Seit seiner Entdeckung und Nutzbarmachung vor gut einem Jahrhundert entwickelte sich Erdöl zum unverzichtbaren Bestandteil der menschlichen Zivilisation und zum wichtigsten Energieträger unserer industriellen Gesellschaft. Das ‘Schwarze Gold’ reifte zum Synonym für Macht und Wohlstand und brachte den Produzenten grenzenlosen Reichtum. Diese Entwicklung schien sich lange Zeit auch für Venezuela zu bewahrheiten. Das Land zwischen Karibik und Äquator verfügt über enorme Ölvorkommen. Mit den unverhofften Devisen avancierte das Land zum vermeintlichen Prototyp einer ergeizigen Nation, die den Sprung in den Kreis führender Wirtschaftsmächte zu meistern schien.
Die Realität allerdings formt ein anderes Bild: Obwohl mit 3,1 Millionen Barrel täglicher Fördermenge zweitgrößter Exporteur von Rohöl und Gründungsmitglied der OPEC, kann das Land seine Kinder kaum noch ernähren. Nirgends ist die
Ungleichheit des Reichtums und der daraus folgende Gegensatz zwischen
reichen Minderheiten und den pauperisierten Massen der Landbevölkerung
sichtbarer als in Venezuela. 270 Milliarden US$ hat das Erdöl dem Staat
bisher eingebracht und doch leben über 70% der Bevölkerung nach wie vor in
Armut. Die Antwort darauf scheint paradox: Während andere Länder ihre
Probleme mit ihrer Armut begründen, scheint in Venezuela die Wurzel des
Dilemmas sein vermeintlicher Reichtum zu sein. Erstickt Venezuela an
seinem Öl?
Die Vorgeschichte zur derzeitigen mißlichen Lage reicht zurück bis in die 1920er Jahre. Damals lebte die Mehrheit der Bevölkerung an der Armutsgrenze. Analphabetismus und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen regionalen Führern kennzeichneten die Situation im Land. Unter der diktatorischen Herrschaft
Juan V. Gómez
wurden diese Streitigkeiten nach und nach unterdrückt, gleichzeitig trieb er den Ausbau der Infrastruktur voran. Mit der systematischen Ausbeutung der Erdöllager, seit den 1930er Jahren begann des Öl eine zentrale Rolle für die weitere Entwicklung des Landes zu spielen. Um seine Macht zu festigen verschenkte Gómez willkürlich Grund und Boden an Parteigänger und Mitglieder seiner Familie. Ganze Landstriche an der Küste wurden ohne Entschädigungen enteignet und lagen oft jahrelang ohne landwirtschaftlichem Nutzen brach. Nach und nach verkauften seine Günstlinge die Konzessionen zur Förderung von Erdöl an ausländische Firmen. Ölmulties aus den USA und England investierten große
Mengen Kapital und dominierten so schnell den Außenhandel. In wenigen Jahren teilten sich drei große Gesellschaften das lukrative Geschäft. Die Nordamerikaner (vor allem Standard Oil) kontrollierten etwa zwei Drittel der Erdölinvestitionen, der Rest entfiel auf die britisch-holländische
Shell-Gruppe. Zwischen 1920 und 1930 verdreifachten sich die Staatseinnahmen. Venezuela lebte weitgehend von den Deviseneinnahmen aus der Ausbeutung seines Erdöls und war so gleichsam abhängig von der übermächtigen Stellung der monopolistischen ausländischen Unternehmungen. Der bis dahin dominierende Agrarsektor wurde völlig vernachlässigt. Statt einer Entwicklung der Gesamtwirtschaft resultierte eine Verzerrung zugunsten des Exportsektors. Zwar blieb der Boden auch jetzt das zentrale Element, doch hatte sich dessen ökonomischer Wert unter die Oberfläche verlagert. Mit dem Strom der Petrodollars setzte ein rasanter Modernisierungs- und Urbanisierungsprozeß ein. Der neue Reichtum Venezuelas, wirkte sich zunächst positiv auf das politische Gefüge aus. Ende der 1950er Jahre setzte sich das demokratische Mehrparteiensystem durch, und das allgemeine Wahlrecht wurde eingeführt. Die politische Stabilität des Landes war nun für südamerikanische Verhältnisse geradezu beneidenswert. Von 18 Millionen Venezolanern, waren über 3 Millionen
parteilich organisiert. Eine im globalen Vergleich beeindruckende Zahl. Andere Drittweltländer, insbesondere die Anrainerstaaten sahen in dem wirtschaftlichen Fortschritt ihres Nachbarn eine Meßlatte für die eigene Entwicklung. Das Geschick des Landes aber hing vom ausländischen, hauptsächlich nordamerikanischem Kapital ab und unterstand dessen Dekret.
Geburtsstunde der OPEC
Anfänglich wurde Venezuela mit 10% an den Gewinnen der Ölriesen beteiligt, doch 1943 wurde ein neues Erdölgesetz verabschiedet, das Venezuela mit 50%er Beteiligung noch größere Gewinne brachte. Nach dem Sturz des Diktators Marcos Pérez Jiménez. 1958 erarbeitete die neu gewählte Regierung ein langfristiges Entwicklungsprogramm, welches die verstärkte Kontrolle der Ölindustrie durch die Regierung und eine Stabilisierung des Ölpreises vorsah. Als es dann ein Jahr später zum Preisverfall des Rohöls kam, ließ die Regierung alle Lizenzen für ausländische Ölfirmen einfrieren. Den im Land tätigen Firmen wurde nahe gelegt, einheimische Kräfte einzustellen und auszubilden. Da eine einseitige Erhöhung des Preises aufgrund der starken Konkurrenz auf dem Ölweltmarkt nicht in Frage kam, forderte Venezuelas Ölminister Juán Pablo Pérez Alfonso 1960 kurzerhand alle ölfördernden Länder der dritten Welt zur Bildung eines Kartells auf. Das war die Geburtsstunde der OPEC. Sie sollte die Weltmarktpreise durch eine Kontrolle der Produktion beeinflussen und stabilisieren. Anfänglich nicht ernst genommen, spürte die erste Welt erstmalig 1973 im Krieg zwischen Israel und den arabischen Ländern die Macht der Organisation. Die Araber drosselten die Produktion und boykottierten Exporte nach Holland und den USA, um die anderen israelfreundlichen Nationen zu warnen. Über Nacht stiegen die Preise von drei auf fünf Dollar pro Barrel. In den darauffolgenden Jahren nutzten die OPEC-Nationen ihre neu entdeckte Macht und trieben den Ölpreis allmählich
auf den heutigen Stand. Die Entwicklung übertraf die kühnsten Erwartungen.
Schnell beanspruchten die venezolanischen Staatsmänner einen wachsenden Anteil an den Erdölgewinnen für sich selbst. 1974 wurde
mit der Verstaatlichung ausländischer Firmen begonnen, zwei Jahre später
befand sich die gesamte Ölindustrie in staatlicher Hand. Trotz großer
Entschädigungszahlungen kam es zu einer schweren Krise mit den USA, die zu
diesem Zeitpunkt der Hauptabnehmer der Erdölprodukte waren. Obgleich die
Produktion zwischen 1972 und 1980 um ein Drittel zurück ging, schnellten
die Einkünfte des Staates für den gleichen Zeitraum von 5 Milliarden auf
nahezu 37,5 Milliarden Mark hoch. Die Möglichkeit, über die Verteilung
dieser Einkünfte im Land zu bestimmen, gab den jeweiligen Regierungen
große Macht und verführte zur Wirtschaft in die eigene Tasche. Dabei
orientierten sich die Politiker an den Wünschen der ausländischen Konzerne,
die ihre Gelder ebenfalls lieber auf Schweizer Konten deponierten. Etwa
100 Milliarden US$ flossen Jahr für Jahr illegal aus dem Land. Das Geld,
welches nicht ins Ausland abwanderte, floß zurück in die monoproduktive
Wirtschaft. In ländlichen Gebieten blieben die Investitionen aus.
Im Rausch des Luxus
Im gleichen Zeitraum erreichte eine neue Form der Abhängigkeit das
Land; die Sucht nach Konsum. Verlockende Kredite, das neu eingeführte
Ratenzahlungssystem und die entmutigende Inflation hemmten den Sparwillen.
Die einheimische Elite gab sich "cosmopolitan", und eine wohlhabende,
politisch einflußreiche Mittelklasse genoß den höchsten Lebensstandard
Lateinamerikas. Doch der Erwerb von vorwiegend ausländischen Luxuswaren
schwächte die eigene Wirtschaft, weil er Investitionen zur Verbesserung
der Produktion beeinträchtige. Kredite wurden für Konsumzwecke,
verschwenderische Wahlkämpfe oder Prestigeobjekte zweckentfremdet. So
erhielt Caracas 1973 für fast 6 Milliarden Mark ein vollklimatisiertes
Untergrundbahnsystem. Luxuriöse Automobile aus Amerika und Europa bildeten
lange Kolonnen in den Straßen der Hauptstadt. Die Autobahn der Metropole -
La Guaira gilt noch heute als eine der kostspieligsten der Welt. 1979
überschritt der interne Konsum die Produktionsfähigkeit der eigenen
Wirtschaft. Über 60% der Konsumgüter, die damals für einen Wert von 1.216
Millionen Bolivar eingeführt wurden, waren Luxusgüter. Die Große Nachfrage
trieb die Preise von Luxusgütern in ungeahnte Höhen. Die Spitze des
Konsumniveaus war erreicht.
Mit festgelegten Preisen für alle lebensnotwendigen Güter, versuchte die Regierung dieser
Entwicklung entgegen zu steuern. Die Privatwirtschaft beantwortete die rigorose
Preiskontrolle der Regierung mit einer Drosselung der Produktion, was
schließlich zur teueren Einfuhr von Nahrungsmitteln zwang. Von einem
außenwirtschaftlichen Gleichgewicht konnte nun nicht mehr die Rede sein.
Das Monoproduktionssystem trieb die Abhängigkeit zu ausländischen
Kapitalgebern mehr und mehr voran und verhinderte die Selbstentwicklung
aus eigener Kraft. Der Optimismus der Venezuelaner wich der Enttäuschung.
Die Bedingungen des Weltmarktes hatten 79/81 den Rückgang der Ölrendite
durch Preiserhöhungen ausgeglichen, so daß die Einnahmen noch einmal
steigen konnten. Wieder schien die Macht des Öls und die riesigen Gewinne
nicht zu versiegen. Doch 1982 brach die Ölkrise voll durch. Was in
Venezuela seit Jahrzehnten als Bedrohung empfunden worden war trat
schließlich ein. Die wirtschaftliche Expansion des Landes kam endgültig
zum Stillstand. Accion Democratica, die Partei des Präsidenten Andrés
Pérez, mußte in die Opposition gehen. Luis Herrera Campíns und seine
christlich-soziale Partei COPEI übernahmen die Macht. Doch das neue Regime
entpuppte sich als noch unfähiger als die alte Obrigkeit. Die Bürokratie
blähte sich um weitere 50.000 Staatsdiener auf. Während die Staatsausgaben
schwindelerregende Höhen erreichten, fielen die Einnahmen um fast 5
Milliarden Dollar in nur einem Jahr. Die Ölpreissenkung und
Exportquotenreduzierung der OPEC taten ihr übriges, um den Fall der
venezolanischen Wirtschaft zu beschleunigen.
Lag die Verschuldung 1974
bei etwa 8 Milliarden Bolivar (BS), stieg sie bis 1979 um das 12 Fache auf
über 100 Milliarden BS, 1982, nach dem internationalen Zusammenbruch der
Ölpreise, schließlich auf 150 Milliarden BS. Autonom handelnde
Staatsbürokraten sowie die Privatunternehmer hatten bei den
internationalen Banken unkontrolliert und teilweise verfassungswidrig
enorme Kredite aufgenommen. Wurden die erste Darlehen noch für staatliche
Investitionen verwendet, dienten sie später eher zur Deckung der laufenden
Kosten. Allein die Ausgleichszahlung des Jahres 1983 (rund 15 Milliarden
US$) verschlang die gesamten staatlichen Öleinnahmen. So wurde die
zukünftige Ölrente verpfändet. Versuche, sich ohne die Auflagen des IWF
mit den Gläubigern auf eine Umschuldung zu einigen, zu der man die nötigen
Devisen zu haben glaubte, scheiterten an der Geschlossenheit der
internationalen Banken.
Gescheiterte Programme
Mit den Anpassungsprogrammen von 1989/90 versuchte die Regierung
das Haushaltsdefizit auf Kosten von Rekordinflation und Verschlechterung
der sozialen Bedingungen einzudämmen. Im Zeitraum von 1981 bis 1990
verdoppelte sich der Anteil der Beschäftigten, deren Einkommen unter der
Mindesteinkommensgrenze lag. Für viele wurde das Benutzen der öffentlichen
Verkehrsmittel, das Besuchen der Schulen oder die Preise für bestimmte
Grundnahrungsmittel unbezahlbar. Nach Angaben der FAO mußten ca. 70% der
Bewohner in den Ranchos, den Marginalsiedlungen rund um Caracas, mit einer
Ernährung vorliebnehmen, die nicht einmal die Mindestmenge an
lebensnotwendigen Nährstoffen enthielt. Ende 1989, kurz nach der zweiten
Amtseinführung von Präsident Carlos Andrés Pérez, entlud sich der Volkszorn,
und es kam zu blutigen Unruhen auf den Straßen der Hauptstadt. Die eilig
herbei gerufene Armee wußte sich schon bald nicht anders zu wehren als
kopflos in die aufgebrachte Menge zu schießen. Schätzungen über die Anzahl
der Opfer schwanken zwischen einigen Hundert und mehr als 1000 Toten.
Die gewaltsamem Übergriffe erschütterten das demokratische System des Landes, und das Mißtrauen
gegen die Regierung wuchs. Mit einer schwachen Wahlbeteiligung von nur 60% wählte man dann 1994
Rafael Caldera zum Präsidenten. Dieses Votum sollte sich jedoch als folgenschwerer Irrtum
erweisen, denn nur kurze Zeit nach seiner Amtseinführung wurden wichtige
Grundrechte abgeschafft. So wirft ihm Amnesty International schwerste
Menschenrechtsverletzungen, wie Mißhandlung von Gefangenen,
Inhaftierungen, Korruption und die Verfolgung politischer Gegner vor. Nur
wenige waren deshalb erstaunt, als Hugo Chávez, der schon 1992 mit einem
Putsch einen Machtwechsel versuchte und viel Sympathie im Volke genoß, im
vergangenen Jahr mit 56% der Wählerstimmen die Präsidentschaftswahlen
gewann. Ob sich der Ex-Militär und vermeintlich radikaler Gegner von
Vetternwirtschaft und Korruption aber auch als „Demokrat“ etablieren kann
wird sich noch zeigen müssen. Ausländische Investoren jedenfalls zögern
noch aus Angst, Chavez könnte mögliche Privatisierungen rückgängig machen. Aber genau auf diese Kapital ist auch Chavez unbedingt angewiesen.
Die jüngsten Entwicklungen zeigen, daß das Land auf eine Krise zusteuert, die zum Brandherd neuer Unruhen werden kann. Der Ölpreisverfall trifft das südamerikanische Land weiterhin mit seiner ganzen Härte. Das „Venezuela-Syndrom“ kann alle Länder befallen, die am Tropf des Ölpreises hängen. In Algerien, Irak und Nigeria zeigen sich die gleichen Symptome und selbst das reiche Saudi-Arabien befürchtet eine Auslandsverschuldung. Der Staatsbankrott Venezuelas ist jedoch nicht allein durch Sparsamkeit und Verzicht abzuwenden. Auch einer Überziehung der vereinbarten Förderquote hilft nicht und führt lediglich zum Hader mit den anderen Mitgliedern der OPEC. Um die Probleme des Landes in den Griff zu bekommen, bedarf es einer politischen Neuorientierung und einer Reform des Wirtschaftssystems. Es ist zwingend erforderlich, die Industrie des Landes zu entwickeln, das Abwandern des Kapitals durch Steueranreize zu reduzieren und die Zuversicht in die eigene Wirtschaft wiederzugewinnen. Verkrustete Machtstrukturen müssen aufgebrochen, Korruption und Vetternwirtschaft beseitigt werden. So wie einst das Vertrauen an die Macht des Naphtas eine ganze Nation veränderte, so könnte der gemeinsame Glaube an die Zukunft die Verelendung überwinden - mit oder ohne Öl. Das schwarze Gold jedenfalls hat in Venezuela einen sehr bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
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