Pop wird nicht erfunden, Pop wird gestohlen. Meistens jedenfalls. Und Pop-Legenden sind nichts anderes als Räubergeschichten und Geschichten von Räubern, die posen und dissen und ihre große Räubergeschichte erzählen und erklären, welch große Emotionen bei den Piratenakten im Spiel sind und wie das alles mit einem total echten Leben zusammen hängt. Denn etwas Gestohlenes ist nicht weniger schön und nicht weniger wahr. Es klebt nur mehr Blut dran.
Zum Beispiel das des weißen Rappers Eminem, der drauf und dran ist, den kürzesten Weg von einem Detroiter Club-Act zum Weltstar zu schaffen. Anders als die Beastie Boys oder gar der fürchterliche Vanilla Ice hat er den Rap nicht den afroamerikanischen Musikern gestohlen, wie seine Urgroßväter ihnen den Jazz, seine Großväter den Blues und seine Väter den Funk gestohlen haben: die Allianz der weißen Mittelstandskids, die immer wieder neue Wege
fanden, sich an der "Authentizität" und der Aggressivität der schwarzen Musik zu berauschen, und einem Business, das immer wieder Wege fand, jeden
rebellischen Impuls in die eine oder andere Mainstream-Veranstaltung zu
verwandeln. In Geld, um genauer zu sein. Eminem, das gehört zu seiner
Legende, ist kein neuer Vanilla Ice, kein synthetisches Industrieprodukt, mit dem auf eine Lücke im Angebot reagiert wird. Eminem ist echt. Er ist vielleicht auch echt krank. Jedenfalls echt. Keiner der die Provokation inszeniert und kalkuliert wie Marilyn Manson. Eminem hat seinen Pop dem eigenen Leben gestohlen. Was immer noch das Beste ist, was man tun kann, wenn einem die Gesellschaft sonst keinen Ausweg offenhält.
Rap entstand als erneute Beschleunigung und Erweiterung der funky music
in der schwarzen Kultur. Zunächst war da die Kunst der DJs
(discjockeys) an zwei turntables die Musik von
verschiedenen Platten miteinander zu verschmelzen, das Repetitive mit dem
heftigen Effekt im scratching zu verbinden. Dann kamen
Sprecheinlagen der DJs hinzu, am Anfang vor allem als Begrüßungen neuer
Gäste nach dem call and response-Schema. Als diese verbale
Verlängerung wichtiger und komplexer wurde, wurde ihre Aufgabe auf einen
zweiten Performer, den MC (Master of Ceremony) übertragen. Der MC entwickelte seine Kunst des schnellen, reaktiven Reimens (End- und Binnenreime gleichberechtigt) nach dem greeting vor allem in drei Sparten: Im posing stellte er sich selbst als den größten, schönsten und besten Rapper, Liebhaber und Kämpfer vor. Beim dissen (abgeleitet von disrespect) geht es darum, jemanden mit allen
verbalen Mitteln niederzumachen. Aber dann entwickelte sich auch so etwas
wie ein story telling, was am ehesten zu einer Art
dreidimensionalen Blues wurde: Hörbilder über die Straßenwirklichkeit im
Ghetto, Geschichten von Sex und Gewalt, und schließlich politische Texte.
Heftig modern in den Collage-Techniken und der Selbstreflexion, urban in
der Musikalisierung des Lärms auf den Straßen und aus den Radios. Und
barbarisch in der Feier des (männlichen) Überlebenskämpfers, der neben der
Polizei und dem Konkurrenten vor allem Frauen und Schwule hasst.
In den MC-Battles lieferten sich Rapper im improvisierten
freestyle musikalische und verbale Duelle. Am wenigsten erinnerte
man sich dabei einer der Wurzeln des Rap in der afroamerikanischen Lyrik
mit Musik-Begleitung, deren Vertreter einigermaßen empört auf die
Vulgarität, die unreflektierte Gewalt und nicht zuletzt auf das rasch
wuchernde kommerzielle Drumherum reagierten. Als das Ganze zum Genre
geworden war und mit Kurtis Blow und Grandmaster Flash die ersten auch
international zu vermarktenden Stars hervorgebracht hatte, differenzierte
sich die Szene aus: Old School, New School, Hip Hop,
Gangsta-Rap undsoweiter. Während in Europa besonders die Kultur der
métissage auf das Ghetto-Idiom reagierte, andere Gruppen das
story telling aber auch zum Anekdotischen verflachten, blieb in
den USA das Genre schwarz. Versuche der Industrie, weiße Rap-Stars
aufzubauen, um sich ein weiteres Segment des ohnehin ausgeprägten Marktes
an weißen Käufern zu sichern, scheiterten. Man versuchte den
Mittelstandskids in den weißen Vorstädten zu geben, was man so glaubte,
dass sie brauchen: eine Mischung aus dem Zorn des Rap und den role
models der Boy Groups.
Der weiße
Rapper als junger Mann
Die Antwort aber lag ganz woanders.
Sie lag in der Darstellung eines weißen low life, dem sich bis
dahin, wenn überhaupt, dann in heroisierender Weise das Country &
Western-Genre und in einer fatalistischen Weise der Grunge Rock gewidmet
hatten. Ansonsten hatte sich der Jugendliche im White Trash an
der schwarzen Subkultur beteiligt, was nie ohne wechselseitige Spannungen
ablief. Im schwarzen Ghetto konnte sich der Jugendliche in seinem sozialen
und kulturellen Elend einfinden und einen besonderen Stolz entwickeln. Man
war arm und gedemütigt, weil man schwarz war. Und daraus konnte sich eine
paradoxe Aristokratie des Ghettos entwickeln. Im White Trash, oft
nur durch eine Straße von den schwarzen Ghettos in den amerikanischen
Großstädten getrennt, war man indes arm, obwohl man weiß war. Man war
nicht als race oder als culture "elend", sondern als
Einzelner ein Versager. Im White Trash gibt es kaum die
Solidarität von community und hood (von
neighbourhood), keinen gegenkulturellen Code, keine Kultur des
trotzigen Stolzes. Die einzige Hoffnung war immer nur das, was zugleich
die schiere Hölle war: die Familie.
Ein typisches White
Trash-Leben, wie man es sich nur in einer strukturell rassistischen
Gesellschaft vorstellen kann: Als Marshall Mathers noch ein Kind war,
machte sich der Vater, der zwischen Maloche und den Auftritten einer
unbedeutenden, aber tourfreudigen Rock´n´Roll-Gruppe pendelte, aus dem
Staub. Oder er wurde von der Mutter hinausgeworfen, wie man´s nimmt. Immer
am Rand der Armut, immer auf der falschen Seite der Straße zog Debbie
Marshall ihren Sohn von einem heruntergekommenen Appartement in die
nächste Wohnwagensiedlung. Alkohol, vielleicht Drogen, Zusammenbrüche und
Kerle, die selten länger als eine Nacht blieben. Marshall Mathers
wechselte von einer Schule zur anderen, und wurde verprügelt, hier weil er
klein und schmächtig war, und dort, weil er nicht schwarz war, wie die
meisten seiner Freunde. Er las Comics und hasste den Rest der Welt. Er
nahm Drogen und hatte eine Freundin namens Kim, mit der sich die Mutter
gar nicht vertrug.
Die beiden waren noch nicht mal 20 und konnten
schon nicht mehr zwischen Hass und Liebe unterscheiden. White
Trash, the next generation. Die Neuauflage von John &
Yoko, Sid & Nancy, Kurt & Courtney - das reine Desaster. Während
Marshall ohne großen Erfolg als Rapper auftrat - und dabei so etwas wie
den umgekehrten Rassismus der black community erlebte: ein
wigga, white nigger, ein weißer Junge, der fühlen und
wirken wollte wie ein Schwarzer, davon gibt´s genug -, bekam Kim ein Kind,
und die Sorgen vermehrten sich um die Notwendigkeit, wenigstens ein paar
Pampers zu besorgen. Das bisschen Geld, mit dem man gerade überleben
konnte, verdiente sich Marshall Mathers in einem Imbissladen. Und lernte
es ansonsten, gegen die geballte Aggression des schwarzen Publikums seine
MC-Fähigkeiten vorzutragen. Indem er sich seine Lebenswut aus dem Hals
schrie.
Irgendwann geschah das Wunder, ohne das niemand diese
Geschichte erzählt hätte. Dr. Dre, als Produzent und Mitglied von
Niggaz With Attitude eine der wichtigsten Figuren im
Gangsta-Rapp, erkannte das Talent des weißen Jungen, der sich M&M, wie
das Schokozeug, nannte, und riskierte es, selber von der
community angefeindet zu werden. Weiße Jungen bringen´s nicht.
Und damit basta. Die alte Frage: Können Weißärsche den Blues spielen? Und
Eminem brachte es wirklich nicht, sein Rap war vielleicht gewitzt und
authentisch, aber zu sanft und zu wenig politisch. Auf dem Klo, das gehört
zwingend zur Legende, fiel Eminem (statt einem süßlichen M&M nun) der
Name eines anderen Ichs ein, in das er sich erst mal für sich und seine
Reime verwandeln konnte, wie David Bowie, der ja nicht einmal David Bowie
war, in Ziggy Stardust, Frank Zappa in Bobbie Brown. Eminem, der ja nicht
einmal Eminem war, verwandelte sich in einen miesen Kerl namens Slim
Shady.
Slim Shady kotzte und schrie und heulte alles heraus, was ein zwanzigjähriges Leben im White Trash hergab: Hass auf alle, die einem das Leben schwer gemacht haben, angefangen bei dem Kerl,
der einen auf dem Schulhof verprügelt hat, über die Frauen, die es nie
ehrlich meinten, bis zu den Kritikern, die keine Ahnung hatten. Das war
eine neue Form des Dissens, zeige deine Wunden und spuck´ drauf, und
Eminem alias Slim Shady blieb dabei nicht stehen: Er rappte die
Mordphantasie an seiner Frau und schleppte dazu die gemeinsame Tochter ins
Studio und mischte ihr Kinderlachen zu der Schilderung der Beseitigung der
Leiche. Er schilderte seine Mutter als drogensüchtiges Arschloch. Er baute
jede beschissene Einzelheit eines White Trash-Lebens in seine
Texte ein und widmete gleich wieder ein Stück den assholes und
motherfuckers, die ihm bei der Produktion der aktuellen LP Ärger
bereitet hatten. Und er nannte alle beim wirklichen Namen. Das war Eminems
Opfer und sein Erfolg. Die schwarzen Idole seiner Musik konnten von ihrer
gemeinsamen Unterdrückung erzählen, von den Schandtaten der Polizei, von
der Subversion des Verbrechens. Für einen aus dem White Trash
blieb nur das eigene, höchst persönliche Leben als Material. Und als
Verkaufsargument - Brechts Seeräuber-Jenny hätte etwas dazu zu sagen
gehabt.
Eminem machte das Rap-Idiom zu einer fundamental subjektiven und autobiografischen Angelegenheit. Aber er machte das so radikal und rücksichtslos, dass es auf eine unerwartete Weise wieder politisch wird. Eminems Rap ist der hysterische und hasserfüllte Offenbarungseid für jede rassistische Überlegenheitsphantasie des weißen
Mainstream. Und dies, vielleicht mehr als seine kranken, sexistischen,
gewalttätigen und drogenverseuchten Texte, bringt das Establishment auf
die Palme. Übrigens nicht nur das weiße. Denn auch der schwarze
Kleinbürger kann, wenn er es nicht geschafft hat, nicht so ohne weiteres
in die Ghetto-Kultur zurück. Dann wird aus ihm black White
Trash, der, vielleicht, mit anderen Augen auf den wigga
sieht. Eminem ist zugleich Ausdruck und Erosionssymptom einer
Gesellschaft, deren Rassismus von der Vertikalen in die Horizontale
rutscht. Die Rassen und Kulturen leiden nicht mehr allein untereinander,
sondern vor allem nebeneinander.
Die zweite
Frage des Pop
Eine Slim Shady EP, und dann eine Slim
Shady-LP mit Dr. Dre als Produzent machten die sensationelle Furore, die
wir kennen. Der Künder der Authentizität weigerte sich, seinen sozialen
Ort Detroit und sein soziales Umfeld zu verlassen. White Trash
vergoldet. Eminem ging mit einer Pistole auf einen Mann los, mit dem sich
seine Frau freundschaftlich getroffen hatte, und wurde verhaftet. Nach
einem Selbstmordversuch ließ sich Kim von Marshall Mathers scheiden.
Unterdessen verklagte die eigene Mutter Eminem auf ein Dutzend Millionen
Dollar Schmerzensgeld. Auch sein Vater tauchte wieder auf und wurde von
ihm öffentlich beschieden: Piss off! White Trash with an
attitude! Auf die Slim Shady-LP folgte die Marshall Mathers-LP, die
erfolgreichste weiße Rap-Platte, die Mister Hyde, Slim Shady, auf der
Suche nach dem Dr. Jekyll zeigt, den White Trash-Poeten, der
respect paradoxerweise nur solange erhält, so lange er seinen
Hass darüber, dass man ihn ihm versagt hat, am Kochen halten kann.
Ob wir Eminem, Slim Shady oder Marshall Mathers nun glauben oder
nicht - was seine Musik anbelangt, kann man es durchaus tun -, die große
Geste der hasserfüllten Selbstentäußerung, mit der allein er sich als
Weißer in die schwarze Musik/Poesie einschreiben konnte, führte dann doch
wieder zu einem gleichzeitigen Akt von kapitaler Piraterie und
Mainstreaming. Eminem hatte sich zwar, mehr oder weniger, in der schwarzen Szene von Rap und Hip Hop respect verschafft, seinen ökonomischen Erfolg sichern einmal mehr die middle class kids, die sich mit seinen familiären und sexuellen Hassausbrüchen identifizieren konnten.
Eminem, der respect bei den Schwarzen erzielen wollte, indem er
seinen disrespect dem fucking life im White Trash
bekundete, wurde von den frustrierten kleinen Schwestern jener
Mädchen adoptiert, die noch bei den Back Street Boys in Ohnmacht gefallen
waren.
No black music, no white music. But fight music.
Das ist die zweite Frage des Pop: Ist der Erfolg von jemandem wie Eminem
noch Teil einer wenigstens angedrohten Revolte oder schon Teil ihrer
Niederschlagung?
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