Warum die Ukrainer Ukrainer sind

von Roman Szporluk (Eurozine, 17.09.2002)

Roman Szporluk kommentiert Mykola Riabchuks Thesen zur politischen "Ambivalenz" der Ukraine. Die Spaltung des Landes zwischen östlicher und westlicher Ukraine muss auch in einen historischen Kontext eingebettet werden, argumentiert Szporluk. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Ostblock Staaten existiert die Ukraine als unabhängiger Staat erst seit 1991. Eine Zivilgesellschaft aufzubauen, die linguistische und politische Spannungen überbrücken kann, benötigt jedoch mehr Zeit.

Mykola Riabchuk diagnostiziert "Ambivalenz" als ein soziales und politisches Syndrom, das die ganze Ukraine erfasst und eine pervertierende Auswirkung auf ihre politische Entwicklung hat. Zum einen führt er diese Ambivalenz auf die regionalen, kulturellen und sprachlichen Trennlinien zurück, die das Land durchziehen, zum anderen betrachtet er sie als Produkt der "Atomisierung der ukrainischen Gesellschaft durch den sowjetischen Totalitarismus". Einen Beleg für seine These sieht er im Ausgang der ukrainischen Parlamentswahlen im Frühjahr dieses Jahres.

Das Problem, das ich mit seiner Darstellung habe, liegt vor allem in der Vagheit der von ihm konstatierten Ambivalenzen selbst. Es gibt bei ihm mehrere Ambivalenzkategorien, etwa Europa vs. Sowjetismus, Osten vs. Westen, Demokratie vs. Oligarchie, und mir ist nicht ganz klar, inwieweit sie sich überschneiden. An manchen Stellen sieht es so aus, als stünden für Riabchuk die ukrainischsprachigen Westregionen wie L'viv für westliche Werte, während das russischsprachige Donetsk die Sowjettradition und die Bindung an Russland verkörpert. An anderer Stelle freilich verwirft er diese Dichotomie, indem er eine "dritte Ukraine" einführt, die er aber an keiner Stelle erklärt. In diesem Zusammenhang finde ich es merkwürdig, dass Kyiv, die Hauptstadt der Ukraine, überhaupt nicht erwähnt wird, obgleich diese Stadt in entscheidender Hinsicht als sehr "westlich" gelten kann, fiel doch hier die Wahl ähnlich wie in L'viv aus, in anderer Hinsicht jedoch wieder sehr "östlich" ist, insofern man hier dieselbe Sprache spricht wie in Donetsk. Man kann durchaus behaupten, dass Kyiv die Zukunft einer Ukraine vorzeichnet, in der man für die Unabhängigkeit des Landes und für eine Demokratie westlicher Prägung sein kann, ohne die Präferenz für die russische Muttersprache aufzugeben. Von besonderer Bedeutung ist dabei für mich die Tatsache (der Riabchuk im übrigen wenig Aufmerksamkeit schenkt, obwohl er sie erwähnt), dass Donetsk wie L'viv ungeachtet all ihrer Unterschiede darin einig sind, dass sie sich als Teil der Ukraine sehen und somit Kyiv als ihre gemeinsame Hauptstadt anerkennen.

Riabchuk macht für den derzeitigen Zustand der Ukraine hauptsächlich die "herrschende Elite" verantwortlich, die er an anderer Stelle "Nomenklatura" oder "postsowjetische Oligarchie" nennt und der er ein ausgemachtes Interesse daran zuschreibt, "den Zustand äußerster Zersplitterung, Verwirrung und Entfremdung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Sie unternimmt alles, um eine von unten, von den Bürgern kommende demokratische Entwicklung im Lande zu unterbinden, denn das würde sie dem objektiven (und fairen) Wettbewerb politischer Konkurrenten aussetzen und am Ende den Verlust ihrer politischen Macht und ihrer machtgestützten ökonomischen Privilegien zur Folge haben." Im Falle der Ukraine scheint mir jedoch die Beziehung zwischen der Gesellschaft, der Bevölkerung einerseits und der Elite andererseits weitaus weniger simpel und durchaus "ambivalenter" zu sein, als der Autor anzunehmen scheint.

Zwar spricht Riabchuk mit einigem Recht von einer "Zersplitterung" der Gesellschaft als Folge des sowjetischen Totalitarismus, versäumt es aber, die Tatsache gebührend zu würdigen, dass in der Sowjetära Städte wie L'viv und Donetsk zum ersten Mal in der Geschichte ein und demselben Lande angehörten. Unter den postkommunistischen Ländern zählt die Ukraine zu jenen, die ihre politische Unabhängigkeit zeitgleich mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems erlangten. Während aber Länder wie Lettland, Litauen und Estland - ganz zu schweigen von Polen oder Ungarn - bereits als unabhängige Staaten bestanden, als sie kommunistisch wurden, entstand die Ukraine als einheitliches administratives und dann politisches Gebilde erst während der Zeit des Kommunismus. Als unabhängige, nichtkommunistische Nation existierte die Ukraine nach 1917 nur kurzzeitig und mit Unterbrechungen und erstreckte sich zu keinem Zeitpunkt über das Staatsgebiet der heutigen Ukraine. Moskau beschloss 1918 gegen den Protest lokaler bolschewistischer Führer den Anschluss des Donbas an die Ukrainische Sowjetrepublik. In der Folge wurden das zunächst österreichische und dann unter polnischer Herrschaft stehende Galizien, das ehemalige ungarische und tschechoslowakische Transkarpatien sowie die ehemals österreichische und dann rumänische nördliche Bukowina eingegliedert. Die Krim wurde der Ukrainischen Sowjetrepublik erst 1954 eingegliedert. Vor der Machtübernahme durch die Kommunisten waren der größte Teil des Territoriums und der Bevölkerung der Ukraine ein integraler Bestandteil des Russischen Reiches: westlich des Dnjepr für über ein Jahrhundert und im Osten noch viel länger.

Wenn man sich diese Fakten und insbesondere den letztgenannten Umstand vor Augen führt, dann wird verständlich, dass, wie Mykola Shulha schreibt, der Zerfall der Sowjetunion und die Entstehung der neuen, unabhängigen Nachfolgestaaten für Millionen sowjetischer Bürger und vor allem (aber nicht ausschließlich) für die Bürger russischer Nationalität eine tiefgreifende persönliche wie kollektive Identitätskrise auslöste. Bekanntlich zeigen Meinungsumfragen in der Ukraine, aber auch in anderen Ex-Sowjetrepubliken, dass die Sowjetunion für nicht wenige Menschen nach wie vor die "imaginierte Gemeinschaft" ist (um Benedict Andersons berühmten Ausdruck zu gebrauchen), während andere erklären, sie fühlten sich einer bestimmten Region oder Provinz zugehörig. Lediglich ein Bruchteil der Gesamtbevölkerung schenkt seine Loyalität eindeutig und vorwiegend dem neuen Staat. Aus Shulhas Umfrage ergibt sich, dass bei den Antworten auf die Frage, ob man sich in erster Linie mit den Bewohnern seiner Region, mit der Ukraine, der Sowjetunion oder "Europa" identifiziere, zwischen den einzelnen Regionen der Ukraine und ebenso zwischen ethnischen Russen und ethnischen Ukrainern deutliche Unterschiede bestehen. (1).

Wenn Riabchuk also von der Zersplitterung der ukrainischen Gesellschaft infolge des sowjetischen Totalitarismus spricht, dann sollten wir darüber die integrierende Wirkung nicht vergessen, die das Sowjetsystem für die Ukraine gehabt hat, denn weder 1914 noch 1939 oder 1945 hat es eine integrierte "ukrainische Gesellschaft" gegeben, die sich über das Territorium der heutigen Ukraine erstreckt hätte.

Das führt uns zu der Frage, wie die Elite und ihr bisheriges Tun zu beurteilen sind. Riabchuks Kritik ist berechtigt, aber es gibt noch etwas anderes, an das man sich erinnern sollte, wenn man ein Urteil über diese Gruppe fällt. Bis 1991 war die ukrainische Elite eine regionale Unterabteilung oder ein Zweig der gesamtsowjetischen Elite oder Oligarchie. Es war diese ukrainische Elite, die dann den Weg zur Unabhängigkeit der Ukraine ebnete unter Wahrung der territorialen Integrität innerhalb der während der Sowjetzeit geschaffenen Grenzen. Weil diese Gruppe gegenüber Moskau gewissermaßen zu einer Gegenelite wurde, schuf sie für die Ukraine die Möglichkeit einer friedlichen Loslösung von der Sowjetunion.

Diese ehemals sowjetische, nun aber als ukrainische wiedergeborene Elite war ihrer ethnischen Zusammensetzung zu einem großen Teil russisch; noch mehr galt das für ihre Sprache. Heute ist sie ukrainisch und russisch. Ihre Mitglieder verwandelten sich aus einer untergeordneten Provinzelite in die Elite eines unabhängigen Staates. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit zerfiel diese Elite nicht in rivalisierende Fraktionen von Ukrainern und Russen, was zu einem Zerfall des Landes hätte führen können. Nach Andrii Zorkin haben sie es sogar verstanden, dem Versuch der Krim-Elite zu begegnen, sich von Kyiv abzuspalten. Nach jahrelangem Hin und Her akzeptierte man den Status einer Kyiv untergeordneten Region(2). Es ist wahr, die Bewegung für die Unabhängigkeit der Ukraine wurde in den westlichen Landesteilen initiiert und stieß dann in Kyiv und in der Zentralukraine auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung; gleichwohl kann man wohl mit Recht behaupten, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit im Rahmen ihrer sowjetischen Grenzen nicht erlangt hätte ohne die Unterstützung ihrer Parteielite, der Nomenklatura oder, wie man heute gerne sagt, der "Oligarchen". Sie haben nicht nur ihre Loyalität gegenüber Moskau in einem kritischen Augenblick aufgekündigt, sie haben auch, gleich ob ukrainischer oder russischer Herkunft, die zwischen ihnen bestehenden regionalen und ethnischen Gegensätze überwunden und das Land zusammengehalten. Wenn man daran denkt, was mit Jugoslawien geschah, dann ist das keine geringe Leistung. Ich bleibe daher bei dem, was ich 1994 geschrieben habe:

"Es ist wichtig festzuhalten, dass die im August 1991 ausgerufene unabhängige Ukraine sich nicht als ethnischer Staat definiert hat. Sie stellte eine Rechtsordnung dar, eine territoriale und rechtliche Einheit, welche die Nachfolge der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik antrat. Ihre Bürger waren unterschiedlicher ethnischer Herkunft und sprachen mehr oder weniger ukrainisch und russisch, aber auch noch andere Sprachen. Der neue Staat erklärte, dass alle Macht vom ðVolk der UkraineÐ ausgehe. Damit übernahmen und adaptierten die Staatsgründer den Begriff des "Sowjetvolks", das, wie die offizielle Linie gelautet hatte, aus Menschen unterschiedlicher sprachlicher und ethnischer Herkunft bestand. Gleichwohl hatte diese Vorstellung, wenngleich in etwas modifizierter Form, auch eine authentisch ukrainische Wurzel: Sie war in der ukrainischen Nationalbewegung der 60er und 70er Jahre formuliert worden, als ukrainische Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten die Idee vertraten, dass alle Menschen, die in der Ukraine leben, auch deren Bürger seien(3)."

Jetzt, acht Jahre später und mehr als zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, lauten die wichtigen Fragen: Ist die Ukraine heute mehr zu einem eigenständigen Land geworden, als sie es 1991 war? Sind ihre Gesellschaft, ihre Menschen, ist die Nation weniger "ambivalent", weniger "zwiespältig", weniger "unentschieden" als damals?

Wenn man sich die grundlegenden Tatsachen der sowjetischen - und der vorsowjetischen - Erfahrung der Ukraine in Erinnerung ruft und vor diesem Hintergrund den Übergang von der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu einem unabhängigen Staat, dann muss die Antwort "ja" lauten. Die Wahlen von 2002 zeigen einen Fortschritt, nicht einen Rückschritt im Aufbau der Zivilgesellschaft. Daher stimme ich James Sherr zu, der in diesen Wahlen im Vergleich zu denen von 1998 eine "signifikante Verschiebung" ausmacht: "die Transformation der Reformisten von einer regionalen zu einer nationalen Kraft und eine starke Erosion der Unterstützung der Linken." Nach Sherrs Beurteilung sind die "regionalen Diskrepanzen zugleich dramatisch und im Rückgang begriffen", wobei im Vergleich zur 1998 hauptsächlich in der Region an der westlichen Grenze verankerten Partei "Ruch" jetzt "ein breitgefächerter nationaler Block, dessen Unterstützung bis an die russische Grenze reicht", entstanden ist. "Das bedeutendste Resultat dieser Wahlen ist diese Verschiebung und nicht, was die lokalen und regionalen Behörden getan haben." Sherr weist auch darauf hin, dass, "obgleich die Zivilgesellschaft nach wie vor eine kleine Minderheit darstellt, sie nicht länger auf die Intellektuellen beschränkt ist, sondern eine ðMassenÐ-Basis hat". Hinzufügen könnte man noch, dass die Wahlen ebenfalls belegen, dass es unter der postkommunistischen Elite Befürworter der Demokratie gibt, diese Elite also alles andere als ein Monolith ist (woher kommen schließlich die politischen Führer des demokratischen und prowestlichen Lagers, einschließlich Juschtschenkos?). Daher ist Sherr zuzustimmen, wenn er bemerkt, dass "das Wachsen des Bürgersinns den Graben zwischen Staat und Gesellschaft vertieft und zugleich Reibungspunkte innerhalb des Staates erzeugt und damit dort eine Evolutionsdynamik schafft(4)".

Das heißt noch nicht, dass die Ukraine von heute ein demokratischer Staat wäre oder eine moderne Nation. Einer der Gründe, warum die Ukraine nicht wie Polen oder Ungarn ist, ja nicht einmal wie Rumänien oder Bulgarien, liegt darin, dass ihre Zivilgesellschaft sich erst noch als auf nationaler Ebene agierende Kraft organisieren muss, von L'viv und Uzhorod im Westen bis nach Donetsk und Luhansk im Osten, entsprechend dem Machtbereich von Staat und herrschender Elite. Jenen, die meinen, dass Staaten mit sprachlichen und kulturellen Unterschieden zum Auseinanderbrechen verurteilt sind, soll man mit George Schöpflin entgegenhalten, dass Nationen "politisch" (civic) und "ethnisch" zugleich sind und dass insbesondere "die sogenannten großen politischen Nationen (...) auch eine ethnische Identität besitzen; nur dass diese jeweils dem Staat und der Staatsbürgerschaft bzw. Zivilgesellschaft untergeordnet ist." Auf die Ukraine angewendet heißt das, dass ihre ethnischen Russen das Recht haben, ihre eigene Sprache frei zu gebrauchen, ihre Kultur zu erhalten und eine nichtpolitische Bindung an Russland zu pflegen, und dass sie als vollgültige Mitglieder einer ukrainischen Nation zu betrachten sind (und sich selbst als solche betrachten), welche politisch und kulturell zugleich ist(5). Die Erbauer einer demokratischen und prowestlichen Ukraine sind gut beraten, die Lehren von 1991 zu beherzigen, die Schöpflins These bestätigen, dass "Nationalität eine interaktive [meine Hervorhebung] Kombination von Prozessen ist, welche Ethnizität, Staat und Staatsbürgerschaft einschließen. Alle diese Elemente sind an der Schaffung von Identität beteiligt(6)." Regionale, ethnische und sprachliche Differenzen dürfen nicht über das Engagement für eine inklusive Staatsbürgerschaft, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit obsiegen. Bürger und Politiker müssen sich gegen alle Versuche zur Wehr setzen, politische Orientierungen - ob für Demokratie oder Sowjetismus, ob für "Europa" oder "Eurasien" - mit einer regionalen, linguistischen oder ethnischen Gruppe zu identifizieren.

1) Mykola Shulha, "Nationale und Politische Marginalisierung unter den Bedingungen der Systemkrise" (ukr.), in: Sotsiolohiia: teoria, metody, marketynh (Kiev), Nr. 1 (2002), S. 5-20. Was George Schöpflin über Mittelosteuropa sagt, gilt nicht weniger für die Ukraine: "Der Kommunismus (...) funktionierte auf der konkreten Ebene. Zu seinen Residuen gehört, dass die Menschen zumindest einen Teil ihrer Identität über den Kommunismus bezogen, ob unmittelbar oder in Absetzung gegen ihn. Öffentliche Anerkennung beispielsweise, Karrieremuster oder intellektuelle Leistung waren in der einen oder anderen Form an kommunistische Institutionen gebunden." (George Schöpflin,Nations, Identity, Power: The New Politics of Europe, London 2000, S. 167.)
2) Andrii Zorkin, "Einige Aspekte der Elitenbildung in der Ukraine und auf der Krim", in: Sotsiolohiia: teoria, metody, marketynh (Kiev), Nr. 1 (2002), S. 202-211.
3) "Reflections on Ukraine after 1994: The Dilemmas of Nationhood", Erstveröffentlichung 1994, Nachdruck in: Roman Szporluk, Russia, Ukraine, and the Breakup of the Soviet Union, Stanford 2000, S. 327.
4) James Sherr, "Ukraine's Parliamentary Elections: The Limits of Manipulation", Occasional Brief, Conflict Studies Research Centre, UK Defence Academy, April 2002.
5) Entgegen weitverbreiteten irrigen Auffassungen war es die unterschiedliche historische und politische Erfahrung der Ukraine und nicht die Sprachdifferenz zwischen dem Ukrainischen und dem Russischen, auf welche sich die Befürworter einer von Russland unabhängigen ukrainischen Nation stützten. (Vgl. Ivan L. Rudnytsky, Essays in Modern Ukrainian History, Cambridge/Mass., Harvard University, Ukrainian Research Institute, 1987, passim). In meinem eigenen Artikel, "Ukraine: From an Imperial Periphery to a Sovereign State", schrieb ich: "Die Ukrainer arbeiteten bewußt und energisch an der Schaffung einer gemeinsamen Sprache; der österreichische Westen nahm sich dabei östliche Autoren zum Vorbild. Dennoch wird das Verhältnis zwischen Sprache und Nationalität immer wieder missverstanden. Die Ukrainer in Russland und in Österreich wurden keine Nation, weil sie dieselbe Sprache hatten, vielmehr gelangten sie dazu, dieselbe Sprache zu sprechen, weil sie sich dazu entschlossen hatten, eine Nation zu bilden. Stützen konnten sie sich dabei auf Mykhailo Hrushevskys größte Leistung: seine Synthese der ukrainischen Geschichte." (Szporluk, Russia, Ukraine, and the Breakup of the Soviet Union, a.a.O., S. 386.)
6) George Schöpflin, Nations, Identity, Power, a.a.O., S. 4f. Diesen drei Faktoren könnte man einen vierten hinzufügen: den ökonomischen. Er findet sich bereits bei Iulian Bachynsky in seiner Ukraina irredenta, zuerst 1895 erschienen und hier nach der 3. Aufl., Berlin 1924 (Vydavnytstvo Ukrainskoi Molodi), S. 95, zitiert: "Der Kampf um die politische Unabhängigkeit der Ukraine geht nicht nur die ethnischen Ukrainer an, sondern alle, die in der Ukraine leben, gleich ob sie einheimische Ukrainer sind oder Kolonisten: Großrussen, Polen, Juden oder Deutsche. Ihr gemeinsames Interesse wird sie ukrainisieren, wird sie dazu zwingen, ukrainische ðPatriotenÐ zu werden." Dieses Szenario mag damals und auch für das folgende Jahrhundert unrealistisch gewesen sein; für die Ukrainer des 21. Jahrhunderts kann es vielleicht als Anregung dienen.


zurück zu Sonnenblumen und schwarzer Ginster

heim zu Reisen durch die Vergangenheit