführendes Bild im Umlauf gebracht hatten. Der Prozess befasste sich also nicht damit, ob dies geschehen war, sondern ob die Reporter es in der Absicht, die Weltöffentlichkeit zu täuschen, getan hatten. Der Richter formulierte zu Beginn seiner Zusammenfassung zunächst Verständnis für meine investigative Reportage, definierte dann aber  ausdrücklich den Gegenstand des Verfahrens:

"Werte Geschworene, Sie denken wahrscheinlich, dass es für eine demokratische Gesellschaft entscheidend ist, dass Journalisten furchtlose investigative Berichterstatter sind. Sie werden es möglicherweise für außerordentlich wichtig halten, dass sie wahrheitsgetreue und faire Reporter sind. Es ist richtig, dass ein Journalist, wenn er der Auffassung ist, ein anderer Journalist sei unpräzise, unfair und irreführend gewesen, das auch sagen soll. Aber sie mögen denken, dass es in vorliegendem Fall nicht darum geht, ob Penny Marshall oder Ian Williams unpräzise, unfair oder irreführend waren; die Kernfrage in diesem Fall ist, ob die Beklagten den Nachweis erbracht haben, dass Penny Marshall und Ian Williams absichtlich - ich betone dieses Wort 'absichtlich' - irreführende Fernsehbilder zusammengestellt haben."

Nick Hyham, Medienredakteur vom BBC, fasste die Aussage des Richters in einem Nachrichtenbeitrag am Tag der Urteilsverkündung folgendermaßen zusammen: "Der Richter sagte, LM hätte die Tatsachen richtig beschrieben, aber das tue nichts zur Sache."

Die Ausführungen des Richters belegen, welch degoutanter Tricks sich ITN und die beiden Reporter mit ihrer Verleumdungsklage gegen LM bedienten. Sie ermächtigten sich der repressiven englischen Verleumdungsgesetze (libel laws), die in Medienkreisen gefürchtet werden. Sie begründeten die vermeintlich verleumderische Konnotation meines Artikels, eines begleitenden Leitartikels des LM-Chefredakteurs Mick Hume und einer im Januar 1997 zirkulierten LM-Presseerklärung damit, LM habe unterstellt, ITN und seine Reporter hätten in voller und bewusster Absicht die Weltöffentlichkeit betrogen. Zwar bin ich der Ansicht, die Reporter hätten genau wissen müssen, was sie seinerzeit taten. Aber ich habe diesen Aspekt in meinem Artikel nicht hervorgehoben. ITN stellte ihn aber in den Mittelpunkt seiner Klage, weil die ITN-Anwälte Biddle & Co wussten, dass sie so den Verleumdungsprozess nicht verlieren konnten. Da im englischen libel law die Beweislast beim Beklagten liegt (ein weiteres Indiz für die Absurdität dieses Gesetzes), oblag es LM, die böse Absicht der ITN-Reporter nachzuweisen, um den Prozess für sich zu entscheiden. Folglich kam der Urteilsspruch for das LM-Team nicht überraschend. Herausgeber Mick Hume kommentierte: "Wir sollten das Unbeweisbare beweisen."

Gedächtnislücken

LM-Anwalt Gavin Millar arbeitete dennoch akribisch daran, die Jury von der Korrektheit meines Artikels zu überzeugen. Er bemühte sich auch darzulegen, dass sich die beiden ITN-Reporter im August 1992 darüber im klaren gewesen sein mussten, dass sie sich zum Zeitpunkt der berühmten Aufnahmen auf dem mit Stacheldraht umzäunten Grundstück befanden. Doch obwohl das aus den ITN-Bändern eindeutig hervorgeht, konnte sich außer Penny Marshalls Kameramann niemand daran erinnern.

Auf die Frage, wie Ian Williams, der erste Zeuge im Verfahren, von dem eingezäunten Grundstück auf das offene Feld westlich davon gelangte, sagte er zunächst, er sei einfach um die Ecke herum gelaufen. Mit den ITN-Aufnahmen konfrontiert, die an dieser Stelle und entlang der Westseite des Geländes eindeutig den Stacheldrahtzaun zeigen und mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit des von ihm beschriebenen Unterfanges, konnte er sich auch nicht mehr erinnern. Er versteifte sich am Schluss seiner Vernehmung am vierten Verhandlungstag dennoch auf die Behauptung, es sei eine "Lüge", dass die Reporter von Stacheldraht umgeben waren.

Nur wenige Stunden später, bei der Vernehmung des nächsten Zeugen, intervenierte dann aber erstmals Richter Morland und gab zu verstehen, dass er nach mehrfacher Sicht der ITN-Bänder nun davon überzeugt sei, dass genau dies der Fall war. Er ermahnte den ITN-Anwalt, wegen dieser Frage keine Zeit mehr zu verschwenden. Ian Williams' Tontechniker bedeutete daraufhin am nächsten Tag die neue Version, Williams' Team sei irgendwo weiter südlich irgendwie durch den Zaun hindurch auf dieses freie Feld gelangt - möglicherweise durch eine Lücke im Zaun, die auf den ITN-Bändern aber ebenfalls unsichtbar blieb.

Penny Marshall hatte ebenfalls Gedächtnislücken hinsichtlich des besagten Grundstücks. Zwar war es unbestritten, dass sie es an seiner Südseite durch eine Lücke im Stacheldrahtzaun neben einem Stromtransformator hindurch betrat, an der Scheune vorbei lief und das Gelände in Richtung des Stacheldrahtzauns am anderen Ende überquerte - das geht aus den kurzen Sequenzen aus ihrem ITN-Nachrichtenbericht vom 6.9.1992 hervor. Sie konnte sich jedoch ebenfalls weder daran erinnern, dass sie von Stacheldraht umgeben war noch wie sie das Grundstück wieder verlassen hatte.

LM-Anwalt Gavin Millar war bemüht, auch die Aussagen der ITN-Reporter in Frage zu stellen, es wäre ihnen im August 1992 nie in den Sinn gekommen, dass die berühmte Aufnahme des ausgemergelten Muslims hinter Stacheldraht Assoziationen mit dem Holocaust wecken könnte, und dass sie, trotz erster spekulativer Berichte über die mögliche Existenz von "Konzentrations"- und "Todeslagern" im Norden Bosniens, von jeglichem Druck frei waren, das passende Bildmaterial für einen entsprechenden Scoop zu liefern. Millar gelang es zwar immer wieder, die ITN-Mitarbeiter in eklatante Widersprüche zu verwickeln - die Manipulationsabsicht blieb jedoch bis zum Schluss unbeweisbar.

Verschwundene Videobänder und Verteidigungszeugen

Abgesehen von den Gedächtnislücken der Augenzeugen wurde die Beweisführung durch weitere Faktoren erschwert. Zum einen ging im ITN-Archiv ausgerechnet das wichtigste Videoband verloren, dass Penny Marshall auf dem von Stacheldraht eingezäunten Grundstück hätte zeigen können. Lediglich die kurze Sequenz, die im August 1992 in den Nachrichten ausgestrahlt wurde, konnte im Gericht betrachtet werden. Die kompletten unbearbeiteten Bänder blieben unauffindbar. Es wäre sicher aufschlussreich gewesen, zu sehen, wie sich Penny Marshall auf diesem Grundstück bewegte und wie sie die Situation kommentierte. Als erstmals vom verschwundenen Videoband die Rede war, ging ein Raunen durch die Zuschauerbänke im Gerichtssaal.

Das Videoband eines bosnisch-serbischen Kameramanns in Militäruniform, der am gleichen Tag wie Penny Marshall in Trnopolje filmte, konnte den Verlust des ITN-Bandes nicht wettmachen, aber es zeigte dennoch, dass Penny Marshall bereits zwei Männer interviewt hatte, bevor sie die Hand des ausgemergelten Mannes mit nacktem Oberkörper schüttelte und ihn freundlich begrüßte - entgegen ihrer Präsentation in den ITN-Nachrichten und in späteren Interviews. Einer der zuvor Interviewten in blauem Overall stellte sich Marshall als Mehmet vor. Er betonte auf Fragen der britischen Reporter wiederholt, das Lager Trnopolje sei kein Gefängnis, sondern ein Flüchtlingslager, und er fühle sich dort sehr sicher.

Den ITN-Anwälten war es im Vorfeld des Prozesses zum anderen gelungen, die englischen Zensurgesetze dahingehend für sich in Anspruch zu nehmen, dass alle weiteren Zeugen der Verteidigung aus dem Verfahren ausgeschlossen wurden - an prominentester Stelle John Simpson, BBC World Affairs Editor, einer der international renommiertesten Reporter. Auch der angesehene ehemalige Kriegsberichterstatter und Publizist Phillip Knightley, Autor von "The First Casualty", wurde aus dem Verfahren ausgeschlossen, ebenso der Londoner Queens Counsel-Anwalt Steven Kay. Zu guter Letzt wurde auch der Umfang meiner eigenen Zeugenaussage stark reduziert.

Schmierenkampagne

Doch damit nicht genug der faulen Tricks: ITN hatte LM nach Veröffentlichung meines Artikels im Frühjahr 1997 sogar wegen "böswilliger" Verleumdung ("malice") verklagt. Die Androhung einer Klage und die Aufforderung, LM nicht auszuliefern, sondern alle Ausgaben zu vernichten, erreichte die Redaktion einen Tag nach Versendung einer meinen Text ankündigenden Presseerklärung - formuliert und verschickt, ohne dass ITN meinen Artikel gelesen hatte - das musste ITN Chefredakteur Richard Tait im Zeugenstand eingestehen. Zudem wurde in einer ITN-Meldung erklärt, mein Artikel sei unverschämt und falsch. In der folgenden "malice"-Anklage wurden LM und mir eine pro-serbische Propagandaabsicht unterstellt und diese als unehrenwerter Beweggrund für die Veröffentlichung meines Artikels in LM dargestellt. Als angebliche Beweise dafür wurden etliche in LM erschienene Artikel zum Balkankrieg aufgelistet - darunter auch der Auszug eines Interviews, dass ich im Frühjahr 1996 mit dem österreichischen Schriftsteller Peter Handke geführt und LM wie anderen Zeitungen zum Abdruck angeboten hatte.

Die "malice"-Klage öffnete wilden Denunziationen gegen LM und mich als Autor des Artikels Tür und Tor. Gerüchte und impertinente Lügen machten schnell die Runde - z.B. ich sei ein Agent der Serben und hätte Geld von ihnen erhalten. Eine Woche vor Prozessbeginn erhielt ich zum x-ten Mal einen Anruf von einem Reporter (dieses Mal von der britischen Tageszeitung "The Guardian"), der wissen wollte, ob ich mit einer Serbin verheiratet sei. Trotz wiederholter Beteuerungen, dass ich keinerlei solche Verbindungen zu den Serben und für keine Seite der Parteien im Bürgerkrieg in Bosnien Partei ergriffen hatte, hielten sich solche Gerüchte - dank der "malice"-Klage und hysterischer Diffamierungen durch den Guardian-Reporter Ed Vulliamy, der im August 1992 mit den ITN-Reportern die Lager in Nordbosnien besuchte, sowie einiger seiner "Freunde".

Die "malice"-Klage wurde auf Anfrage von Richter Morland am Ende der Verhandlungen von ITN-Anwalt Shields ohne Widerworte fallen gelassen, weil es keinerlei Grundlage für diese konspirativen Verstrickungen gibt und dieser Anklagepunkt deshalb ohnehin nicht hätte aufrechterhalten werden können. Aus meiner Sicht ist nun klar, dass die "malice"-Klage 1997 nur deshalb erhoben wurde, um einer Schmierenkampagne gegen mich und LM den Weg zu ebnen.

Revision der Geschichte

ITN-Anwalt Tom Shields legte während des Verfahrens Wert darauf, die miserablen Zustände im Lager Trnopolje zu betonen. Die Anklage brachte als Zeugen auch einen muslimischen Arzt, der sich im Sommer 1992 unter Zwang der serbischen Wärter um die Lagerinsassen in Trnopolje kümmerte. Er wurde damals auch von Penny Marshall interviewt und übergab ihr heimlich einen Fotoapparat mit einem teilbelichteteten Film, auf dem bosnische Muslime, die von serbischen Wärtern geschlagen und misshandelt worden waren, abgelichtet waren. Der Arzt berichtete im Zeugenstand von Vergewaltigungen und Übergriffen auf wehrlose Zivilisten - Fakten, die von mir niemals bestritten wurden. Seine Aussage war zweifelsohne die bewegendste während des gesamten Verfahrens. Mein Eindruck war jedoch, dass damit lediglich die Jury beeindruckt und ein paar Moralpunkte für ITN eingestrichen werden sollten. LM-Anwalt Millar verzichtete auf ein Kreuzverhör, und die später an mich gerichtete Frage, ob ich dem Arzt widersprechen wolle, verneinte ich.

Mit dieser Zeugenaussage des Arztes und Bemerkungen und Fragen von Tom Shields in die gleiche Richtung sollte der Eindruck erweckt werden, ich wollte Serben, die sich solcher Misshandlungen schuldig gemacht hatten, in irgendeiner Art entlasten. Ähnliches wurde mir schon in den vergangenen Jahren unterstellt - von Journalisten, die auf ihrer Mission zur Rettung der Welt vor dem Bösen ihren eigentlichen Job vernachlässigen und in ihrer moralischen Verblendung in jedem Balkanartikel, der nicht ihrer exzentrischen Geisteshaltung entspricht, einen Angriff auf ihr von Genoziden und Massengräbern geprägtes Weltbild sehen. LM-Herausgeber Mick Hume erklärte während seiner Vernehmung, dass er den Abdruck meines Artikels in LM auch deshalb begrüßte, weil er den so populären Missbrauch der Erinnerung an den Holocaust für moralische und politische Zwecke ablehnt. Durch Vergleiche des Bürgerkriegs in Bosnien mit dem Holocaust würde letztlich die Geschichte des 20. Jahrhunderts umgeschrieben.

Flüchtlingslager oder Gefängnis

Des weiteren bemühte sich der ITN-Anwalt darum, meine Beschreibung des Lagers Trnopolje als Flüchtlingslager, in das sich viele Muslime inmitten eines blutigen Bürgerkriegs begaben, um dort Schutz zu suchen, in Frage zu stellen. Vielmehr sei Trnopolje eindeutig ein Gefängnis gewesen - wie die anderen Lager in Omarska und Keraterm. Das widerspricht etlichen seriösen Berichten wie auch denen von Penny Marshall, Ian Williams und Ed Vulliamy selbst, die im August 1992 das Lager besuchten. Während meiner Vernehmung wurde deutlich, dass Tom Shields zwar mit moralbeladenen Schlagwörtern hantierte, von der Materie selbst - dem Bürgerkrieg in Bosnien - jedoch keine Ahnung hatte.

Trnopolje war sicher ein furchtbarer Ort, aber ebenso sicher war es kein Gefängnis und schon gar kein KZ. Es scheint, dass, je länger der Bosnienkrieg zurückliegt, die Bereitschaft einiger derer, die damals vor Ort waren, wächst, ihre eigene Interpretation der Ereignisse im August 1992 zu revidieren - ohne neue Analysen oder Fakten zu präsentieren.

Seitens ITN wurde in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass sich die Gruppe der bosnisch muslimischen Männer zum Zeitpunkt der Aufnahmen durch den Stacheldraht hindurch nicht frei bewegen und das Lager vor allem wegen der bewaffneten Wärter nicht verlassen konnten. Selbiges habe ich nie behauptet. Vielmehr habe ich darauf hingewiesen, dass diese Männer erst kurz vor der Ankunft der britischen Reporter aus einem anderen Lager gebracht worden waren und nunmehr auf ihre Registrierung und Zuweisung eines Schlafplatzes warteten. Interviews mit diesen Männern auf den ITN-Bändern und Aussagen unabhängiger Beobachter, bestätigten mir diese Darstellung der Situation. In ihrem Fernsehbericht vom 6.8.92 sagte Penny Marshall selbst, diese Männer seien am selben Tag aus einem anderen Lager "freigelassen" und in das "Flüchtlingslager Trnopolje" gebracht worden. Dass Flüchtlinge, wie in meinem Artikel beschrieben, ansonsten das Lager fast jederzeit verlassen konnten, wurde von vielen Quellen bestätigt.

Dass es in Trnopolje im Bereich des Lagers noch andere Zäune gab (niedrigere Maschendrahtzäune, die an das mit Stacheldraht eingezäunte Grundstück anschlossen, niedrigere Metallzäune um das Schulgebäude herum), habe ich in meinem Artikel ebenso akkurat beschrieben und in einer Skizze des Geländes in LM dokumentiert. Ein Stacheldrahtzaun stand einzig um den alten Bauhof mit der alten Scheune.

Damoklesschwert

Dieses eingezäunte Grundstück, auf dem die Reporter standen, lieferte das entscheidende Detail in der berühmten ITN-Aufnahme für deren Interpretation als Beweis für die Existenz von KZs in Bosnien-Herzegowina.

Das einzig Positive an dem Gerichtsverfahren vor dem High Court in London war, dass eindeutig festgestellt wurde, dass nicht das Lager oder die gefilmten Muslime, sondern die Journalisten von einem Stacheldraht umgeben waren und mein Artikel zutraf.

Auf der anderen Seite bedeutet das Urteil aber wohl das Ende von LM, und es hängt jetzt wie ein Damoklesschwert über jedem englischen Journalisten. Mit LM wurde ein freches, anspruchsvolles Magazin mit intelligenten Artikeln gegen den Zeitgeist in den Ruin getrieben. Es bleibt zu hoffen, dass sich andere Medienanstalten und dort arbeitende Journalisten nicht an den ITN-Mitarbeitern ein Beispiel nehmen, sondern an Publikationen wie LM und ihren Machern. Zu hoffen ist auch, dass Bemühungen zur Reform oder gar Abschaffung des englischen libel laws gestärkt werden.

Im Zuge des europäischen Einigungsprozesses wird dieses Gesetz ohnehin keiner Prüfung durch die Europäische Menschenrechtskommission standhalten. Von einem amerikanischen Gericht wurde bereits einmal die Unterstützung bei der Vollstreckung eines "libel"-Urteils verweigert, weil dieses englische Gesetz dem freiheitlichen Grundtenor der amerikanischen Verfassung widerspricht.

Richard Tait, Penny Marshall und Ian Williams sollten sich für die Prozessführung und ihre anhaltenden Manipulationsversuche schämen.


Thomas Deichmann ist freier Journalist und Novo-Chefredakteur. Buchveröffentlichungen als Hg.: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, Frankfurt/M. 1999; mit Klaus Bittermann: Wie Dr. Joseph Fischer lernte, die Bombe zu lieben, Berlin 1999. Ein Beitrag zum Kosovo-Krieg ist soeben erschienen in Klaus Bittermann (Hg.): Meine Regierung. Vom Elend der Politik und der Politik des Elends. Rot-Grün zwischen Mittelmaß und Wahn, Berlin 2000. In Novo45 ist von ihm erschienen "Scharping-Lügen haben kurze Beine".


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