Die Fünf-Minuten-Prozesse in Russland

Aus Kriegsgefangenen werden Kriegsverbrecher

aus dem Archiv der Deutschen Zeitung gerettet von Dikigoros

Ende 1949 hatte die Sowjetunion die meisten deutschen Soldaten,die ihr während des Krieges und nach der Kapitulation der Wehrmacht in die Hand geraten waren, zurück geschickt. Am 5. Mai 1950 veröffentlichte der Kreml eine Mitteilung, in der es hieß, daß die letzte Gruppe der Kriegsgefangenen nach Deutschland zurückgeführt worden sei:

»Damit ist die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Deutschland abgeschlossen.«

Aber auch nach diesem Datum, dem Mai 1950, hielt die Sowjetunion mindestens noch ein halbes Hunderttausend deutsche Soldaten zurück - nur daß sie diese Männer nun nicht mehr als Kriegsgefangene bezeichnete, sondern als Kriegsverbrecher. Die Umwandlung vom Kriegsgefangenen zum Kriegsverbrecher begann sehr oft mit einer menschlich erschütternden Szene:

Im November 1949, mehr als fünf Jahre nach seiner Gefangennahme, steht Dr. Kuno Wahl mit Tausenden anderer deutscher Kameraden auf dem Vorplatz eines Bahnhofs an der polnisch-russischen Grenze. Sie sind auf der Heimfahrt. Tausend Kilometer noch, dann sind sie wieder in Deutschland. Sie gehen auf und ab, schlagen die Hände kreuzweise gegen die Schultern. Es ist kalt. Russische Wachtposten brüllen Befehle über den Platz. Schnelle Bewegung kommt in die Gefangenen: Alle Mannschaftsgrade dürfen zurück in die Züge steigen, die - schon unter Dampf - auf den Gleisen warten.

Die Offiziere aber - unter ihnen Dr. Wahl - müssen antreten. Sie werden in eine große Baracke geführt - zur letzten Filzung, wie es scheint. Die Deutschen müssen sich nackt ausziehen. Russische Offiziere nehmen jedes Kleidungsstück zur Hand, drehen die Taschen nach außen, tasten das Futter der Röcke und Hosen ab und befühlen mit suchenden Fingern das Innere der Mützen.

Noch einmal werden die Offiziere verhört und nach ihren Einheiten gefragt, in denen sie gekämpft haben. Als Dr. Wahl die Baracke verläßt, erkennt er, welchem Zweck diese letzte Untersuchung gilt:

»Und dann sehen wir etwas, das selbst unsere hart gewordenen Herzen fast stillstehen läßt. Draußen werden unter strenger Bewachung durch Posten mit Maschinenpistolen im Arm und Hunden etwa hundert Offiziere abgeführt. Man hat sie hier an der letzten Linie des sowjetischen Machtbereichs aus dem Heimkehrertransport heraus geholt. Viele der Männer, die da abgeführt werden, schämen sich ihrer Tränen nicht, und das will etwas heißen bei diesen Gefangenen, die in der Esse der Gefangenschaft zu steinharten Männern gebrannt wurden. Einer ruft noch herüber: 'Kameraden, vergeßt uns nicht!<«

Die hundert Offiziere, die Dr. Kuno Wahl in den Zug steigen sah, der sie nicht nach Westen in die Heimat, sondern zurück nach Osten führte, gehörten zu jenen Deutschen in russischer Hand, die unter der Unbarmherzigkeit des Siegers länger leiden sollten, als alle anderen gefangenen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs.

Im Jahre 1949 waren in nahezu allen Gefangenenlagern der Sowjetunion schlagartig Offiziere der Geheimpolizei des Innenministers Berija erschienen. In langen Verhören hatten sie die Gefangenen danach ausgefragt, was sie während des Krieges in der Sowjetunion möglicherweise Böses - im Sinne des Siegers - getan hatten: Kartoffeln oder Getreide von Kolchosgütern requiriert, Zivilisten aus ihren Häusern ausquartiert, an Partisanenbekämpfung teilgenommen usw.

Die Vernehmungen begannen am frühen Morgen und endetcn spät in der Nacht. Mancher Gefangene durfte nach drei Stunden scharfer Fragen wieder gehen, mancher mußte mehrere Tage hintereinander auf dem harten Stuhl vor dem Tisch des Vernehmungsoffiziers zubringen. Der Russe fragte nach Lebenslauf und Dienstrang, nach Schulbesuch und politischer Einstellung. Dann kam sehr oft die Frage:

»Haben Sie Greueltaten begangen oder Greuelbefehle ausgeführt? Hatten Sie Kenntnis von Greuelbefehlen? Wer war daran beteiligt? Nennen Sie die Namen!«

Und: »Haben Sie russische Zivilpersonen aus ihren Häusern getrieben, um Platz für die Soldaten zu schaffen? Haben Sie Nahrungsmittel requiriert? Haben Sie Baumaterial aus russischen Beständen verwendet?«

Und: »Haben Sie Brücken gesprengt oder sprengen lassen?«

Und: »Haben Sie Dörfer oder Städte beschossen oder bombardiert?«

Und: »Haben Sie gegen Partisanenverbände gekämpft? Haben Sie Partisanen erschossen oder erschießen lassen?«

Natürlich stritten die meisten der verhörten deutschen Offiziere ab, an solchen Taten beteiligt gewesen zu sein. Sie hatten einen langen, erbitterten Krieg gekämpft, sie hatten in schweren Schlachten gestanden, sie waren Soldaten.

So weigerten sie sich, Geständnisse abzulegen und Protokolle zu unterschreiben. Die Russen brachten sie gleichwohl dazu. Ein Gefangener berichtete der Wissenschaftlichen Kommission der Bundesregierung für Kriegsgefangenengeschichte aus dem Lager Borovici:

»Wir müssen mit Schrecken erleben, wie mit List und Gewalt versucht wird, auch die harmlosesten Kameraden zu Kriegsverbrechern zu stempeln.« Im Lager Borovici wurden 550 deutsche Kriegsgefangene verhaftet und wegen angeblicher Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt. Nahezu überall in russischen Lagern wurden damals Geständnisse erpreßt. Ein Gefangener schildert, was im Herbst 1949 im Lager Kapinsk geschah: »Gegen September begann im Lager eine umfassende Vernehmungswelle, wobei eine große Zahl von Offizieren und Soldaten bedroht, erpreßt und schwer geschlagen wurde.«

Dr. Kuno Wahl erzählt, wie die Sowjets die Deutschen zum Sprechen brachten: »Wollen die Russen jemand zu irgendeinem Geständnis zwingen, so wird er in den Stehbunker gesperrt, ein schmales Verlies, in dem man weder sitzen noch liegen kann, und aus dem die Eingesperrten wie Holzstücke herausfallen, wenn nachgesehen wird.«

Doch es kam den Russen gar nicht darauf an, herauszufinden, ob sich der Gefangene, der dem Verhör unterzogen wurde, tatsächlich eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht hatte. Sie hatten eine Liste von bestimmten Einheiten des deutschen Heeres aufgestellt, und die Angehörigen dieser Einheiten - Infanteriedivisionen, Jägerdivisionen, Gebirgsjägerdivisionen, Panzer- und Panzergrenadierdivisionen, Verbände der Luftwaffe und Divisionen der Waffen-SS - waren von vornherein verdächtig, an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein.

Diesem kollektiven Verdacht waren auch jene hundert Offiziere zum Opfer gefallen, deren Verhaftung während der Heimfahrt Dr. Kuno Wahl erlebte. Tausende anderer Gefangener teilten ihr Schicksal, wurden aus Hoffnung in Verzweiflung gerissen.

Wieder aus dem Lager Borovici: »Aus unserer Baracke wird ein Kamerad zum Verhör geholt, der bereits eingekleidet ist für den Heimtransport. Wir sehen ihn nicht wieder... Die Atmosphäre in unserer Baracke ist drückend wie unter einer schweren Gewitterwolke. Die lauten Stimmen sind verstummt. Wir wundern uns, daß nicht schon längst der eine oder andere von uns Schreikrämpfe bekommen hat. Zum Glück werden diejenigen, die zum Verhör bestellt werden, vom Kompanieführer benachrichtigt. Der Betroffene geht dann schweigend in sein Verhängnis mit einem letzten Händedruck an seine nächste Umgebung, wie auf dem Schlachtfeld im Angesicht des Todes. «

Die Wissenschaftliche Kommission der Bundesregierung faßte zusammen: »Die letzten Monate und Wochen zum Jahreswechsel 1949 stellten für die deutschen Kriegsgefangenen eine Zeit ungeheurer seelischer Spannung dar. Es ging ja um die Frage: Heimtransport oder Verurteilung? Den Hauptschock erlitten die Gefangenen in dem Augenblick, als sie im Rahmen der Verurteilungsaktion zum Verhör gerufen und isoliert wurden: Dies war der Punkt, von dem an es fast immer kein Zurück gab.«

An einem Tag im Januar des Jahres 1950 stand der Gefangene Hans Gummelt im Lager Workuta vor einem sowjetischen Tribunal. Oberleutnant Gummelt, Stukapilot, wurde vorgeworfen, er habe im Krieg die Stadt Witebsk zerstört.

Tatsächlich hatte Gummelt in einem Kampfeinsatz Bomben auf russische Truppen in Witebsk geworfen. Anderes hatten die Sowjets ihm nicht vorzuwerfen. Doch es genügte für die Anklage. Das Gericht tagte in einem Raum des Lagers.

Drei sowjetische Offiziere saßen an nackten Holztischen, etwas abseits eine Dolmetscherin. Der Gerichtsvorsitzende fragte Hans Gummelt nach Name und Dienstrang. Dann wurde dem Deutschen die Anklage vorgelesen. Der Vorgang dauerte nicht einmal fünf Minuten. Dann verschwand das Gericht durch eine Tür, offenbar um den Anschein zu erwecken, es berate ernsthaft über das Strafmaß.

Nach fünf Minuten waren die Russen wieder da und verkündeten das Urteil: Tod durch Erschießen. Dem OberleutnantHansGummelt folgten in jenen Tagen noch Hunderte anderer Gefangener in den Gerichtsraum, das Ritual wiederholte sich mit maschinenhafter Präzision, die Deutschen wurden allesamt verurteilt.

Nahezu 50000 deutsche Soldaten wurden 1949 und 1950 durch die russische Verurteilungsmaschinerie gedreht. Die meisten wurden zum Tode verurteilt, die Urteile jedoch oft noch während der Gerichtsverhandlung, sonst einige Tage später, in fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager abgemildert.

Mancher deutsche Offizier wurde verurteilt, weil er gegen Partisanen gekämpft und geschossen hatte. Mancher wurde verurteilt, weil er gestanden hatte, während des Krieges ein russisches Huhn requiriert und aufgegessen zu haben. Er hatte sich, so die Sowjets, des Diebstahls an sowjetischem Eigentum schuldig gemacht. Ein Schuhmachermeister wurde verurteilt, weil er, so die sowjetischen Richter, die » Marschfähigkeit der deutschen Truppe begünstigte«, ein Musiklehrer deshalb, weil er mit gelegentlichen Darbietungen seiner Kunst »die Stimmung der faschistischen Armee gehoben« hatte.

Ein deutscher Gefangener wurde von einem Gericht in Stalino deshalb verurteilt, weil er bei der Feldpost Dienst getan hatte. Die Begründung der Russen für das Urteil auf fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager: »Sie haben von deutschen Soldaten geraubtes Gut nach Deutschland befördert. «

Im Lager Krasnoarmejsk tagte das sowjetische Tribunal in den Weihnachtstagen 1949-zu einem Zeitpunkt, wo in diesem Lager auch Heimkehrertransporte zusammengestellt wurden. Ein Gefangener berichtete über die herzzerreißenden Szenen in diesem Lager: »Die von der Gerichtsverhandlung zum Karzer gehenden Kameraden riefen jedem, der ihnen von weitem begegnete, zu: >25! 25!< Und dann meist der Zusatz: >Unschuldig!< oder >Völlig unverständlich!< oder 'Wahnsinn< oder >Vergeßt uns nicht!< oder >Das muß die Heimat wissen!< Und dann gingen wir aneinander vorbei: Die einen zum Karzer und in eine schreckliche Zukunft, die anderen zum Tor, zur Heimat.«

Die Wissenschaftliche Kommission stellt über das Schicksal der Verurteilten fest: »Man schrieb Revisionsgesuche und Begnadigungsgesuche an sämtliche in Frage kommenden Minister und Spitzen des Staates. Es kam sogar vor, daß von beispielsweise zehn Anklagepunkten fünf aufgehoben wurden; an der Strafe änderte sich nichts.

Um so größer waren Erstaunen und Verwirrung, als nur wenige Monate nach der Verurteilungsaktion ungefähr ein Drittel der eben Verurteilten im Frühjahr 1950 repatriiert wurde, während der Rest in der Hauptsache zu etwa gleichen Teilen im Herbst 1953 und um die Jahreswende 1955/56 folgte.«

Die Verurteilten des Jahres 1949/50 konnten nicht wissen, daß die lange Leidenszeit, die ihnen bevorzustehen schien, schließlich doch noch abgekürzt werden würde. Auch hatten sie keine eindeutige Antwort auf eine bohrende Frage. Mehr als drei Millionen deutsche Soldaten waren in russische Hand geraten. Zwei Millionen hatten die Schrecken der Lager überlebt. Die meisten von ihnen waren heimgekehrt.

Warum hielt Josef Stalin 50 000 Deutsche zurück? Sicher, sie waren als Arbeitskräfte brauchbar. Aber 50 000 in einem Land von damals 160 Millionen Einwohnern? Was konnte das schon bringen?

Tatsächlich fühlten sich die Verurteilten als Opfer der immer noch ungestillten Rachelust der Sieger. Zugleich waren sie politische Geiseln des Kreml: Wenige Monate vor der Verurteilungsaktion, im September 1949, war die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden. Noch war nicht abzusehen, wie sich die Beziehungen zwischen Moskau und Bonn entwickeln würden.

Die Verurteilten, die jetzt zum Posten in der politischen Rechnung des Kreml schrumpften, hatten schon mehr als fünf Jahre Gefangenenlager, Hunger, Entbehrungen und Zwangsarbeit hinter sich.

Der Luftwaffen-Oberleutnant Hans Gummelt hatte im Moorlager bei der Stadt Gorki, in der Stadt Swerdlowsk und in Workuta gearbeitet - in jenem Lager in der Nähe des Polarkreises, das wegen der grimmigen Arbeits- und Lebensbedingungen von seinen Insassen die weiße Hölle genannt wurde.

Die Gefangenen in diesem Land des ewigen Frostes mußten wie die meisten Zwangsarbeiter, wie auch Luftwaffen-Oberleutnant Hans Gummelt, im Bergwerk schuften. Über die Arbeitsbedingungen in den schlechten Jahren von Workuta berichtete ein Heimkehrer der Wissenschaftlichen Kommission der Bundesregierung für Kriegsge358

fangenengeschichte: »Hohe Normen, die für Unterernährte kaum zu erfüllen waren: die Stollen waren so niedrig, daß die Kohlenschlepper sich nur kriechend bewegen konnten. Sie zogen die losgeschlagene Kohle auf einer alten Zeltbahn mit den Zähnen und krochen dabei rückwärts. Arbeitskleidung wurde nicht gestellt. Mit nassen Kleidern wurde ausgefahren und bei einer Kälte von durchschnittlich 25 bis 30 Grad minus der Heimweg angetreten.« Und noch Ende 1953 boten kranke Gefangene dieses Bild, wie ein Heimkehrer es beschrieb:

»Man muß diese Armee des Elends gesehen haben. Körperlich ruiniert durch Jahre und Jahrzehnte einer Haft unter barbarischen Bedingungen, schlecht gekleidet, zahnlos, in überfüllten Baracken zusammengepfercht, tuberkulös, herzkrank, jede Woche werden einige von ihnen in der Tundra verscharrt.«

Das Mißtrauen der Sowjets reichte über den Tod der Gefangenen hinaus. Ein Heimkehrer: »Der Leichnam wurde nackt auf einen Ziehwagen, Handkarren oder Schlitten zum Lagerfriedhof gebracht. Beim Passieren der Lagerwache war der Wachtposten verpflichtet, mit einem besonderen Hammer die Schädeldecke des Verstorbenen zu zertrümmern oder mit einem Seitengewehr den Leichnam in der Bauchgegcnd zu durchstoßen.«

Oberleutnant Hans Gummelt entkam der Hölle von Workuta. Nach der Verurteilung arbeitete der gelernte Hochfrequenztechniker als Elektriker in Witebsk, in der Stadt, die er angeblich zerstört hatte. Er arbeitete zusammen mit anderen Gefangenen, die wie Gummelt selbst, fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit vor Augen hatten. In ihrer großen Hoffnungslosigkeit wuchs den Verurteilten jedoch ein Trost zu - aus ihrer eigenen Haltung.

Die Urteile zu langjähriger Zwangsarbeit hatten, so stellt die Wissenschaftliche Kommission der Bundesregierung für Kriegsgefangenengeschichte fest, eine auf den ersten Blick überraschende Auswirkung auf die deutschen Gefangenen: »Der Zusammenhalt war wesentlich besser als vorher. Biedere Landsturmmänner waren genauso verurteilt wie Offiziere, Aktivisten der Antifa und Spitzel. Mit einem Schlag hatte das alles Denken beherrschende Warten auf den Tag der Heimkehr ein Ende, mit fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit schien die Situation klar. Man mußte sich jetzt einrichten, so gut es ging, und sehen, wie man am besten über die Runden kam. Jetzt entstand erst wirklich das Bewußtsein eines gemeinsamen Schicksals, bis dahin hatte man doch mehr oder weniger überlegt, wie man sich dem gemeinsamen Schicksal entziehen könnte.«

Ein verurteilter Oberleutnant berichtete über die neue Situation in dem Lager: »Besonders in den letzten Jahren ist die Kameradschaft, das Zusammengehörigkeitsgefühl wesentlich größer geworden als in den ersten Jahren... wir waren ja immerhin in den Jahren nach unserer Verurteilung eine gewisse Elite, und die wußte im großen und ganzen doch schon, worum es ging.«

Der nackte Egoismus, die Jagd nach kleinen Vorteilen und Vergünstigungen hatte aufgehört. Die Gefangenen waren wieder füreinander da. Die Verurteilten, die mit ihrer Arbeit mehr Geld verdienten, teilten mit Kameraden, die wegen ihres Gesundheitszustandes das Plansoll nicht erreichten. Hans Gummelt beschreibt: »Immer waren ein paar Stabsoffiziere in meiner Brigade. Ein Major saß im Keller und reinigte alte Isolatoren. Trotzdem schafften wir es, daß er in den Augen der Sowjets seine Norm übererfüllte.«

Der Lebensmut der Verurteilten richtete sich in den ersten schweren Jahren nach den Urteilen auch an den Zeichen von Liebe und Solidarität auf, die aus der Heimat kamen: gewaltige Mengen von Paketen strömten in die Lager. Wie die Gefangenen mit dem neuen Reichtum verfuhren, berichtete ein Gefangener aus dem Lager Swerdlowsk: »Bei uns gab es eine Paket-Ausgleichskommission. Kameraden, die viele Pakete erhielten, teilten mit Kameraden, die selten oder nie Pakete empfingen. Der Gesundheitszustand und vor allem auch die moralische Widerstandskraft wurden durch die Pakete gehoben. Der Pakettag war immer ein Freudentag.«

Die Pakete aus Deutschland bedeuteten Rettung vor dem Hunger und Erlösung aus dem deprimierenden Einerlei. Ein Gefangener schreibt: »Dann kamen die Pakete. Die Pakete waren natürlich eine maßlose Beglückung. Sie machten uns ganz schnell unabhängig von der russischen Versorgung. In kurzer Zeit blühten die Männer wieder auf und kamen rein körperlich zu Kräften.«

Ein Verurteilter über einen Pakettag im Lager Schachty, im Jahr 1951: »Wir standen vor der Tür wie die kleinen Kinder, ehe sie in die Stube zum Weihnachtsbaum kommen dürfen. Endlich war es so weit, ich war dran. Das erste Mal seit neun Jahren wieder etwas von zu Hause, wieder etwas aus Deutschland.«

Argwohn und vielleicht auch Neid veranlaßten die Russen allerdings zu scharfer Kontrolle des Paketinhalts, und manchmal benutzten sie die Sendungen aus Deutschland zu niederträchtigen Schikanen gegen die Verurteilten: Sowjetische Offiziere verweigerten den Deutschen die Ausgabe der Pakete etwa mit der Begründung, sie hätten nicht genug gearbeitet. Russen öffneten die Pakete und vereinnahmten die Lebensmittel. Ein Gefangener aus einem Lager bei Swerdlowsk erinnert sich: »Die Konservendosen müssen extra abgeholt werden. Die Ausgabe erfolgt völlig unregelmäßig. Die Gefangenen müssen oft eine Stunde und mehr anstehen, um zu einer Büchse zu kommen. «

»Das Beste in den Paketen war immer die große Salami mit weißer Pelle, von uns >Gipswurst< genannt«, erinnert sich der Gefangene Konrad Müller. Feldwebel Müller, zu Anfang des Krieges verwundet, 1944 wieder einberufen und zur Waffen-SS versetzt, war am Heiligabend 1949 von den Sowjets wegen angeblicher Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und anschließend zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit begnadigt worden.

Im Lager Stalingrad 1 war die Verpflegung im Jahre 1950 so knapp, daß sie gerade zum Überleben reichte. Zweitausend deutsche Soldaten, alle zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt, füllten die Baracken des Lagers.

Konrad Müller: »Für die Gefangenen bedeuteten die Pakete die Rettung, das Überleben. Die Pakete wurden immer nur in Gegenwart eines Russen geöffnet, ausgepackt und auf verbotene Dinge - Waffen, Kompaß und Kassiber - untersucht. Zahnpasta-Tuben und Rasierklingen wurden uns nicht ausgehändigt. Walnüsse wurden vom sowjetischen Offizier mit dem Hammer aufgeschlagen und nach Kassibern untersucht. So stand ich vor dem Tisch mit dem Paketinhalt, der Russe knackte Nüsse, ich schob mir den Nußkern in den Mund und wartete auf die nächste Nuß. Einmal wurde sich der russische Offizier plötzlich bewußt, wie seltsam und komisch die Szene war. Er nahm eine Handvoll Nüsse und warf sie mir lachend an den Kopf. Leere Keksdosen verschenkten wir an Kinder, die wir auf dem Weg zur Arbeitsstelle trafen. Doch dies wurde uns verboten: Jeglicher Kontakt zur Zivilbevölkerung war streng untersagt. In den nächsten Tagen standen die Kinder wieder an unserem Weg. Sie bettelten: >Onkel Kriegsverbrecher, schenk uns eine Dose.<«

Die verurteilten Gefangenen in den Lagern um Stalingrad wurden allesamt zum Wiederaufbau der Industriestadt an der Wolga eingesetzt, der Stadt, in der knapp ein Jahrzehnt zuvor Hunderttausende von deutschen und russischen Soldaten gestorben waren. Der FeldwebeI Konrad Müller meldete sich zur Arbeit als Eisenbieger. Zusammen mit seinen Kameraden bog er die Armierungseisen für die Betondenkmäler, die an den Sieg der Roten Armee über die Deutsche Wehrmacht im Winter 1942/43 erinnern.

Im Gefangenenlager von Stalingrad traf Konrad Müller einen hochgewachsenen, schmalgesichtigen deutschen Offizier: Oberstleutnant Konrad Freiherr von Wangenheim. Mit seinem Namen verbinden sich ein deutscher sportlicher Triumph und eine Tragödie im Straflager der Sowjets. Auch er war in einem Fünf-Minuten-Prozeß zu 25 Jahren verurteilt worden.

Wangenheims Name war 1936 weltbekannt geworden. Er ritt bei der Olympiade in Berlin in der deutschen Mannschaft. Beim Geländeritt stolperte und stürzte sein Pferd Kurfürst, begrub den Reiter unter sich. Wangenheim hatte sich das linke Schlüsselbein gebrochen. Doch der Verletzte zog sich auf sein Pferd und beendete den Ritt; im Ziel brach der Reiter ohnmächtig zusammen. Sein Arm mußte geschient werden.

Der deutsche Mannschaftssieg in der Vielseitigkeitsprüfung Dressur, Geländeritt, Jagdspringen - schien endgültig verloren. Doch schon am Tag nach dem Sturz, am 16. August 1936, dem letzten Tag der Olympiade, trat Konrad von Wangenheim wieder an, mit dem unbeweglichen linken Arm.

Und noch einmal stürzten Pferd und Reiter. Und wieder vollbrachte der Verletzte eine unerhörte Leistung: Er gelangte wieder in den Sattel und ritt das Jagdspringen zu Ende: Gold für Deutschland.

Von Wangenheim, 1944 gefangen genommen, war im sowjetischen Lager einer der Männer, die den Widerstandswillen der verurteilten Soldaten gegen russische Schikane immer wieder festigten. Seiner Haltung und seinem Einsatz ist es zuzuschreiben, daß die Gefangenen sich nicht selbst aufgaben, nicht in Resignation versanken, nicht zu Hörigen der Sowjets wurden. Und er war ein glaubwürdiger Mann. Das Beispiel, das er 1936 gegeben hatte, wirkte zwei Jahrzehnte später noch fort.

Die Russen versuchten, die Moral dieses Offiziers zu brechen. Er wurde aus nichtigen Gründen mit Karzer bestraft. Seine Essensration wurde gekürzt. Schwerste Arbeit wurde ihm abverlangt. Wangenheim gab nicht auf, under gab nicht nach. Der sowjetische Geheimdienst holte ihn zu immer neuen Verhören, am Tage und spät in der Nacht.

Der Pfarrer Martin Preuß, Mitgefangener und Freund Wangenheims, berichtet, was Anfang des Jahres 1953 geschah: »Eines Tages schickte von Wangenheim einen Kameraden mit der Bitte zu mir, sofort zu ihm zu kommen. Ich eilte zu ihm und erfuhr, daß er sich sogleich am Lagertor einzufinden hätte. Nach dem Verlauf der vorangegangenen Verhöre und nach Beurteilung der besonderen Situation von Wangenheims war es uns beiden klar, daß es wahrscheinlich ein Abschied für immer sein würde. Auf dem Weg von der Baracke zum Lagertor ergab sich ein seelsorgerisches Gespräch. Konrad von Wangenheim wies ausdrücklich darauf hin, daß er auch in der leidvollsten Lage niemals Selbstmord verüben würde. Tapfer und gestärkt ging er seine letzten Schritte zum Lagertor. Ich war der letzte, der mit ihm gesprochen hatte.«

Der Oberstleutnant wurde von den Deutschen getrennt und in ein Lager bei Stalingrad gebracht, in dem Ungarn und Rumänen saßen. An einem Februar-Tag des Jahres 1953 fand ein Rumäne den deutschen Offizier erhängt auf dem Dachboden einer Baracke. Die Sowjets verbreiteten gleich zwei Versionen. Die eine: Der Oberstleutnant sei von seinen eigenen Kameraden aus Neid gehängt worden. Er habe zu viele Pakete erhalten. Die andere: von Wangenheim habe sich selbst erhängt. Der anscheinend so tapfere Mann sei einfach in den Tod geflohen. Beide Versionen sollten dazu dienen, das Ansehen des Oberstleutnants bei seinen Kameraden zu zerstören.

Pfarrer Martin Preuß weiß, was wirklich geschah: »Kameraden berichteten, daß sie den erhängten Leichnam unseres Kameraden hätten begraben müssen. Sie fanden ihn in dem Vernehmungsgebäude außerhalb des Lagers. Sein Kopf sei so zerschlagen gewesen, berichteten die Kameraden, daß er im Augenblick des Erhängens entweder schon tot oder noch besinnungslos gewesen sein müsse. Es war eingetreten, was auch von Wangenheim befürchtet hatte: Man hatte ihn während des Verhörs erschlagen.«

So starb ein untadeliger Offizier der Deutschen Wehrmacht acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Heimkehr mit Adenauer

Selbst nach Stalins Tod im März 1953 änderte der Kreml seine feindselige Haltung gegenüber den Deutschen hinter russischem Stacheldraht nicht. Als Bundeskanzler Konrad Adenauer im September 1955 zum Staatsbesuch nach Moskau fuhr, um mit Rußlands Staatspräsidenten Bulganin und Ministerpräsident Chruschtschow über die Freilassung der deutschen Gefangenen zu verhandeln, hörten die Verurteilten über ihr Lagerradio die Begrüßungsansprache Bulganins für den deutschen Kanzler. Und in dieser Rede bezeichnete der Russe die verurteilten Deutschen als »Menschen ohne Gesichter«.

Ein Gefangener schrieb: »Im Lager herrschte eine furchtbare Stimmung. Niedergeschlagenheit und Empörung wechselten ab. Viele Kameraden weinten über diese gemeinen Worte.«

Über Lagerradio hörten die Gefangenen auch die Übertragung des Fußballspiels zwischen den Mannschaften der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland am 21. August 1955 in Moskau. Die sowjetische Kapelle im Stadion spielte das Deutschlandlied. Die Melodie drang über die Radio-Lautsprecher in die Baracken des Lagers. Ein Gefangener: »Alles stand auf und nahm Haltung an. Nur die anwesenden Sowjets nicht. Viele Kameraden weinten.«

Feldwebel Konrad Müller überstand das Straflager Stalingrad. Im Dezember des Jahres 1955 war Konrad Müller auf der Heimfahrt, und in der Silvesternacht wurde der Feldwebel, der dem Gulag der Sowjets entrann, der prominenteste deutsche Heimkehrer.

Müllers Frau war Nachbarin des Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Rhöndorf. Als im Radio die Namen der Männer verbreitet wurden, die nach zehnjähriger Gefangenschaft auf der Fahrt in die Heimat waren, wurde auch Konrad Müllers Name genannt. Konrad Adenauer erfuhr von seinem Bäcker, der ihm die Brötchen brachte, daß sein Nachbar unterwegs war. Der Kanzler lud Frau Müller ein, mit ihm im Sonderzug in das Lager Friedland zu fahren, wo er die Heimkehrer begrüßte. Sie telegrafierte ihrem Mann: »Eintreffe mit Bundeskanzler Adenauer.« Im Heimkehrerlager Friedland verursachte das Telegramm ein Gerücht: Konrad Müller sei ein Neffe Adenauers. Er wurde bevorzugt abgefertigt. Der heimgekehrte Oberfeldwebel Konrad Müller fuhr im Sonderzug des Kanzlers nach Haus.


Aus: Paul Carell, Die Gefangenen, Ulstein 1980