OHNE PAPIERE IN EUROPA

Undocumented Immigrants

(AutorInnenkollektiv, Verlag Libertäre Assoziation, 2000)

»Viele Leute gehen nach England. Wir haben oft darüber geredet und so bin ich halt auch gegangen«

Wenn man sich mit der Situation von sogenannten »Illegalen« in England beschäftigt, muß man zunächst einmal feststellen, daß bis vor kurzem kaum jemand, auch nicht aus der antirassistischen Bewegung, über dieses Thema reden wollte. Es wird bis heute weitgehend als Tabu betrachtet, als eine Angelegenheit, mit der niemand wirklich etwas zu tun haben will. (1) »Nobody wants to touch it«, war daher eine typische Entgegnung auf unsere Recherchen zur Situation von Undocumented Immigrant Workers in London, die diesem Aufsatz zugrunde liegen. (2) Diese weitreichende Zurückhaltung bei Betroffenen und AktivistInnen läßt sich nur bedingt mit »Sicherheitsbedenken« erklären, sie entspringt vielmehr einem Gefühl der Schwäche und der Angst, dem vorherrschenden Diskurs über »Illegale als Kriminelle«, über »Schmarotzertum«, »Sozialhilfebetrug« und »Schlepperunwesen« nicht gewachsen zu sein. Die Initiativen begegnen diesen stereotypen Bildern und Kriminalisierungsversuchen vor allem mit der Rechtfertigung, es handele sich bei den heutigen MigrantInnen in den meisten Fällen um schutzsuchende, also um legitime Flüchtlinge. Indem sich ein Großteil der Linken in der öffentlichen Auseinandersetzung auf die Verteidigung des Rechts auf Asyl beschränkt -; und somit die Gesamtheit der aktuellen Migrationsbewegungen mit Flüchtlingsbewegungen gleichgesetzt und mit der Angst vor Verfolgung gerechtfertigt werden -; läuft sie Gefahr, die Situation von MigrantInnen ohne Papiere aus der Diskussion weiterhin ausblenden zu müssen.

Einmal mit dem Rechercheprojekt begonnen, sollte sich allerdings zeigen, daß das Bedürfnis -; sowohl auf Seiten der MigrantInnen, wie auch bei vielen AktivistInnen und RechtsberaterInnen -; über die Situation von »Menschen ohne Papiere« zu reden und zu reflektieren, enorm stark war. Alle wußten Bescheid, alle hatten eigene Erfahrungen vorzuweisen. Die meisten jener MigrantInnen, die heute in Beratungsstellen arbeiten, sind selbst einmal den Weg klandestiner oder irregulärer Schritte gegangen. Dennoch gibt es keinerlei Ansatz, diese Erfahrungen zusammenzuführen. Einerseits ist in London, wo 85% aller Flüchtlinge leben, das Netz von Unterstützungs-, Selbsthilfe- und Beratungsstellen besonders dicht geknüpft. Nahezu jeder neu ankommende Flüchtling kann dort eine Community von Landsleuten vorfinden. Andererseits gibt es keine adäquaten Auseinandersetzungen und Reaktionen auf das Phänomen neuer irregulärer Migrations-, Aufenthalts- und Arbeitsformen.

Die Grundlagen der britischen Einwanderungs- und Asylpolitik sind im Immigration Act (1971), im Nationality Act (1981) und im Asylum and Immigration Appeals Act (1993) festgeschrieben. Die Regulierung von Einwanderung konzentriert sich vor allem auf die Einreisekontrolle. Obwohl England nicht zu den Schengenstaaten gehört, ist die Überwachung der EU-Außengrenzen äußerst strikt. Nur die Einreise über Irland und Nordirland ist weniger stark kontrolliert. Eine Visapflicht (pre-entry clearance) gilt derzeit für etwa 120 Staaten. Aufgrund der starken antirassistischen Bewegung und Kultur sind Aufenthalts- und Identitätskontrollen innerhalb des Landes, von denen vor allem Nicht-Weiße (auch britische StaatsbürgerInnen) betroffen wären, höchst umstritten. Seit Jahrzehnten wehren sich Initiativen gegen jegliche Form interner Polizeikontrollen. Die britische Anti-Diskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzgebung (3) hält hierfür in der Tat ein wirkungsvolles Instrument und hohe Strafen für nachweisbare Verstöße bereit. Dennoch ist angesichts des abebbenden »schwarzen« (4) Kampfzyklus (5) früher oder später auch eine Schwächung des Widerstands gegen Identitätskontrollen im Landesinneren zu befürchten.

Obwohl nach offiziellen Angaben die Grenzüberwachung weiterhin den Schwerpunkt der staatlichen Einwanderungskontrolle darstellt, wird in Berichten gleichzeitig die zunehmende Bedeutung von internen Kontrollen betont. (6) Im Vergleich mit den Überwachungseinrichtungen an den Grenzen sind die Behörden im Landesinneren zur Überprüfung von AusländerInnen personell jedoch weiterhin nur schwach besetzt und technisch schlecht ausgerüstet.

»Du kannst dich hier frei fühlen und frei sein. Nicht wie in Deutschland. Das ist ein Land, das auf einem Polizeiregime basiert. Ich bin vorher in Deutschland gewesen. Die Polizei würde dich dort überall anhalten und nach deinem Paß fragen und überhaupt viele Fragen stellen, was du machst und so. Du hast keine Probleme einzureisen, aber dann geht es schon los. Du wirst überall beobachtet.«

Seit Anfang der 1990er Jahre jedoch sind auch in England die staatlichen Behörden dazu übergegangen, grundlegende Sozial- oder Dienstleistungen an einen legalen Aufenthaltsstatus zu koppeln. Seit 1997 besteht auch hier für Arbeitgeber die Pflicht, sich von den Beschäftigten Dokumente vorlegen zu lassen, aus denen die Arbeitsberechtigung hervorgeht. Die Anstellung von Menschen ohne Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis gilt seitdem als eine Straftat. Lange Zeit gingen die Festnahmen irregulärer Einwanderer mehr oder minder auf »Zufallsfunde« oder Denunziationen zurück. Seit einigen Jahren setzt die Polizei dagegen auf Spezialeinheiten und Sondergruppen zur Ermittlung von »Illegalen«. 1998 hat auch die New-Labour-Regierung der Verfolgung und konsequenten Abschiebung von abgelehnten Asylsuchenden oberste Priorität eingeräumt.

Die Besonderheiten britischer Einwanderungspolitik liegen in der Geschichte des imperialen Weltreiches und dem nach wie vor bestehenden Commonwealth. Einerseits geht die ethnische Minderheitsbevölkerung asiatischer, afrokaribischer und afrikanischer Herkunft (insgesamt rund 4,5 Millionen) überwiegend auf die Nachkriegsmigration aus den ehemaligen Kolonien zurück. Diese Menschen sind vollberechtigte StaatsbürgerInnen, keine »AusländerInnen«. Andererseits gelten für die Menschen aus den heutigen Ländern des Commonwealth nach wie vor besondere Einreisebedingungen und Praktiken, die oft Ausnahmen oder Sonderregelungen zulassen. Der Aufenthalt in England zu Zwecken des Studiums, der Ausbildung, des Besuchs von Sprachkursen oder Arbeitsferien (working holiday-makers) werden -; gemessen an der deutschen Politik -; durch relativ unkomplizierte Einreiseformalitäten gefördert, wodurch zahlreiche legale Rahmenbedingungen entstehen. (Hier zeigt sich der außenpolitische Anspruch eines ehemaligen Empires, soll doch der Besuch des Königreichs zur Verbreitung und Aufrechterhaltung britischer Kultur und Sprache in aller Welt beitragen.) Trotz der genannten Erleichterungen stehen alle nicht-weißen BürgerInnen aus den Commonwealth-Staaten jedoch unter dem Generalverdacht, illegal nach England einwandern zu wollen.

Insgesamt werden jährlich ca. 70 Millionen Einreisende an den britischen Grenzen und Flughäfen registriert: 45 Millionen EngländerInnen, 14 Millionen EU-BürgerInnen und 10 Millionen Non-EU-Citizens. Bis zu 70.000 Menschen müssen sich weiterreichenden Überprüfungen unterziehen, darunter Gepäckkontrollen, Befragungen zu Herkunft und Zweck des Aufenthalts, Telefonanrufe zur Überprüfung von Einladungen, Echtheitskontrollen von Papieren etc. 1995 wurden fast 20.000 Menschen an der Grenze zurückgewiesen. Darunter an erster Stelle polnische StaatsbürgerInnen, danach Staatenlose, Menschen mit einem US-amerikanischen, nigerianischen, jamaikanischen und südafrikanischen Paß. Bisher lag die Anzahl der jährlichen Verfahren zur Ausweisung bei ca. 5.000. 1994 wurde mehr als die Hälfte (2.800) der betroffenen Personen abgeschoben (deported) oder zurückgeschoben (removed), die anderen verließen nach einer Ausreiseaufforderung »freiwillig« das Land. In derzeit sechs sogenannten Detention Centres (7), die zum Teil unter privater Leitung stehen, gibt es Platz für 500 Abschiebehäftlinge. Weitere 200 Personen sind in gewöhnlichen Gefängnissen eingesperrt. Die Mehrzahl der Häftlinge sind AsylbewerberInnen. Lange Zeit war die Gefahr, schon bei der Antragstellung interniert zu werden, größer, als am Ende des Verfahrens inhaftiert zu werden. Seit zwei Jahren hat sich die Praxis der Behörden jedoch geändert: Es gibt insgesamt mehr Abschiebungen und Inhaftierungen nach Ablehnung der Asylbegehren.

Bis 1996 war der Umgang mit Flüchtlingen in England vergleichsweise liberal. Restriktiv gehandhabt wurden vor allem die Einreisebestimmungen (u.a. die Visapflicht, die Überprüfung und Bestrafung von Fluggesellschaften für den Transport von Passagieren ohne die benötigten Papiere). Diejenigen, die es erst einmal ins Land geschafft hatten, hatten die freie Wahl der Niederlassung, Anspruch auf alle Sozialleistungen, z.B. auf Wohngeld und Unterbringung in staatlichen Wohnungen (public housing), sowie Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis. Mit der steigenden Anzahl von Asylanträgen (1986: 4.000; 1995: 44.000) jedoch wurden erste Kampagnen zur Bekämpfung von »Mißbrauch«, »Scheinasylanten« und »Sozialschmarotzern« ins Leben gerufen. Den vorläufigen Höhepunkt der Gesetzesverschärfungen bilden der neue Asylum and Immigration Act (1996) wie auch die Social Security (Persons from abroad) Miscelleneous Amendment Regulations (1995). Zum einen wird nun zwischen den an der Grenze und den im Landesinneren gestellten Asylanträgen differenziert und all denjenigen, die erst nach der Einreise Asyl beantragen, jegliche soziale Unterstützung verweigert. Der beabsichtigte Abschreckungseffekt hat zur Folge, daß die Anzahl der registrierten Asylbegehren um 25% gesunken ist (Anzahl der Asylanträge 1996: 29.000). Inzwischen gibt es jedoch Präzedenzurteile des High Court, die die lokalen Behörden zur Anwendung des National Assistance Act von 1948 verpflichten, wonach Bedürftige mit Unterkunft und Lebensmittel zu versorgen sind. Die zuständigen Stadträte haben auf diese Vorgaben mit der Unterbringung von Asylsuchenden in Hostels, Bed & Breakfast-Pensionen und in einigen Fällen auch mit der Einrichtung von Sammelunterkünften reagiert. Statt Sozialhilfe erhalten die Flüchtlinge nur noch Essensmarken. Darüber hinaus gibt es keine weiteren Leistungen. Die Versorgung mit Bekleidung, Bettwäsche etc. wird den Kirchen und anderen humanitären Organisationen überlassen. Etwa die Hälfte aller Asylsuchenden ist heute in England von dieser Regelung betroffen.

Zum anderen wurde die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme beschränkt. Nach den neuen Regelungen können Asylsuchende erst nach sechs Monaten Aufenthalt einen Antrag auf eine Arbeitserlaubnis stellen, dessen Bearbeitung dann in der Regel mindestens weitere sechs Monate in Anspruch nimmt. Entgegen der Hoffnung vieler, New Labour würde zumindest diese Restriktionen wieder rückgängig machen, legte die neue Regierung 1998 das White Paper on Asylum and Immigration als Gesetzentwurf vor. Unter der Überschrift »Fairer, strenger, schneller« handelt es sich bei dieser Neubestimmung des staatlichen Umgangs mit Flüchtlingen um nichts anderes als um eine Kopie des deutschen Modells und bedeutet in der Praxis: Umverteilung, Sammelunterkünfte, private/semi-staatliche Betreiber und Vollverpflegung.

Die Bekämpfung irregulärer Einwanderung war schon immer ein fester Bestandteil der britischen Migrations- und Flüchtlingspolitik. In den 1960er und 1970er Jahren richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf Menschen vom subindischen Kontinent und aus der englischsprachigen Karibik, später auf die Angehörigen der ersten Einwanderergeneration. Eine Amnestieregelung führte 1977 zur Legalisierung von ca. 5.000 Personen »ohne Papiere«. Mit den in den 1980er und 1990er Jahren folgenden Änderungen der Visumspflicht und der allgemeinen Verschärfung der Asyl-, Einwanderungs- und Einbürgerungsformalitäten bleibt heute für die meisten MigrantInnen vielfach nur die Möglichkeit der außergesetzlichen Einreise bzw. des außergesetzlichen Aufenthalts. Die Behörden unterscheiden heute zwischen der klandestinen Einreise (clandestine entry), der offenen Einreise unter Vorgabe falscher Gründe oder falscher Papiere (illegal entry), der Weigerung, nach einem befristeten legalen Aufenthalt wieder auszureisen (overstaying) und dem Ab- und Untertauchen von Flüchtlingen und MigrantInnen nach einem abgelehnten Asylantrag oder dem Ablauf anderer vorbehaltlicher und befristeter Einreise- oder Aufenthaltsbefugnisse (absconding). Es gibt bis heute wenige offizielle Zahlen oder Schätzungen über das Gesamtausmaß der irregulären Zuwanderung nach England. In einer Sendung der BBC war 1997 von jährlich ca. 20.000 »illegalen Einreisen« die Rede. (8) 1993 wurden 10.300 Verstöße gegen die Einwanderungsgesetzgebung, 1994 10.000 Menschen ohne eine Arbeitserlaubnis sowie 4.300 Fälle von illegal entry und 1995 4.500 gefälschte Pässe und Dokumente registriert. (9) Der Berufsverband der Einwanderungsbeamten schätzte schon 1987 -; aus eher propagandistischen Zwecken -; die Zahl der abgelehnten und untergetauchten Asylsuchenden auf 44.000 (10), ohne daß diese Angaben jemals von der Regierung bestätigt worden wären. Ohne Zweifel steckt hinter allen öffentlich geäußerten Zahlen eine politische Motivation. Mit Sicherheit steht auch fest: In allen Communities Londons und anderer größerer Städte leben heute immer mehr Menschen ohne eine Aufenthaltserlaubnis. Irreguläre Arbeitsformen und -verhältnisse gehören -; ähnlich wie die sogenannte »Schwarzarbeit« -; zum Alltag dieser Communities. Je weniger legale Einreise-, Aufenthalts- oder Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, desto eher finden Migrations- und Niederlassungsprozesse außerhalb der Gesetze, d.h. nicht »illegal«, sondern »extralegal« statt. (11)

Die in vielen gesellschaftlichen Bereichen Englands bis heute wirkmächtige liberale Tradition, die Bürgerrechten und individuellen Freiheiten Vorrang vor staatlicher Intervention oder Kontrolle einräumt, hat auch Einfluß auf die Lebensbedingungen irregulärer MigrantInnen. So gibt es beispielsweise weder eine Meldepflicht wie in Deutschland noch die Vorgabe, einen Personalausweis zu besitzen, geschweige denn mitzuführen. Führerscheine, Lohnsteuer- oder Kreditkarten, Lohnabrechnungen, Briefumschläge mit Namen und Adresse darauf, Telefon-, Strom- oder Gasrechnungen, all diese Dokumente können als Identitäts- oder Adreßnachweise dienen. Sie enthalten, ähnlich wie die Einbürgerungsdokumente oder Meldezertifikate, keine Lichtbilder. Sie sind zudem meist unbefristet gültig. Besonders besorgt zeigen sich die Behörden angesichts der Tatsache, daß in England bis zu 20 Millionen mehr Sozialversicherungsnummern im Umlauf sein sollen als berechtigte Personen registriert sind. (12) Das bedeutet, daß einmal legal erworbene Dokumente auch nach Ablauf des gesetzlich erlaubten Aufenthalts problemlos weiter verwendet werden können. Auch Papiere und Pässe anderer EU-Staaten seien leicht und billig auf dem »Schwarzmarkt« zu kaufen und schwer auf ihre Echtheit hin zu überprüfen.

Vor allem in London hat sich inzwischen eine ausgedehnte Schattenökonomie entwickelt, in der die unterschiedlichsten Menschen -; Erwerbslose, SozialhilfeempfängerInnen, StudentInnen, MigrantInnen oder »Illegale« -; eine Beschäftigung finden. Dieser Prozeß wurde von der neoliberalen Deregulierungsstrategie des Thatcherismus vorangetrieben. Es ist allgemein bekannt, daß gerade die von Sozialhilfe abhängigen Menschen ihre mageren Zuwendungen mit allerlei zusätzlichen Arbeiten aufbessern müssen oder daß niedrig entlohntes Personal in der Regel Zweit- und Drittjobs nachgeht. Die Sektoren, wo dies möglich ist, sind zum einen der Bausektor, das Hotelgewerbe (Schwerpunkt: West-London), der Reinigungssektor (Schwerpunkt: die City mit zahllosen Bürogebäuden), die Textilindustrie mit allein 1.500 Betrieben und Klitschen (Nord-London) sowie, über die ganze Stadt verteilt, die Gastronomie und die zahllosen Imbisse, die sogenannten take aways. Hinzu kommen zahlreiche Jobs in Großbäckereien, auf Tankstellen, in Kfz-Werkstätten oder als Fahrer. Tatsächlich sind ganze Industriezweige, insbesondere die Textil-, Chemie- und Kunststoffproduktion, aus der sogenannten Dritten Welt nach England zurückgekehrt, seitdem dort marktnah, flexibel und billig produziert werden kann. Eng verknüpft mit diesem »renewal of the industrial past« ist die Wiedereinführung »frühkapitalistischer« Arbeitsbedingungen und dementsprechender Löhne. (13) Diese Entwicklung gilt neben London vor allem auch für die städtischen Ballungsräume Manchester und Birmingham.

New Labours Amtsantritt vor zwei Jahren war verbunden mit einer Art »Re-Regulierungsprogramm«. Die Maßnahmen reichen von diversen Einschränkungen unternehmerischer Freiheit, der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns bis hin zur verschärften Bekämpfung des sogenannten Mißbrauchs von staatlichen Sozialleistungen. Mit den neuen wohlfahrtspolitischen Prinzipien (from welfare to workfare) ist der Zwang zur Arbeit für von staatlichen Zuwendungen abhängige Menschen enorm erhöht worden, wobei der Staat gezielt Jobs im Niedriglohnsektor subventioniert. Von den zunehmenden Kontrollen der staatlichen Stellen (allen voran der Benefits Agency Benefit Fraud Intelligence Service zur Überprüfung von Sozialmißbrauch) sind nicht zuletzt die zahlreichen irregulären MigrantInnen betroffen. In der Vergangenheit hatten die kommunalen Behörden versucht, sich weitgehend aus der zentralstaatlichen Einwanderungspolitik herauszuhalten.

Die Kontrollpraxis der öffentlichen Dienste

Der britische öffentliche Dienst gehört zu den stark deregulierten Niedriglohnsektoren. Im Gegensatz zu Deutschland oder anderen westeuropäischen Staaten sind die hier Beschäftigten keine Beamten, sondern Angestellte (darunter ein hoher Anteil von bis zu 50 Prozent schwarzer MitarbeiterInnen). In den Stellen, die direkt mit den ständigen Neuregelungen der Asyl- und Einwanderungspolitik zu tun haben, arbeiten zudem immer mehr SozialarbeiterInnen und Bürokräfte, die von Zeitarbeitsagenturen vermittelt werden. Auffällig ist jedoch, daß weite Teile des öffentlichen Sektors (einschließlich der Aus- und Weiterbildung vor allem von SozialarbeiterInnen) immer noch vom Geiste der Antidiskriminierungsgesetzgebung und einer in Großbritannien weit verbreiteten liberalen und antirassistischen Kultur geprägt sind. Eine starke Bürgerrechtsorientierung hat zur Folge, daß den Angaben derjenigen, die z.B. einen Antrag auf eine soziale Dienstleistung stellen, in der Regel geglaubt wird. Nur in Ausnahmefällen werden sie einer weiteren Überprüfung unterzogen. Ein automatischer Datenabgleich mit anderen Behörden findet aus Gründen des hochgehaltenen Datenschutzes ohnehin kaum statt. (Wird er doch einmal für notwendig erachtet, können Monate vergehen, bis Ergebnisse vorliegen.) Die Mehrheit der Gesetze und Verordungen wird regelmäßig zugunsten der in den Ämtern vorsprechenden Menschen ausgelegt. Einzelne Einwanderungsbeamte sehen in dieser Praxis eine schleichende Gefahr, weil sie von MigrantInnen schamlos ausgenutzt würde: »Gerade bei den Nigerianern denkst du sofort an Betrug und Korruption und daß sie losgehen und Institutionen infiltrieren und von dort aus Entscheidungen beeinflussen.« In vielen kommunalen Stellen war es lange Zeit üblich, entweder gar nicht mit der Einwanderungsbehörde zu kooperieren oder zumindest keine Angaben über »verdächtige Personen«, d.h. Menschen ohne einen festen Aufenthalt, weiterzuleiten. »Wir sind nicht die Polizei in dieser Sache.« »Unsere Aufgabe besteht nicht darin, andere zu überwachen.« »Schließlich sind wir keine Ermittlungsbehörde.« »Wir sind nicht verpflichtet, die Innenbehörde zu informieren.«

Als das Innenministerium 1996 die Kommunen zu einer Zusammenarbeit verpflichten wollte -; die lokalen Verwaltungen weisen in England einen hohen Grad an Autonomie auf -;, wurde dieses Ansinnen von nahezu allen Behörden abgelehnt. Es gibt bezüglich dieser Frage inzwischen eine Reihe von Gewerkschaftsbeschlüssen (u.a. von der NATFE [Lehrer in der Weiterbildung] und der UNISON [Gewerkschaft im öffentlichen Dienst]), die sich generell gegen aufenthaltsrechtliche Kontrollen durch die im öffentlichen Dienst Beschäftigten wenden. Sie haben sogar angekündigt, eventuelle Streiks in diesem Zusammenhang unterstützen zu wollen. Zu den gängigsten Begründungen gehört, Einwanderungskontrolle sei die Aufgabe von Einwanderungsbeamten, Sozialarbeit die Aufgabe von Sozialarbeitern, also sollen Sozialarbeiter auch nicht die Arbeit von Einwanderungsbeamten übernehmen. Bislang wurden jedoch noch keine Arbeitskämpfe zur Durchsetzung dieser Position ernsthaft in Betracht gezogen.

Viele Angestellte haben z.B. ein gewisses Verständnis für »illegale Beschäftigungsverhältnisse«, weil gerade sie um die niedrigen Sozialleistungen wissen. Werden MigrantInnen, die staatliche Hilfen beziehen, bei der Ausübung einer »illegalen Beschäftigung« ertappt, erfolgte bis vor kurzem in der Regel anstatt einer Anzeige lediglich eine Verwarnung. Es kommt vor, daß die Betroffenen aufgefordert werden, schon ausgezahlte Beträge zurückzugeben, aber erzwungen oder eingetrieben werden diese fast nie. Die geringsten Probleme bestehen im Gesundheitswesen: Jeder und jede kann sich bei einem Hausarzt registrieren lassen, die Vorlage von Papieren wird nicht verlangt. Bei Unfällen oder in Notfällen findet überhaupt keine Personalienüberprüfung statt. Manchmal wird der Aufenthaltsstatus abgefragt, ohne ihn jedoch weiter dokumentieren zu müssen. Stellt sich aus irgendeinem Grund heraus, daß eine zu behandelnde Person in England keine Sozialversicherung hat, so werden auch in diesen Fällen die medizinischen Leistungen nicht verweigert, wohl aber Rechnungen ausgestellt, die oftmals einfach unbezahlt bleiben. Auch an den Schulen schert man sich wenig um den rechtlichen Status der Eltern, in Weiterbildungsinstitutionen wird zum Teil überprüft, ob ein Anspruch auf gebührenfreie Kurse besteht. Wer bezahlen kann und bezahlt, hat keine Kontrolle zu befürchten.

Grundsätzlich und für alle, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, besteht ein Anspruch auf Rechtskostenbeihilfe (legal aid), wenn das Einkommen besonders niedrig ist. Die Antragstellung wird in der Regel von den Anwälten selbst übernommen.
Zum Verhängnis vieler Menschen hat sich vor allem auf den Sozialämtern (Benefits Agencies) und mit Einschränkungen auch bei den Arbeitsämtern (Employment Service) mittlerweile die -; ansonsten vergleichsweise überaus liberale -; Umgangsweise mit MigrantInnen in ihr Gegenteil verkehrt. Insbesondere zahlreiche Angestellte in den Benefits Agencies gelten inzwischen als rassistisch. Die extra eingerichteten Betrugsdezernate scheinen regelrecht versessen auf die Identifizierung von »Illegalen« zu sein. Sie arbeiten eng mit der Innenbehörde zusammen, der es allerdings häufig an Ressourcen mangelt, die ihnen angezeigten Fälle auch konsequent weiterzuverfolgen.

Noch scheitert der regierungspolitische Versuch, Kontrollen bei den kommunalen Einrichtungen zu intensivieren bzw. zu institutionalisieren, jedoch noch weitgehend an der über Jahrzehnte eingeübten Behördenpraxis, ihre Unabhängigkeit zu pflegen, an strengen Datenschutzrichtlinien, an den Vorgaben der Antidiskriminierungsgesetze und einer allgemein ablehnenden Haltung der meisten Angestellten. Der Zugang zu nicht-monetären Leistungen -; Gesundheit, Ausbildung, Sozialarbeit, Rechtshilfe -; ist dabei wesentlich unkomplizierter als die Inanspruchnahme von Sozialhilfe oder Wohngeld.

Einwanderungsbehörde und Polizei

Die britische Einwanderungsbehörde, das Home Office Immigration and Nationality Department, hat zwei Abteilungen: das Immigration Service Ports Directorate mit 2.500 Beamten für die unmittelbaren Einreisekontrollen und das Immigration Service Enforcement Directorate mit 560 Beamten, die für Ermittlungen und Fahndung im Landesinneren und Abschiebungen zuständig sind. Zur Ermittlung von »Illegalen« stehen der Behörde für den Großraum London (über 10 Mio. Einwohner) lediglich 88 Angestellte, darunter 67 Einwanderungsbeamte, zur Verfügung, die sich zudem noch auf zwei Schichten verteilen. Zusätzlich gehören zu ihrem Einsatzbereich noch die umliegenden landwirtschaftlichen Gebiete. Auf einen Londoner Stadtteil (mit einer Viertel bis zu einer halben Mio. Einwohner, davon häufig 25 bis 45 Prozent schwarz) kommt somit statistisch betrachtet lediglich ein Mitarbeiter des Immigration Service. Die Behörde arbeitet, meist ohne den Einsatz von Computern, von einer Zentrale in der City von London aus. Alle zusammengetragenen Daten werden in heutzutage altertümlich anmutenden Ordnern festgehalten, was weder besonders übersichtlich noch effizient ist. Akten wandern von Schreibtisch zu Schreibtisch, von Behörde zu Behörde. Manchmal sind sie nicht unbedingt da, wo sie sein sollten. Oftmals fehlen wichtige Angaben. Dies kann sich in bestimmten Fällen auch zum Nachteil von MigrantInnen auswirken, wenn z.B. Anträge nicht bearbeitet werden können. Oftmals können sie jedoch von dieser Praxis profitieren, wenn z.B. am Ende ein Bleiberecht eingeklagt werden kann, weil sich die Ermittlungen über Jahre hingezogen haben. Flüchtlinge oder MigrantInnen mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis (temporary admission) oder Duldung (z.B. nach Ablehnung ihres Asylantrags) müssen sich in der Regel einmal im Monat im Londoner Büro melden. Bei dieser Gelegenheit ist es schon häufiger vorgekommen, daß sie verhaftet und innerhalb kürzester Zeit abgeschoben wurden.

Viele Beamte der Einwanderungsbehörde pflegen regelrecht ihre rassistischen Stereotypen, auch wenn in den meisten Fällen so getan wird, als seien sie vollkommen neutral. Auf der Liste der beliebtesten Feindbilder stehen zur Zeit Menschen aus Nigeria, Ghana und Jamaika an oberster Stelle. Früher bezog sich die Ablehnung vor allem auf Einwanderer aus Indien, Pakistan oder Bangladesch. Gegenüber »weißen« MigrantInnen aus Osteuropa, der ehemaligen Sowjetunion, den baltischen Ländern oder der Türkei scheint es weniger Vorbehalte zu geben. Ginge es allein nach dem Willen der Regierung, sollten alle abgelehnten AsylbewerberInnen -; unabhängig von ihrer Herkunft -; im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Die bisher in England gängige Praxis, den Großteil der Asylanträge -; ähnlich wie in allen anderen westeuropäischen Staaten -; als unbegründet abzulehnen, jedoch nicht konsequent dafür zu sorgen, daß auf Ausreiseaufforderungen auch Taten folgen, soll sich unter der neuen Labour-Regierung nun ändern. Es soll in Zukunft nicht mehr länger hauptsächlich darum gehen, Flüchtlinge und MigrantInnen vom Sozialhilfebezug auszuschließen und somit die Statistiken zu schönen, sondern darum, sie tatsächlich loszuwerden. Angesichts eines 1997 öffentlich gewordenen Verdachts, 45.000 abgelehnte Asylsuchende könnten sich noch immer im Land befinden, wurden die Konservativen -; ausgerechnet von der britischen Arbeiterpartei -; beschuldigt, zu lasch mit Flüchlingen umzugehen.

Irreguläre MigrantInnen werden nach Angaben der offiziellen Stellen in den meisten Fällen »durch Informationen Dritter identifiziert, ein Drittel durch Anrufe bei der Polizei. Häufig werden sie bei anderen strafrechtlichen Ermittlungensverfahren entdeckt. (...) Bei etwa 20 Prozent der Fälle liegen Aktenüberprüfungen zugrunde, weitere 10 Prozent werden durch zielgerichtete Operationen und Recherchen durch die Einwanderungsbehörde aufgespürt.« (14)

In England gibt es bislang keinerlei sogenannte Schleppnetzfahndungen, und auch verdachtsunabhängige Identitätsüberprüfungen gelten als unzulässig. Einzelne Einwanderungsbeamte haben inzwischen allerdings ihre eigene Taktik entwickelt, um diese rechtlichen Beschränkungen zu unterlaufen:

»Ich gehe durch die Eingangstür in ein Restaurant. Vorher habe ich einige Beamte am Hintereingang plaziert. Dann sage ich laut und vernehmlich, ich bin von der Einwanderungskontrolle und möchte den Chef sprechen. Das Wort macht die Runde, und es spricht sich schnell bis in die Küche herum. Alle, die dann durch den Hintereingang verschwinden, werden als Verdächtige behandelt und kontrolliert.«

Die Ermittlungsarbeit läuft beispielsweise so ab, daß ein Verdacht gegen eine konkrete Person entsteht:

»Der Arbeitgeber überreichte mir eine komplette Liste mit den Namen, Geburtsdaten und Adressen seiner Angestellten. Einige hatten ganz eindeutig englisch klingende Namen, die interessierten mich nicht. Bei den anderen, beispielsweise den west-afrikanischen Namen, habe ich schon mal genauer hingeschaut.«

Am Ende fand der entsprechende Beamte anhand der Liste fünf Verdächtige, die entweder abgelehnte Asylsuchende, Untergetauchte oder Personen ohne Registrierung sein konnten. Vier Monate nach Beginn der ersten Ermittlungen folgte die Razzia am Arbeitsplatz. Aufgrund der bereits erwähnten engen Personaldecke der Einwanderungsbehörde ist die Wirkung von Razzien und ähnlichen Operationen bisher eher beschränkt geblieben:

»Wir können nicht überall sein und all diese illegalen Immigranten aufspüren. Wenn wir einen Großeinsatz machen, versuchen wir, möglichst viel Öffentlichkeit zu bekommen. Wir plazieren die Razzien in den Medien, um in die Köpfe der Leute reinzubekommen, daß wir da sind.«

Razzien sollen dementsprechend vor allem der Abschreckung dienen und werden auch aus Sicht der staatlichen Verfolgungsbehörden nicht ernsthaft als Möglichkeit betrachtet, den Aufenthalt und Beschäftigung von »Illegalen« tatsächlich zu bekämpfen. Dieses Wissen spiegelt sich auch in unseren Interviews wider: Fast alle der Befragten hatten schon einmal von diesen Kontrollen am Arbeitsplatz gehört, hatten aber kaum Angst, im Alltag selbst einmal auf diese Art erwischt zu werden. Die Rechtsgrundlage für solche Razzien ist folgendermaßen: 1. Es muß anhand der Aktenlage versucht werden, eine eindeutig identifizierte Person ohne Aufenthaltserlaubnis festzunehmen. (Ein bloßer Verdacht, daß sich irgendwo »Illegale« aufhalten könnten, reicht nicht aus.) 2. Bisher mußte jeder Durchsuchungsbefehl und jede Festnahme von der Polizei vollstreckt werden, da Einwanderungsbeamte dazu nicht befugt waren. (Mit dem neuen Asylum and Immigration Act werden sie diese Vollmacht jedoch erhalten.)

Vor allem aber wird die Möglichkeit, unbehindert Razzien durchzuführen, durch die lokalen politischen Kräfteverhältnisse bestimmt bzw. begrenzt. »Arbeitgeber würden sofort zu dem lokalen Parlamentsabgeordneten laufen und sich beschweren.« »Mehr Razzien bedeuten am Ende, daß du sofort weitere Leute hast, die auf Arbeitslosengeld angewiesen sind.« »Die Stadträte sagen, Razzien würden die Beziehungen zur Community verderben.« »Manche Communities würden sich das nicht gefallen lassen und beginnen, die Polizei anzugreifen.« Es ist vor allem die Erinnerung an die gewaltsamen Aufstände der 80er Jahre, die sich meist an Polizeischikanen und Übergriffen entzündet hatten, die einen Teil des Polizeiapparats dazu gebracht hat, heute wesentlich vorsichtiger mit sogenannten ethnischen Minderheiten umzugehen. Einige Polizeichefs lehnen sogar bis heute explizit jede Kooperation mit der Einwanderungsbehörde ab.

Seit einigen Jahren setzt die Behörde vor allem Sondergruppen auf bestimmte Formen der »illegalen« Beschäftigung und Muster des »illegalen« Aufenthalts an. Bisher gab es die Schwerpunkte: illegale Beschäftigung im Hotel- und Gaststättengewerbe und sogenannte Scheinehen, zu deren Ermittlung eng mit den Standesämtern zusammengearbeitet wird. Richtiggehend »spitz« ist die Einwanderungsbehörde bei Ermittlungen gegen die »illegale« Beschäftigung in der Landwirtschaft, also auf Einsätze außerhalb der Großstädte und weit ab von den großen »schwarzen« Communities. Diese richten sich vor allem gegen osteuropäische MigrantInnen, insbesondere gegen die an sich legalen Subunternehmer, in deren »Gangs«, die sie an landwirtschaftliche Betriebe verleihen, sich auch Leute ohne Arbeitserlaubnis befinden. Seit 1996 gibt es eine behördenübergreifende Kampagne sowie gezielte Razzien gegen diese sogenannten »Gangmasters«.

Zufällige Begegnungen mit der Polizei, Verkehrskontrollen und -delikte, defekte Lichter am Auto, abgelaufene Versicherungskennzeichen, die Verwicklung in Unfälle oder strafrechtliche Ermittlungen von anderen Dienststellen führen -; im Vergleich zum »erfolgreichen« Ausgang der Einsätze der Einwanderungsbehörde -; wesentlich häufiger zur Entdeckung von »Illegalen« in England. Auch das wissen die MigrantInnen und haben ihre Überlebensstrategien inzwischen darauf abgestellt, der Polizei möglichst aus dem Weg zu gehen, in der Öffentlichkeit wenig ihre eigene Sprache zu benutzen und bestimmte Plätze zu meiden.

Aber auch gegenüber der Polizei kann der Appell an das -; durch die Antidiskriminierungsgesetze allgemein gestärkte -; antirassistische Bewußtsein in gewissen Situationen sinnvoll sein. So ist es z.B. einem »illegal« in England arbeitenden Türken gelungen, sich der Verhaftung zu entziehen, indem er sich über das diskriminierende Verhalten eines jungen Beamten beschwerte:

»Es war ein junger rassistischer Beamter. Er war sehr strikt mit mir und drohte mir damit, mich auszuweisen. Ich habe ihm mein Visa gezeigt und abgestritten, hier zu arbeiten, weil es dafür keine Beweise gab. Ich fragte die Beamten, wie sie sich fühlen würden, wenn ich einen Engländer in meinem Land so schlecht behandeln würde wie sie mich. Der Chief Inspector hat sich dann bei mir entschuldigt und gesagt, ich solle in Zukunft nicht mehr schwarz arbeiten.«

Derselbe türkische Mann wurde im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Hausfriedensbruchs erneut von einem Polizeibeamten kontrolliert:

»Ich habe ihm gesagt, daß er nicht von der Einwanderungsbehörde ist und mich daher auch nicht nach meinen Aufenthalt befragen dürfte. Er hat sich dann entschuldigt und ist gegangen. Obwohl ich hier illegal bin, lebe ich in Frieden.«

Auch ein anderer polnischer Mann berichtete uns von seinen überraschenden Begegnungen mit der Londoner Polizei:

»Als ich gearbeitet und eine Wand gemauert habe, kamen zwei Polizisten auf mich zu. Ich wurde ziemlich nervös, aber sie haben einfach angefangen, freundlich mit mir zu plaudern. Es gab keinerlei Probleme.«

Es ist davon auszugehen, daß sich auch die Einwanderungsbehörde darüber im klaren ist, daß z.B. Polen über kurz oder lang zur EU gehören wird. Das bedeutet, daß die MigrantInnen, die sie heute noch überwachen sollen, morgen schon weitreichende Rechte haben können. Insofern ist der Aktionismus der Behörden gebremst. Um andere Gruppen, beispielsweise »illegale« Chinesen, macht die Einwanderungsbehörde ein großen Bogen, weil die chinesischen Stellen nicht kooperieren und keine abgeschobenen StaatsbürgerInnen aufnehmen. Auch Menschen aus Nigeria und Jamaika gelten als schwer auszuweisen, was die britischen Beamten allerdings nicht davon abhält, sie monatelang in Abschiebehaft zu stecken oder jahrelang auf die jeweiligen Botschaften und staatlichen Stellen einzuwirken. Zusammenfassend läßt sich für die Praxis der Einwanderungsbehörde folgendes festhalten: Bis auf wenige Ausnahmen sind die Beamten durchweg mit den gängigen Strategien irregulärer Aufenthalts- und Beschäftigungsformen vertraut. Sie kennen z.B. die Rolle von Sprachschulen, Arbeitsvermittlern und Zeitarbeitsfirmen. Es fehlt schlicht an den personellen und technischen Ressourcen, um tatsächlich wirksam zu werden. Eine effektive Kontrolle bricht sich zudem an der starken Antidiskriminierungsgesetzgebung sowie an der Weigerung der Angestellten in den meisten öffentlichen Diensten und Ämtern, eng mit der Einwanderungsbehörde zu kooperieren. Irreguläre Arbeits- und Aufenthaltspraktiken stehen zudem immer noch nicht besonders hoch im Kurs, wenn es um eine Prioritätenliste der in England zu bekämpfenden »Straftaten« geht. Identitätskontrollen im Landesinneren und Einsätze gegen »Illegale« stehen weiterhin unter einem hohen Rechtfertigungsdruck.

Die Perspektive der MigrantInnen

Die polnische Community

Die größte polnische Community findet sich im Westteil von London (insgesamt leben ca. 74.000 Polen und Polinnen in England), die vor allem auf die Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht. Hier gibt es ein Kulturzentrum, Kirchen und andere Einrichtungen, die vor allem von den schon lange ansässigen BewohnerInnen genutzt werden. Die heutigen MigrantInnen aus Osteuropa -; egal, ob sie nun aus Rußland, der Ukraine oder Polen kommen -; werden von den traditionellen Organisationen und Einrichtungen dieser Community in der Regel eher abgewiesen. Die meisten Flüchtlinge oder ArbeitsmigrantInnen, die in den letzten Jahren nach England kamen, wohnen vorwiegend in den ärmeren Stadtteilen im Osten von London. Eine Infrastruktur zur Unterstützung für die Neuankömmlinge aus Osteuropa existiert entweder gar nicht oder ist nur unzureichend.

Fast alle polnischen MigrantInnen, mit denen wir gesprochen haben, sind als TouristInnen eingereist. An der Grenze erhielten sie eine Aufenthaltsgenehmigung (entry clearance) in den Paß gestempelt, die sechs Monate gültig ist. Eine Visapflicht für polnische StaatsbürgerInnen gibt es in England bisher nicht. Die meisten unserer InterviewpartnerInnen hatten sich -; mit Hilfe der Erfahrungen von FreundInnen -; sehr gut auf die Einreisekontrollen vorbereitet. So wußten sie im Vorfeld, wie die Befragungen der Beamten ablaufen, was sie zu antworten und welche Nachweise sie vorzulegen hatten. Unseren Interviews zufolge wird etwa zwei Dritteln der in der Regel mit Bussen reisenden TouristInnen aus Polen der Grenzübertritt nach England verweigert. Vor der Zurückweisung müssen sie sich stundenlangen Befragungen unterziehen. »Als unser Bus in Dover ankam, wurde nur 7 von 50 Leuten die Einreise gestattet.« Die Begründung der Einwanderungsbehörde lautet gewöhnlich, daß die Betreffenden nicht glaubhaft machen können, TouristInnen zu sein. Hinweise darauf seien unzureichende Mengen an Geld, fehlende Hoteladressen, keine Einladung von in England lebenden Personen etc.. Manchmal können es auch die angegebenen Lebensverhältnisse in Polen -; kein Job, keine Familie -; sein, die von den Beamten dahingehend interpretiert werden können, die Einreisenden wollten eventuell gar nicht mehr in ihr Heimatland zurückkehren.

Zu den Routinemaßnahmen an der Grenze gehört inzwischen die Kontrolle der Kleidung. Sind in dem vorgelegten Paß keine alten Einreisestempel vorhanden, dafür in den getragenen und mitgeführten Kleidungsstücken jedoch englische Etiketten, kann es Schwierigkeiten geben. Dann wird unterstellt, die kontrollierte Person verschweige bewußt ihre Herkunft und ihre vorangegangenen Reisetätigkeiten, was oftmals als Anlaß für eine Zurückweisung ausreicht. Wenn Einladungen vorliegen, werden die in England lebenden Gastgeber häufig zu Kontrollzwecken angerufen, manchmal werden sie auch zum Flughafen zitiert, um sich zu zeigen, ihre eigene Situation zu erklären und die Gäste abzuholen. Einige unserer InterviewpartnerInnen berichteten, bereits mehrfach eingereist zu sein, zum Teil mit unterschiedlichen Identitäten. Diese Notwendigkeit erklärt sich aus der Praxis der Kontrollbehörden. Ist einmal die Einreise an der Grenze verweigert worden, wird dies in den Computern als refused entry festgehalten und kann zu weiteren Zurückweisungen führen.

»Die meisten Leute machen es so, daß sie zu zurück nach Polen gehen und mit einem brandneuen Paß wiederkommen. Da sie bei der Ausreise dein Visum nicht abstempeln, weiß auch keiner, wann du England verlassen hast. Dann reist du nach einer Woche oder vielleicht einem Monat wieder ein und sagst, du kommst nur für eine Woche, um deine Freunde zu besuchen.«

Auf diese Weise erhalten die PendlerInnen eine Aufenthaltserlaubnis für weitere sechs Monate. Im Fall einer vorherigen Abschiebung, die im Paß mit einem Einreiseverbot vermerkt wird, besteht die Lösung ebenfalls in der Beantragung eines neuen Reisepasses im Heimatland. Zurückgewiesene erzählten uns, sie seien in Frankreich auf Leute gestoßen, die ihnen gegen Geld (in der Regel 500 bis 600 DM) einen französischen Paß geliehen und sie an einen Reiseveranstalter vermittelt hätten. Nach der erfolgreichen Einreise nach England würden die Pässe gewöhnlich wieder zurückgegeben. Die Motivation der befragten MigrantInnen, nach England zu gehen, ist in der Regel mit dem Wunsch nach Aufbesserung ihres Einkommens verbunden.

»England ist ein Land, wo du Geld verdienen kannst. Die Leute in Polen reden darüber, wie und wieviel man verdienen kann. Wenn ich [in England] jeden Tag zur Schule ginge, wäre ich nicht in der Lage zu arbeiten und ich kann es mit nicht leisten, nicht zu arbeiten. Und es ist schwierig einen Job zu finden, der mit dem Schulbesuch zu verbinden ist. Wenn du abends arbeitest, bist du in der Regel sowieso zu müde, um morgens zur Schule zu gehen. So, was soll's also, auch noch für die Schule zu bezahlen? Und ich brauche auch keine Schule, um Englisch zu lernen. Du lernst viel mehr im Alltagsleben. Bei der Arbeit, wenn du einkaufen gehst oder Leute triffst.«

Etliche unserer InterviewpartnerInnen wurden von bereits in England lebenden Bekannten und Familienmitgliedern bei der Einreise unterstützt, manche von speziellen Agenturen regelrecht angeworben. Auf die Frage »Warum England?« erhielten wir unterschiedliche Antworten: »Weil du dich hier frei fühlen kannst und frei bist, anders als in Deutschland.« Weil sie bereits vorher wußten, daß sie dort als Bauarbeiter gute Chancen hätten. »Es ist ein Paradies für meinen Beruf.« Einige hoben außerdem hervor, daß sie bereits an der Schule in Polen Englisch gelernt hatten und ihre Sprachkenntnisse nun verbessern wollten. Die meisten erklärten allerdings lakonisch: »Viele Leute gehen nach England. Wir haben oft darüber geredet, und so bin ich halt auch gegangen.« Oder: »Es würde Spaß machen, ich würde nach Westen gehen und alle würden mich beneiden.«

Sie alle fanden innerhalb weniger Tage eine Beschäftigung. Manchmal werden innerhalb der polnischen Community auch Jobs »verkauft«. Dann kostet eine Vermittlung oder der Hinweis auf eine freie Stelle ca. 150 DM.

»Sie hatten einen Job für ihn arrangiert, bevor er aus Polen hierher kam, unter der Bedingung, daß er wöchentlich 75 DM von seinem Lohn dafür bezahlt. Ich finde jedoch, jemanden so auf Ewigkeit anzuketten, das ist wie bei der Mafia.«

Auch Arbeitspapiere, vor allem Sozialversicherungsnummern, werden gehandelt. Sie werden gegen 240 DM verliehen oder für 700 DM verkauft. Es sind gewöhnlich lediglich die Nummern, nur in Ausnahmefällen die richtigen Ausweise von Leuten, die entweder selbst nicht arbeiten oder bereits schon wieder ausgereist sind. Die allermeisten Anstellungen erfolgen in der Textilindustrie, gefolgt vom Bausektor, der Gebäudereinigung und dem Hotel- und Gaststättengewerbe. In den Gesprächen gab es Andeutungen auf Prostitution, die vor allem in den Hinterzimmern von Cafés oder Restaurants stattfinden soll. Außerhalb Londons arbeiten viele polnische Menschen in der Landwirtschaft. Die meisten der Betriebe oder Unternehmen, bei denen sie beschäftigt sind, werden wiederum von (ehemaligen) MigrantInnen betrieben, meist von türkischen oder indischen UnternehmerInnen. Von den vorgefundenen Arbeitsbedingungen zeigten sich viele zunächst schockiert: »Es war entsetzlich, in dieser Fabrik sein zu müssen, in dieser Kälte.« »Kein Mensch in Polen arbeitet so viele Stunden.« »Das Geld hätte ich auch in Polen verdienen können.« Die Bezahlung lag in der Anfangszeit zwischen 270 und 360 DM pro Woche oder 4,50 und 7,50 DM pro Stunde. (15) Viele schaffen es jedoch innerhalb kurzer Zeit, sich zu verbessern und Stundenlöhne zwischen 10,50 und 18 DM, z.B. in einer Textilfabrik, oder 900 DM wöchentlich für Wohnungsrenovierungen zu verdienen. Insbesondere die neu ankommenden MigrantInnen werden oft betrogen. Es ist gängige Praxis, daß sie »auf Probe« eingestellt werden, zwei oder mehrere Wochen unterbezahlt oder ohne jegliche Vergütung arbeiten müssen und am Ende wieder entlassen werden. Oftmals werden die Menschen ganz um ihren Lohn geprellt.

»Er ging zu einer Baustelle und fragte, ob er dort einen Job bekommen könnte. Der Vorarbeiter sagte: ›Klar, wann willst du anfangen? Von mir aus kannst du schon morgen früh anfangen. Aber du kannst nur 5 Stunden am Tag arbeiten. Ich bezahle dich, aber ich kann dich nicht wöchentlich, sondern nur alle zwei Wochen bezahlen.‹ So arbeitete er also 14 Tage und als er die folgende Woche zur Baustelle ging, fand er heraus, daß seine Firma ihre Tätigkeiten eingestellt hatte. Es gab jetzt eine andere, die die Elektrik machte. Den, den er fragen konnte sagte nur: ›Von welcher Firma redest du? Wir haben keine Subunternehmer hier. Ich weiß nicht, was du von uns willst.‹ Es gibt viele solcher skrupellosen Unternehmer hier.«

Mittlerweile beginnt sich innerhalb der osteuropäischen Community herumzusprechen, daß StaatsbürgerInnen Polens, der Slowakei oder Tschechiens nach dem EWU-Abkommen auch in England das Recht auf unternehmerische Tätigkeiten haben und daß man nach dem European Union Association's Agreement als selbständig Beschäftigter eine Aufenthaltsgenehmigung oder ein business visa beantragen kann. So hat ein Handwerker etwa, der als einfacher Arbeitnehmer in England keine Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigung erhalten würde, die Möglichkeit, mit seinem Werkzeugkoffer zu einer Baustelle zu gehen und sich dort als Selbständiger oder Subkontraktor anzubieten. Es gibt bereits die ersten Steuerberatungsbüros, die sich darauf spezialisiert haben, gegen entsprechende Bezahlung komplette Geschäftspläne und Kalkulationen zur Vorlage beim Innenministerium zusammenstellen. Ein von uns befragter Beamter dieser Behörde räumte ein, daß es mit dieser Art von Anträgen bisher noch wenig Erfahrungen gäbe und die Kriterien zur Bearbeitung »dieses Schlupfloches« noch nicht ausreichend entwickelt seien.

Die meisten der befragten ArbeitsmigrantInnen leben in sogenannten »polnischen Häusern«, das sind in der Regel größere Mietshäuser mit polnischen Landlords, die die Wohnungen und Zimmer, manchmal auch nur »Bettstellen«, ausschließlich an ihre Landsleute, deren Bekannten und Familienmitglieder weitergeben. In der Regel nehmen sie außerhalb der kostenlosen Gesundheitsversorgung keinerlei Sozialleistungen oder öffentliche Dienste in Anspruch. Manchmal ist eine Arbeitsstelle auch an eine bestimmte Unterkunft gekoppelt, was die soziale Kontrolle durch Verwandte, Arbeitgeber und Vermieter noch verstärken kann. Viele unserer GesprächspartnerInnen sprachen von großem Mißtrauen innerhalb der polnischen Community und von der Angst, denunziert zu werden. »Die meisten Polen wissen über deine Lage hier Bescheid und versuchen dieses Wissen gegen dich zu benutzen, sooft sie nur können.« »Viele Polen beneiden dich um das, was du erreichst hast, vor allem um einen guten Job.« »Es gibt inzwischen zu viele Leute, die Arbeit suchen.« »Ich bin soviel Feindseligkeit auf Seiten polnischer Leute begegnet. Sie wollen dir überhaupt nicht helfen.« »Am Anfang haben wir bei meinem Onkel gewohnt. Der hat uns dann die Polizei auf den Hals gehetzt, weil wir einen Streit wegen der Miete hatten.«

Die kurdisch/türkische Community

Die kurdisch/türkische Community in England geht vor allem auf die Einwanderung aus dem ehemals englisch regierten Zypern während der 50er und 60er Jahre zurück. Zu Beginn der 80er Jahre gab es eine weitere große Zuwanderungswelle direkt aus der Türkei. Die meisten Kurden und Kurdinnen flüchteten ab 1988 in großer Zahl nach England. Allein in jenem Jahr kamen innerhalb weniger Wochen rund 5.000 Menschen, worauf die Thatcher-Regierung eine Visapflicht einführte. Heute leben in London etwa 90.000 türkisch- und kurdisch-sprachige MigrantInnen, darunter 40.000 aus dem türkischen Teil Zyperns und etwa 15.000 Kurden und Kurdinnen. Sie konzentrieren sich auf die benachbarten Stadtteile Hackney, Haringey, Islington, Edmonton und Walthamstow im Nordosten von London. Viele Hauptstraßen in diesen Vierteln sind von türkischen oder kurdischen Geschäften, Cafés, Banken oder Reisebüros geprägt. Auch Anwaltsbüros und Nachbarschaftszentren sind zahlreich vorhanden. Insgesamt verfügt die Community über eine hervorragende soziale und politische Infrastruktur.

Zwanzig von 25 unserer GesprächspartnerInnen gaben als Grund für ihre Migration politische Gründe an, obwohl nicht alle auch tatsächlich einen Asylantrag stellten. Darüber hinaus wollten sie Englisch lernen, studieren, als Au pairs arbeiten, insgesamt ihre Situation verbessern. Vor allem viele Frauen berichteten, daß sie vor schlechten Lebensbedingungen und Armut geflohen seien. Für die meisten war die Arbeitsaufnahme und ein verbessertes Einkommen eher ein nachrangiges Motiv. Anders als die polnischen MigrantInnen, die hauptsächlich mit einem Touristenvisum einreisten, gibt es innerhalb der kurdisch/türkischen Community zahlreiche Erfahrungen mit organisierten Fluchthelfern und Agenten, viele TürkInnen und KurdInnen sind mit falschen oder geliehenen Papieren ins Land gekommen. Ein Drittel der Befragten waren Asylsuchende, ein Drittel StudentInnen, andere waren als Au pairs oder TouristInnen eingereist. Etliche haben im Laufe ihres Aufenthalts in England ihren Status gewechselt und z.B. nach Ende ihres Studiums einen Asylantrag gestellt. »Ich habe England gewählt, weil dort die Demokratie funktioniert.« »Die Bedingungen für Asylsuchende sind hier besser. Du kannst zur Schule gehen oder studieren, solche Möglichkeiten gibt es in Deutschland nicht. Außerdem ist England der Türkei voraus, hier werden die Menschenrechte stärker respektiert.« Für andere spielte es keine Rolle, wohin sie gingen. Sie wollten nur weg aus der Türkei. »Zu der Zeit war es mir egal, wohin ich gehen würde. Die Schleuser haben das entschieden. Wir mußten das Land verlassen und hatten keine große Wahl.« Andere hatten allerdings bereits Verwandte oder Bekannte in London. Die, die bei Familienangehörigen unterkamen, hatten meist ein Touristenvisum und blieben »illegal« im Land (overstaying). Fast alle, die als Au pairs arbeiteten, haben nach wenigen Monaten ihre Familien verlassen. Sie beschwerten sich über die Ausbeutung durch ihre ArbeitgeberInnen, unerträgliche Wohn- und Arbeitsbedingungen, über die mangelnde Zeit, Englisch zu lernen, und in einigen Fällen über sexuelle Belästigungen. In der Regel hatten sie keine großen Schwierigkeiten, einen neuen Job oder eine andere Unterkunft zu finden. Insofern sie nicht angezeigt werden, erlaubt ihnen der Status als Au Pairs einen zweijährigen legalen Aufenthalt, der eine Sozialversicherungsnummer mit einschließt. Türkische oder kurdische StudentInnen dagegen dürfen nur eingeschränkt arbeiten; AsylbewerberInnen können erst nach sechs Monaten Aufenthalt eine Arbeitserlaubnis beantragen. Nach Ablauf der offiziellen Aufenthaltsfrist oder nach einem abgelehnten Asylverfahren entscheiden sich viele, im Land zu bleiben. Die während ihres legalen Aufenthalts erworbenen Sozialversicherungs- und Steuernummern werden gewöhnlich weiter benutzt. Regelüberprüfungen der Sozial- oder Innenbehörden, wie auch Paßkontrollen, sind bis heute eher die Ausnahme, es sei denn, es werden staatliche Sozialleistungen beantragt.

Türkisch-sprachige MigrantInnen arbeiten hauptsächlich in der Textilindustrie und im Gaststättengewerbe, d.h. in den zahlreichen Kebab Shops, Cafés, Burger Bars, aber auch in kleinen Supermärkten. Ein kleinerer Teil hält sich mit Putz- oder Renovierungsjobs oder Tätigkeiten auf dem Bau über Wasser. Diese Jobs sind zum Teil auf wenige Stunden in der Woche beschränkt und bieten keinerlei Sicherheiten. Arbeits- bzw. Erwerbslosigkeit scheint ein größeres Problem zu sein als innerhalb der osteuropäischen Communities. Hinzu kommt eine vergleichsweise niedrigere »soziale Mobilität«. Unabhängig vom Aufenthaltsstatus oder der Aufenthaltsdauer bleiben türkische und kurdische MigrantInnen tendenziell in der niedrig entlohnten Schattenökonomie hängen.

Solidarische Freundes- und Familenzusammenhänge sind daher oftmals von existentieller Bedeutung. Einige unsere InterviewpartnerInnen gaben an, monatelang finanziell unterstützt worden zu sein, andere wohnen umsonst bei Freunden oder werden im Haushalt von Verwandten einfach mit versorgt. »Als die Dinge nicht so gut liefen für mich, als ich kein Geld hatte, haben Freunde mir welches gegeben. Sie sagen, sie machen das gerne, bis sich meine Lage verbessert hat.« »Ich lebe normalerweise mit Freunden zusammen und teile des Essen mit ihnen.« »Ich lebe mit Freunden, ich zahle keine Miete.«

Jene, die einen legalen Status haben, nehmen -; soweit dies möglich und nötig ist -; Sozialhilfe, Wohngeld oder Familienbeihilfen in Anspruch. Oftmals wird auf zusätzliche Erwerbsmöglichkeiten zurückgegriffen. Manchmal ist das völlig legal, weil die Löhne so niedrig sind, daß aufstockende Sozialhilfe (social benefits) oder Familienbeihilfe (working family tax credit) gewährt wird. Häufig handelt es sich jedoch um sogenannte »Schwarzarbeit«.

Zusammenfassung

Unsere Interviewergebnisse deuten an, daß polnische MigrantInnen in England ihr Überleben tendenziell eher individuell organisieren. Sie fühlen sich in den meisten Fällen nur ihren nächsten Familienangehörigen gegenüber verantwortlich. Auf die Hilfe von FreundInnen oder Verwandten können sie nur in der Anfangsphase zählen. Da die meisten keinen regulären Aufenthaltsstatus besitzen, können sie auch keinerlei Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Innerhalb der kurdisch/türkischen Community scheinen solidarische Beziehungen, gegenseitige Unterstützung und Vertrauen eine wichtigere Rolle zu spielen. Viele KurdInnen und TürkInnen leben schon länger im Land und können sowohl Sozialhilfe beziehen wie auch zusätzlich einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Für die meisten polnischen MigrantInnen besteht das Ziel in einem zeitlich befristeten Aufenthalt in England oder einem Aufenthalt, der von Aus- und erneuten Einreisen geprägt ist. Da Polen nicht allzu weit entfernt liegt und damit die Busreisen auch zu finanzieren sind, liegen hierfür günstige Rahmenbedingungen vor. So gaben etliche unserer GesprächspartnerInnen an, daß sie für einen Arztbesuch, einen Krankenhausaufenthalt oder eine Entbindung nach Hause fahren. Andere Gründe waren der Besuch von Familienfeiern oder die temporäre Pflege von kranken Angehörigen. Die vorherrschende Strategie scheint darin zu bestehen, sich möglichst lange legal im Lande aufzuhalten und notfalls wieder auszureisen, um mit einem neuen Paß zurückzukehren. Geht es um einen längerfristigen legalen Aufenthalt, wird häufig die Heirat, entweder mit englischen StaatsbürgerInnen oder MigrantInnen mit einem festen Aufenthaltsstatus, als Lösung gewählt. Das Hauptziel der meisten polnischen MigrantInnen besteht jedoch in der Arbeitsaufnahme, für die es kaum legale Möglichkeiten gibt. Der legale Aufenthalt mit einem Touristenvisum wird in der Regel mit »illegaler« Erwerbstätigkeit kombiniert.

Türkisch/kurdische MigrantInnen dagegen planen gewöhnlich einen langfristigen Aufenthalt in England. Sie wollen oder können -; meist aus politischen Gründen -; nicht zurück in ihr Heimatland. Oftmals wurde und wird schon bei der Einreise ein Antrag auf Asyl gestellt, in manchen Fällen erst nach Ablauf ihres Studiums oder Au-pairs-Aufenthalts oder wenn sich keine andere Möglichkeit mehr bietet. Ihr Aufenthalt in England ist geprägt von Phasen der Legalität und Illegalität.

Betrachtet man noch einmal gesondert die Aussagen zur Bedeutung der eigenen Community, so läßt sich auch hier bei den in England lebenden polnischen Befragten eher eine ausgeprägt individualistische Haltung feststellen. Weder gab es Hinweise auf funktionierende kollektive Zusammenschlüsse, noch scheinen Beratungsstellen oder Community-Organisationen eine große Rolle zu spielen. Obwohl es einen Markt für Informationen und Hilfestellungen gibt, scheint dieser ausschließlich von ökonomischen Interessen geprägt zu sein. Gegenseitiges Mißtrauen und Angst vor Denunziationen scheinen weit verbreitet zu sein, so daß viele MigrantInnen -; nach Überwindung der ersten Anlaufschwierigkeiten -; dazu neigen, sich möglichst schnell von der polnischen Szene abzusetzen und ihre ökonomische Situation zu verbessern. Ihr vorrangiges Ziel scheint, sich möglichst schnell an die Anforderungen des Marktes anzupassen, dessen Grundbedingungen -; Konkurrenz, Wettbewerb, Ausbeutung und Profitstreben -; im allgemeinen akzeptiert werden. Darin spiegelt sich sowohl die Anpassung an die neoliberale Wettbewerbsideologie als auch an die Strategie der Einwanderungsbehörde wider, offen für Denunziation zu werben. Aus dieser Annahme der Wettbewerbsideologie wird andererseits das Recht abgeleitet, sich auch als polnische StaatsbürgerInnen und OsteuropäerInnen frei auf diesem Markt bewegen zu können. Der immer wieder hervorgehobene Wunsch, »ganz normal in England arbeiten zu können«, impliziert die Forderung nach »offenen Grenzen für ArbeitsmigrantInnen” bzw. nach dem allgemeinen »Recht auf Erwerbstätigkeit« unabhängig von der jeweiligen Staatsbürgerschaft.

Die von uns vorgefundene Haltung innerhalb der kurdisch/türkischen Community läßt einen entscheidenden Unterschied im Grundverständnis von gesellschaftlichen und sozialen Beziehungen erkennen. Im Zentrum steht eine gut funktionierende Gemeinschaft, die auf einem dichten Netz von Beratungsstellen und sozialen Dienstleistungsangeboten, auf engen verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen und auf den Prinzipien des gegenseitigen Austausches und der gegenseitigen Hilfe (im Gegensatz zu rein marktförmigen Beziehungen) basiert. Die von uns befragten türkisch-sprachigen MigrantInnen zeigten alle ein ausgeprägtes Klassenbewußtsein, aus dem ein klares Verständnis von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen hervorgeht. Selbst die schon länger in England ansässigen TürkInnen und KurdInnen mit einem legalen Aufenthaltsstatus beschrieben ihre ökonomische Situation als über die Jahre gleichbleibend schlecht. Sie gingen zum großen Teil denselben Tätigkeiten nach wie zu Beginn ihres Aufenthaltes und litten weiterhin unter beengten Wohnverhältnissen. Dem global organisierten Kapital und den vorherrschenden marktförmigen sozialen Beziehungen versuchen sie einerseits ihre lokalen Selbsthilfestrukturen entgegenzusetzen, und andererseits die Idee einer international organisierten, klassenbewußten Arbeiterschaft.

13 Jahre illegal

Obwohl sich die eigentliche Forschungsarbeit auf nur zwei Communities konzentrierte, soll an dieser Stelle noch ein konkreter Fall beschrieben werden, der stellvertretend für viele andere in England steht. Basiru (Name geändert), den ich während einer Feier von erfolgreichen Anti-Abschiebungskampagnen kennenlernte, ist afrikanischer Herkunft und kam als Student ins Land, um hier Buchhaltung zu lernen. Nach Abschluß seines Kurses erhielt er eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um noch ein Praktikum im öffentlichen Dienst zu absolvieren. Dort fragte man damals, es war 1985, nicht nach seinem Immigrationsstatus oder gar einer Arbeitserlaubnis. Nach Beendigung des Praktikums wurde Basiru vom Finanzamt des Stadtrates als Buchhalter übernommen, worauf er heiratete und eine Familie mit vier Kindern gründete. Nach 12 Jahren Arbeit im öffentlichen Dienst machte er sich mit einem Laden selbständig, außerdem entschied die Familie, noch ein weiteres Kind zu adoptieren. Als die Adoptionsstelle als erste staatliche Behörde nach zahlreichen Jahren seine Papiere kontrollierte, stellte sich heraus, daß er all die Zeit ohne einen legalen Aufenthaltsstatus in England gelebt hatte. Basiru ist beileibe kein Einzelfall. Vor der Verschärfung der Visapflicht sowie des Einwanderungs-, Sozial- und Arbeitsrechts war es unproblematisch, einzureisen und nahezu unbehelligt -; auch ohne Stempel und Papiere -; ein vollkommen normales Leben zu führen. Die großen »schwarzen« Communities und Stadtteile mit einer guten Infrastruktur von und für MigrantInnen boten vor allem asiatischen, afrokaribischen und afrikanischen ZuwanderInnen zahlreiche Integrationsangebote und einen relativ guten Schutz vor staatlichen Kontrollen. Zudem gibt es ein -; lange Zeit unter Verschluß -; gehaltenes Dokument der Einwanderungsbehörde (UK Immigration Service: General instructions to the Immigration Service, Chapter 35 genannt), das eine Reihe von Konzessionen für all jene bereithält, die sich schon länger, aber ohne offizielle Erlaubnis im Lande aufhalten. Nach einem siebenjährigen Aufenthalt dürfen MigrantInnen, die ohne Papiere aufgegriffen werden, nicht mehr automatisch abgeschoben werden. Sie haben die Möglichkeit, unter Angabe von humanitären und persönlichen Gründen Widerspruch gegen eine drohende Ausweisung einzulegen. Wer mehr als zehn Jahre legal im Land gelebt hat, bevor er/sie illegal wurde, oder wer vierzehn Jahre ganz oder zeitweise illegal war, soll nach Auffassung der Behörde gar nicht mehr abgeschoben werden.

Auch Basiru konnte von dieser inoffiziellen Regelung profitieren. Nach einer langen und aufwendigen Kampagne konnte er schließlich seinen Fall gewinnen und in England bleiben. Andere gingen aus den langjährigen Auseinandersetzungen um ihren weiteren Aufenthalt -; eine Zeit, die von einem permanenten psychologischen Ausnahmezustand und der Furcht vor Abschiebung geprägt ist, selbst wenn sie am Ende erfolgreich waren -; gezeichnet und traumatisiert hervor.

Die Arbeit von Solidaritäts- und Unterstützungssgruppen

In England lassen sich in groben Zügen drei unterschiedliche Typen von Initiativen ausmachen, die im Bereich der Flüchtlings- und Migrationspolitik aktiv sind: die staatlich geförderten, die vom Staat unabhängigen und die Selbstorganisationen bestimmter politischer oder ethnischer Gruppen und Kampagnen. Während sich einige auf rein karitative Tätigkeiten beschränken, begreifen sich andere als ausschließlich politische Initiativen, der Großteil leistet jedoch beides: konkrete Unterstützungsarbeit und politische Öffentlichkeits- und Kampagnenarbeit. Die staatlichen und kommunalen Geldgeber sind bemüht, die Projekte mit direkten Hilfsangeboten auf Kosten der radikal-oppositionellen Kräfte zu stärken und sie in das Verwaltungssystem zu integrieren. Die meisten Initiativen, wie auch die MigrantInnen selbst, haben ein klares Bewußtsein über die Funktion von »irregulären« Arbeitskräften innerhalb der britischen Gesellschaft:

»Die Unternehmen und Arbeitgeber heißen billige Arbeitskräfte immer willkommen.« »Sie helfen der Wirtschaft und dem Wettbewerb, weil sie zu sehr niedrigen Kosten produzieren können.« »Es gibt [durch die irregulären MigrantInnen] viele Restaurants, die billiges Essen verkaufen, und viele Märkte, wo man billige Kleidung erwerben kann.« »Würde man gegen die illegal Beschäftigten vorgehen, würde der Textilsektor bankrott gehen. Von daher werden sie vom Staat toleriert.« »Ich kann nicht sehen, daß die Behörden ein großes Interesse daran haben, illegale Beschäftigung von Einwanderern zu bekämpfen.«

Die meisten Initiativen bieten keine praktischen Lösungen an für Menschen, die keinen regulären Status haben. Entweder raten sie den Betroffenen, einen Asylantrag zu stellen oder sich die inoffizielle Regelung der Einwanderungsbehörde zunutze zu machen und mit humanitären Gründen auf ein Bleiberecht zu pochen. Einige, besonders private Dienste verweisen auf die Möglichkeit einer Heirat.

Fluchthilfe

Entweder wird die aktive Fluchthilfe von den Einwanderungsgegnern der Kriminalisierung unterworfen, oder sie wird als eine Möglichkeit der Unterstützungsarbeit von linker Seite totgeschwiegen. Bislang erhalten in England inhaftierte Fluchthelfer keinerlei politische, moralische oder praktische Solidarität von Seiten progressiver Organisationen. Fluchthilfe, d.h. der Transport von MigrantInnen oder die Organisierung von Papieren, wird in England streng verfolgt und kann, je nach Schwere der Tat, bis zu einer siebenjährigen Haftstrafe führen. Entscheidend bei der Höhe des Urteils ist die Anzahl der »eingeschleusten« MigrantInnen, wie auch der Nachweis, daß mit der Tat ein finanzieller Gewinn verbunden war. Gelingt es, humanitäre Gründe vor Gericht geltend zu machen, werden die Haftstrafen mit viel Glück auf ein Jahr beschränkt. Allein 1994 sind 124 Personen »wegen Beihilfe zur illegalen Einreise« in England verurteilt worden. Nicht wenige der Festgenommenen hatten versucht, von Abschiebung in anderen EU-Staaten bedrohte Flüchtlinge nach England in Sicherheit zu bringen. Die meisten landen in den südenglischen Gefängnissen von Canterbury oder Elmley und werden in der Regel nach Verbüßen der Hälfte der Strafe selbst aus England ausgewiesen.

Perspektiven

Bis heute gibt es in England keine politische Selbstorganisierung oder Bewegung von irregulären MigrantInnen oder ein eigenes zur Unterstützung dieser Menschen aufgebautes Netzwerk von Solidaritätsgruppen. Zwar bringt die Manchester Immigration Aid Unit einen Rundbrief mit dem Titel »No one is illegal« heraus, der jedoch wenig mit den von den Sans Papiers in Frankreich aufgestellten Forderungen zu tun hat. Es gibt darüber hinaus zahlreiche Initiativen, wie z.B. die National Coalition of Anti-Deportation Campaigns oder das Cross Roads Women's Centre, die die Notwendigkeit einer Selbstorganisierung durchaus sehen und sie in der Öffentlichkeit auch propagieren. Aber auf unsere Frage, wieso in England bisher weder eine selbstbestimmte Bewegung noch ein Unterstützungsnetzwerk wie »Kein Mensch ist illegal« in Deutschland oder »de witte jas« in Holland entstehen konnte, gab es keine zufriedenstellende Antwort.

Es ist aber wohl so, daß die Probleme vieler »Illegaler« in England bisher nicht ganz so brennend sind wie in den meisten anderen europäischen Ländern: Sie haben freien Zugang zur Gesundheitsversorgung und zum Schulsystem, mit Geld läßt sich immer noch relativ leicht eine Wohnung finden. Selbst die Jagd-Mentalität bei den staatlichen Behörden ist nicht besonders ausgeprägt und somit die Bedrohung, abgeschoben zu werden -; bei aller Grausamkeit für jene, die es dann doch erwischt -;, nicht ständig präsent. Für viele MigrantInnen und Flüchtlinge besteht die Möglichkeit, sich mit irregulärer Arbeit einen Lebensunterhalt zu verdienen, für einige bestehen sogar Aufstiegsmöglichkeiten. Außerdem existieren mit den 7-, 10- und 14-Jahres-Konzessionen in beschränktem Umfang individuelle Legalisierungsmöglichkeiten.

Andererseits gibt es zahlreiche Communities, die ohnehin schon in besonderem Maße von den bestehenden Benachteilungen auf dem Arbeitsmarkt betroffen sind und auf denen ein ungeheurer Druck lastet, mit wenigen Mitteln auch noch Angehörige und Bekannte ohne Papiere unterstützen zu müssen. Zudem wächst auch die Konkurrenz von Arbeitskräften, die sich innerhalb der Schattenökonomie tummeln, und steht dem Aufbau solidarischer Beziehungen im Weg. Die Tendenz zur Bildung von ethnischen Communities könnte sich in Zukunft noch weiter verstärken, da zwischen den Flüchtlings- und MigrantInnengruppen schon jetzt nur mangelhafte Kontakte bestehen. Auch das Verhältnis zwischen den etablierten »schwarzen« Communities und den neuen Flüchtlings- und MigrantInnengemeinschaften ist nicht gerade von Solidarität, sondern immer öfters von Ignoranz, bisweilen sogar von Ablehnung geprägt. In Anlehnung an die französischen Sans Papiers geschlossen zentrale Forderungen, Kampagnen und Organisationsformen zu entwickeln, bleibt deswegen auch für die englische Bewegung eine große Herausforderung. Selbst die vergleichsweise guten Ausgangsbedingungen eines irregulären (Über-)Lebens können über vorhandene politisch-kulturelle Blockaden nicht hinweg täuschen, die verantwortlich dafür sind, daß die für einen Selbstorganisierungsprozeß notwendigen Bedingungen und Stimmungen bislang gar nicht entstehen konnten. Es sollte die Frage erlaubt sein, inwieweit insbesondere das dichte Beratungsnetz nicht maßgeblich dazu beiträgt, die Individualisierung von Überlebenskämpfen voranzutreiben. Die meisten, denen mit juristischen Mitteln nicht mehr geholfen werden kann, werden oftmals ins »Nichts« entlassen oder auf Freunde und Familienangehörige als letzte Ressource verwiesen. Das kann sich aber in näherer Zukunft bald ändern: Auch in England liegen Initiativen zur Erkämpfung kollektiver Rechte und Ansprüche für die wachsende Anzahl von »Illegalisierten« durchaus in der Luft.

Franck Düvell

1 Es gibt in England bislang nur eine einzige, allerdings schon etwas ältere Publikation, die sich explizit mit dem Thema »Illegale« beschäftigt: Ardill, N., Cross, N. (1987): Undocumented lives -; Britain's unauthorised migrant workers, London: Runnymede Trust.

2 Der Aufsatz basiert auf einer zwischen 1996 und 1999 an der University of Exeter von Bill Jordan und Franck Düvell erhobenen Studie mit dem Titel Undocumented immigrant workers, die sich auf polnische und türkisch/kurdische MigrantInnen ohne Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis in Ost-London konzentrierte, sowie auf alle gesellschaftlichen Institutionen, mit denen sie in Kontakt treten. Insgesamt wurden etwa 100 Interviews geführt: 50 mit MigrantInnen, 25 mit Beratungsstellen und Unterstützergruppen, 15 mit Behörden des öffentlichen Dienstes und 7 mit der Einwanderungsbehörde. Allen Befragten wurde Vertraulichkeit zugesichert, weshalb im Texte keine Orts- oder Organisationsnamen genannt werden.

3 1976 wurde der Race Relations Act verabschiedet und zur Überwachung der Anti-Diskriminierungspolitik die staatliche Behörde Commission for Racial Equality (CRE) eingerichtet.

4 »Schwarz« hat sich vor allem in England als ein politischer Begriff durchgesetzt, der nicht auf die Hautfarbe abzielt, sondern sich auf all jene bezieht, die von Rassismus betroffen sind.

5 Schon mit Beginn der überseeischen Einwanderung begann die Bildung »schwarzer« Communities, strukturiert von einem Netz von Selbsthilfeinitiativen und Kampagnen gegen Benachteiligung, Chancenungleichheit, Polizeischikane und Rassismus. Die Konflikt spitzte sich zu, bis er zwischen 1975 und 1986 in eine Phase anhaltender Revolten und Aufstände (Riots) einmündete. Die Regierung wurde zu einer Reihe von Konzessionen und Richtungsänderungen gezwungen, die das Leben der etablierten Minderheiten stark verändert haben. Damit verbunden war jedoch ein Bedeutungswandel und Verlust »schwarzer« Kampftradition.

6 Vgl. National Audit Office (1995): Entry into the United Kingdom, London, S.14; Gordon, P.; Klug, F. (1985): British immigration controls, London, S.17.
7 Campsfield House, Oxford; Heathrow Airport; Tinsley House, Gatwick Airport; Haslar und Harmonsworth.

8 BBC 2, Panorama, 14. Juli 1997.

9 National Audit Office 1995; Hansard, 18.12.95; Hansard, 19.12.95; Hansard, 6.6.96.

10 Vgl. u.a. Daily Telegraph, 16. Juni 1997.

11 Mit der Verwendung der Begriffe ist jeweils eine moralische und politische Wertung beabsichtigt. Während mit »illegal« ein krimineller und mithin vorsätzlicher Rechtsbruch assoziiert wird, will »extralegal« diese juristische und populistisch daherkommende Vorverurteilung vermeiden.

12 Social Services Select Committee (1995): Report.

13 Werbner, P. (1990): Renewing an industrial past: British Pakistani entrepreneurship in Manchester, in: Migration, Berlin, 8/1990, S. 7- 41.

14 National Audit Office (1995): Entry into the United Kingdom, London, S. 20 ff

15 Der Wechselkurs lag zwischen 1997 und 1999 bei ca. 1:3 (£ 1 entspricht 3 DM). Da der Wert des britischen Pfundes zur Zeit jedoch tendenziell fällt, wird sich somit auch die mit den Löhnen verknüpfte Kaufkraft in Polen verringern.


zurück zu Das Königreich im Meer

heim zu Reisen durch die Vergangenheit