Der Fluch des Schwarzen Goldes

Ökonomischer Aufstieg und Fall Venezuelas

von Andreas Peters (Matices)

Seit seiner Entdeckung und Nutzbarmachung vor gut einem Jahrhundert entwickelte sich Erdöl zum unverzichtbaren Bestandteil der menschlichen Zivilisation und zum wichtigsten Energieträger unserer industriellen Gesellschaft. Das ‘Schwarze Gold’ reifte zum Synonym für Macht und Wohlstand und brachte den Produzenten grenzenlosen Reichtum. Diese Entwicklung schien sich lange Zeit auch für Venezuela zu bewahrheiten. Das Land zwischen Karibik und Äquator verfügt über enorme Ölvorkommen. Mit den unverhofften Devisen avancierte das Land zum vermeintlichen Prototyp einer ergeizigen Nation, die den Sprung in den Kreis führender Wirtschaftsmächte zu meistern schien.

Die Realität allerdings formt ein anderes Bild: Obwohl mit 3,1 Millionen Barrel täglicher Fördermenge zweitgrößter Exporteur von Rohöl und Gründungsmitglied der OPEC, kann das Land seine Kinder kaum noch ernähren. Nirgends ist die Ungleichheit des Reichtums und der daraus folgende Gegensatz zwischen reichen Minderheiten und den pauperisierten Massen der Landbevölkerung sichtbarer als in Venezuela. 270 Milliarden US$ hat das Erdöl dem Staat bisher eingebracht und doch leben über 70% der Bevölkerung nach wie vor in Armut. Die Antwort darauf scheint paradox: Während andere Länder ihre Probleme mit ihrer Armut begründen, scheint in Venezuela die Wurzel des Dilemmas sein vermeintlicher Reichtum zu sein. Erstickt Venezuela an seinem Öl?

Die Vorgeschichte zur derzeitigen mißlichen Lage reicht zurück bis in die 1920er Jahre. Damals lebte die Mehrheit der Bevölkerung an der Armutsgrenze. Analphabetismus und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen regionalen Führern kennzeichneten die Situation im Land. Unter der diktatorischen Herrschaft Juan V. Gómez wurden diese Streitigkeiten nach und nach unterdrückt, gleichzeitig trieb er den Ausbau der Infrastruktur voran. Mit der systematischen Ausbeutung der Erdöllager, seit den 1930er Jahren begann des Öl eine zentrale Rolle für die weitere Entwicklung des Landes zu spielen. Um seine Macht zu festigen verschenkte Gómez willkürlich Grund und Boden an Parteigänger und Mitglieder seiner Familie. Ganze Landstriche an der Küste wurden ohne Entschädigungen enteignet und lagen oft jahrelang ohne landwirtschaftlichem Nutzen brach. Nach und nach verkauften seine Günstlinge die Konzessionen zur Förderung von Erdöl an ausländische Firmen. Ölmulties aus den USA und England investierten große Mengen Kapital und dominierten so schnell den Außenhandel. In wenigen Jahren teilten sich drei große Gesellschaften das lukrative Geschäft. Die Nordamerikaner (vor allem Standard Oil) kontrollierten etwa zwei Drittel der Erdölinvestitionen, der Rest entfiel auf die britisch-holländische Shell-Gruppe. Zwischen 1920 und 1930 verdreifachten sich die Staatseinnahmen. Venezuela lebte weitgehend von den Deviseneinnahmen aus der Ausbeutung seines Erdöls und war so gleichsam abhängig von der übermächtigen Stellung der monopolistischen ausländischen Unternehmungen. Der bis dahin dominierende Agrarsektor wurde völlig vernachlässigt. Statt einer Entwicklung der Gesamtwirtschaft resultierte eine Verzerrung zugunsten des Exportsektors. Zwar blieb der Boden auch jetzt das zentrale Element, doch hatte sich dessen ökonomischer Wert unter die Oberfläche verlagert. Mit dem Strom der Petrodollars setzte ein rasanter Modernisierungs- und Urbanisierungsprozeß ein. Der neue Reichtum Venezuelas, wirkte sich zunächst positiv auf das politische Gefüge aus. Ende der 1950er Jahre setzte sich das demokratische Mehrparteiensystem durch, und das allgemeine Wahlrecht wurde eingeführt. Die politische Stabilität des Landes war nun für südamerikanische Verhältnisse geradezu beneidenswert. Von 18 Millionen Venezolanern, waren über 3 Millionen parteilich organisiert. Eine im globalen Vergleich beeindruckende Zahl. Andere Drittweltländer, insbesondere die Anrainerstaaten sahen in dem wirtschaftlichen Fortschritt ihres Nachbarn eine Meßlatte für die eigene Entwicklung. Das Geschick des Landes aber hing vom ausländischen, hauptsächlich nordamerikanischem Kapital ab und unterstand dessen Dekret.

Geburtsstunde der OPEC

Anfänglich wurde Venezuela mit 10% an den Gewinnen der Ölriesen beteiligt, doch 1943 wurde ein neues Erdölgesetz verabschiedet, das Venezuela mit 50%er Beteiligung noch größere Gewinne brachte. Nach dem Sturz des Diktators Marcos Pérez Jiménez. 1958 erarbeitete die neu gewählte Regierung ein langfristiges Entwicklungsprogramm, welches die verstärkte Kontrolle der Ölindustrie durch die Regierung und eine Stabilisierung des Ölpreises vorsah. Als es dann ein Jahr später zum Preisverfall des Rohöls kam, ließ die Regierung alle Lizenzen für ausländische Ölfirmen einfrieren. Den im Land tätigen Firmen wurde nahe gelegt, einheimische Kräfte einzustellen und auszubilden. Da eine einseitige Erhöhung des Preises aufgrund der starken Konkurrenz auf dem Ölweltmarkt nicht in Frage kam, forderte Venezuelas Ölminister Juán Pablo Pérez Alfonso 1960 kurzerhand alle ölfördernden Länder der dritten Welt zur Bildung eines Kartells auf. Das war die Geburtsstunde der OPEC. Sie sollte die Weltmarktpreise durch eine Kontrolle der Produktion beeinflussen und stabilisieren. Anfänglich nicht ernst genommen, spürte die erste Welt erstmalig 1973 im Krieg zwischen Israel und den arabischen Ländern die Macht der Organisation. Die Araber drosselten die Produktion und boykottierten Exporte nach Holland und den USA, um die anderen israelfreundlichen Nationen zu warnen. Über Nacht stiegen die Preise von drei auf fünf Dollar pro Barrel. In den darauffolgenden Jahren nutzten die OPEC-Nationen ihre neu entdeckte Macht und trieben den Ölpreis allmählich auf den heutigen Stand. Die Entwicklung übertraf die kühnsten Erwartungen.

Schnell beanspruchten die venezolanischen Staatsmänner einen wachsenden Anteil an den Erdölgewinnen für sich selbst. 1974 wurde mit der Verstaatlichung ausländischer Firmen begonnen, zwei Jahre später befand sich die gesamte Ölindustrie in staatlicher Hand. Trotz großer Entschädigungszahlungen kam es zu einer schweren Krise mit den USA, die zu diesem Zeitpunkt der Hauptabnehmer der Erdölprodukte waren. Obgleich die Produktion zwischen 1972 und 1980 um ein Drittel zurück ging, schnellten die Einkünfte des Staates für den gleichen Zeitraum von 5 Milliarden auf nahezu 37,5 Milliarden Mark hoch. Die Möglichkeit, über die Verteilung dieser Einkünfte im Land zu bestimmen, gab den jeweiligen Regierungen große Macht und verführte zur Wirtschaft in die eigene Tasche. Dabei orientierten sich die Politiker an den Wünschen der ausländischen Konzerne, die ihre Gelder ebenfalls lieber auf Schweizer Konten deponierten. Etwa 100 Milliarden US$ flossen Jahr für Jahr illegal aus dem Land. Das Geld, welches nicht ins Ausland abwanderte, floß zurück in die monoproduktive Wirtschaft. In ländlichen Gebieten blieben die Investitionen aus.

Im Rausch des Luxus

Im gleichen Zeitraum erreichte eine neue Form der Abhängigkeit das Land; die Sucht nach Konsum. Verlockende Kredite, das neu eingeführte Ratenzahlungssystem und die entmutigende Inflation hemmten den Sparwillen. Die einheimische Elite gab sich "cosmopolitan", und eine wohlhabende, politisch einflußreiche Mittelklasse genoß den höchsten Lebensstandard Lateinamerikas. Doch der Erwerb von vorwiegend ausländischen Luxuswaren schwächte die eigene Wirtschaft, weil er Investitionen zur Verbesserung der Produktion beeinträchtige. Kredite wurden für Konsumzwecke, verschwenderische Wahlkämpfe oder Prestigeobjekte zweckentfremdet. So erhielt Caracas 1973 für fast 6 Milliarden Mark ein vollklimatisiertes Untergrundbahnsystem. Luxuriöse Automobile aus Amerika und Europa bildeten lange Kolonnen in den Straßen der Hauptstadt. Die Autobahn der Metropole - La Guaira gilt noch heute als eine der kostspieligsten der Welt. 1979 überschritt der interne Konsum die Produktionsfähigkeit der eigenen Wirtschaft. Über 60% der Konsumgüter, die damals für einen Wert von 1.216 Millionen Bolivar eingeführt wurden, waren Luxusgüter. Die Große Nachfrage trieb die Preise von Luxusgütern in ungeahnte Höhen. Die Spitze des Konsumniveaus war erreicht.

Mit festgelegten Preisen für alle lebensnotwendigen Güter, versuchte die Regierung dieser Entwicklung entgegen zu steuern. Die Privatwirtschaft beantwortete die rigorose Preiskontrolle der Regierung mit einer Drosselung der Produktion, was schließlich zur teueren Einfuhr von Nahrungsmitteln zwang. Von einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht konnte nun nicht mehr die Rede sein. Das Monoproduktionssystem trieb die Abhängigkeit zu ausländischen Kapitalgebern mehr und mehr voran und verhinderte die Selbstentwicklung aus eigener Kraft. Der Optimismus der Venezuelaner wich der Enttäuschung. Die Bedingungen des Weltmarktes hatten 79/81 den Rückgang der Ölrendite durch Preiserhöhungen ausgeglichen, so daß die Einnahmen noch einmal steigen konnten. Wieder schien die Macht des Öls und die riesigen Gewinne nicht zu versiegen. Doch 1982 brach die Ölkrise voll durch. Was in Venezuela seit Jahrzehnten als Bedrohung empfunden worden war trat schließlich ein. Die wirtschaftliche Expansion des Landes kam endgültig zum Stillstand. Accion Democratica, die Partei des Präsidenten Andrés Pérez, mußte in die Opposition gehen. Luis Herrera Campíns und seine christlich-soziale Partei COPEI übernahmen die Macht. Doch das neue Regime entpuppte sich als noch unfähiger als die alte Obrigkeit. Die Bürokratie blähte sich um weitere 50.000 Staatsdiener auf. Während die Staatsausgaben schwindelerregende Höhen erreichten, fielen die Einnahmen um fast 5 Milliarden Dollar in nur einem Jahr. Die Ölpreissenkung und Exportquotenreduzierung der OPEC taten ihr übriges, um den Fall der venezolanischen Wirtschaft zu beschleunigen.

Lag die Verschuldung 1974 bei etwa 8 Milliarden Bolivar (BS), stieg sie bis 1979 um das 12 Fache auf über 100 Milliarden BS, 1982, nach dem internationalen Zusammenbruch der Ölpreise, schließlich auf 150 Milliarden BS. Autonom handelnde Staatsbürokraten sowie die Privatunternehmer hatten bei den internationalen Banken unkontrolliert und teilweise verfassungswidrig enorme Kredite aufgenommen. Wurden die erste Darlehen noch für staatliche Investitionen verwendet, dienten sie später eher zur Deckung der laufenden Kosten. Allein die Ausgleichszahlung des Jahres 1983 (rund 15 Milliarden US$) verschlang die gesamten staatlichen Öleinnahmen. So wurde die zukünftige Ölrente verpfändet. Versuche, sich ohne die Auflagen des IWF mit den Gläubigern auf eine Umschuldung zu einigen, zu der man die nötigen Devisen zu haben glaubte, scheiterten an der Geschlossenheit der internationalen Banken.

Gescheiterte Programme

Mit den Anpassungsprogrammen von 1989/90 versuchte die Regierung das Haushaltsdefizit auf Kosten von Rekordinflation und Verschlechterung der sozialen Bedingungen einzudämmen. Im Zeitraum von 1981 bis 1990 verdoppelte sich der Anteil der Beschäftigten, deren Einkommen unter der Mindesteinkommensgrenze lag. Für viele wurde das Benutzen der öffentlichen Verkehrsmittel, das Besuchen der Schulen oder die Preise für bestimmte Grundnahrungsmittel unbezahlbar. Nach Angaben der FAO mußten ca. 70% der Bewohner in den Ranchos, den Marginalsiedlungen rund um Caracas, mit einer Ernährung vorliebnehmen, die nicht einmal die Mindestmenge an lebensnotwendigen Nährstoffen enthielt. Ende 1989, kurz nach der zweiten Amtseinführung von Präsident Carlos Andrés Pérez, entlud sich der Volkszorn, und es kam zu blutigen Unruhen auf den Straßen der Hauptstadt. Die eilig herbei gerufene Armee wußte sich schon bald nicht anders zu wehren als kopflos in die aufgebrachte Menge zu schießen. Schätzungen über die Anzahl der Opfer schwanken zwischen einigen Hundert und mehr als 1000 Toten.

Die gewaltsamem Übergriffe erschütterten das demokratische System des Landes, und das Mißtrauen gegen die Regierung wuchs. Mit einer schwachen Wahlbeteiligung von nur 60% wählte man dann 1994 Rafael Caldera zum Präsidenten. Dieses Votum sollte sich jedoch als folgenschwerer Irrtum erweisen, denn nur kurze Zeit nach seiner Amtseinführung wurden wichtige Grundrechte abgeschafft. So wirft ihm Amnesty International schwerste Menschenrechtsverletzungen, wie Mißhandlung von Gefangenen, Inhaftierungen, Korruption und die Verfolgung politischer Gegner vor. Nur wenige waren deshalb erstaunt, als Hugo Chávez, der schon 1992 mit einem Putsch einen Machtwechsel versuchte und viel Sympathie im Volke genoß, im vergangenen Jahr mit 56% der Wählerstimmen die Präsidentschaftswahlen gewann. Ob sich der Ex-Militär und vermeintlich radikaler Gegner von Vetternwirtschaft und Korruption aber auch als „Demokrat“ etablieren kann wird sich noch zeigen müssen. Ausländische Investoren jedenfalls zögern noch aus Angst, Chavez könnte mögliche Privatisierungen rückgängig machen. Aber genau auf diese Kapital ist auch Chavez unbedingt angewiesen.

Die jüngsten Entwicklungen zeigen, daß das Land auf eine Krise zusteuert, die zum Brandherd neuer Unruhen werden kann. Der Ölpreisverfall trifft das südamerikanische Land weiterhin mit seiner ganzen Härte. Das „Venezuela-Syndrom“ kann alle Länder befallen, die am Tropf des Ölpreises hängen. In Algerien, Irak und Nigeria zeigen sich die gleichen Symptome und selbst das reiche Saudi-Arabien befürchtet eine Auslandsverschuldung. Der Staatsbankrott Venezuelas ist jedoch nicht allein durch Sparsamkeit und Verzicht abzuwenden. Auch einer Überziehung der vereinbarten Förderquote hilft nicht und führt lediglich zum Hader mit den anderen Mitgliedern der OPEC. Um die Probleme des Landes in den Griff zu bekommen, bedarf es einer politischen Neuorientierung und einer Reform des Wirtschaftssystems. Es ist zwingend erforderlich, die Industrie des Landes zu entwickeln, das Abwandern des Kapitals durch Steueranreize zu reduzieren und die Zuversicht in die eigene Wirtschaft wiederzugewinnen. Verkrustete Machtstrukturen müssen aufgebrochen, Korruption und Vetternwirtschaft beseitigt werden. So wie einst das Vertrauen an die Macht des Naphtas eine ganze Nation veränderte, so könnte der gemeinsame Glaube an die Zukunft die Verelendung überwinden - mit oder ohne Öl. Das schwarze Gold jedenfalls hat in Venezuela einen sehr bitteren Nachgeschmack hinterlassen.


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