Beim Umgang mit der Sowjet-Vergangenheit ist die Wahrung eines fragilen gesellschaftlichen Gleichgewichts oberstes Gebot
Bis heute hat sich die Ukraine vor allem aus ökonomischen Gründen nicht von Russland lösen können. So überrascht es nicht, wenn auch beim Thema "Geschichtsaufarbeitung und Sowjetzeit" Parallelen unübersehbar sind. Während in Transformationsstaaten wie Polen oder Ungarn eine eingeschränkte Verfolgung zwischen 1945 und 1989 begangenen Unrechts stattgefunden hat oder noch stattfindet, beschränkt man sich in den beiden größten Nachfolgestaaten der UdSSR allein auf die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von Repressionen. Die heutige Folge unserer Serie zeigt, dass dafür die Formel "Transformation = Umbruch + Kontinuität" von ausschlaggebender Bedeutung ist.
Am frühen Morgen des 9. März 2000 standen einige Funktionäre der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) in ihrer Kiewer Zentrale vor verschlossenen Türen. Elf junge Menschen hatten sich dort verbarrikadiert, um an diesem außergewöhnlichen Ort ihre Vereinigung Selbstständige Ukraine zu gründen. "Wir wollen die Wahrheit
erfahren über die Vergangenheit in unserer Heimat, wir fordern das Verbot
der KP und eine Lustration (*) des öffentlichen Dienstes", proklamierte
die Mitgründerin, Natalka Nemtschynowa, den Zweck des Bundes.
Für
manche Ukrainer galten diese jungen Leute als wahre Patrioten, für den
größten Teil der Bevölkerung jedoch schlichtweg als "Randalierer".
Vergangenheitsbewältigung war in diesem Land nach der staatlichen
Unabhängigkeit von 1991 (s. Übersicht) nie wirklich aktuell. Das
verwundert, denn gerade die Ukraine hatte zu Zeiten der UdSSR unter
manchen Härten zu leiden. Die künstlich herbeigeführten Hungersnöte von
1932/33 und 1946/47 kosteten Millionen das Leben. Hinzu kamen die Opfer
von Kulaken-Verfolgung und Zwangsumsiedlungen. Derartige Repressalien
waren nicht nur ideologisch motiviert - es kam stets ein
nationalitätenpolitisches Kalkül hinzu. Die Ukraine sollte lediglich als
"kleine Schwester" Russlands wahrgenommen werden. Regungen
nationalpatriotischen Selbstbewusstseins wurden unterdrückt. Viele
ukrainische Intellektuelle - vorrangig Schriftsteller und Wissenschaftler
- starben in Gefängnissen und Arbeitslagern oder wurden in psychiatrischen
Anstalten zwangsbehandelt. Ukrainisch galt als "Sprache der Ungebildeten".
Eine Herabwürdigung, um das Eigenständige der ukrainischen Geschichte
auszulöschen.
Spagat I - eigenständig Nationales, sowjetisches Erbe
Nach der Unabhängigkeitserklärung vom Dezember 1991 war dieses entfremdende
Geschichtsbild obsolet. Auserwählte Hofhistoriker der bereits ein Jahr
zuvor ins Amt gekommenen Administration des Präsidenten Leonid Krawtschuk
begannen gemäß der "nation-building-Doktrin" die Historie einer
Neubewertung zu unterziehen, was einen Spagat heraufbeschwor, sollte doch
das eigenständig Nationale mit dem sowjetischen Erbe verschmelzen.
Ökonomisch und geopolitisch blieben die Bande mit Russland auch nach 1991
viel zu eng, um einen fundamentalen Bruch riskieren zu können. Außerdem
hatte bis 1990 kaum jemand mit der Unabhängigkeit gerechnet, die insofern
weder zur scharfen Zäsur geriet, noch mit einem tiefgreifenden
Elitenwechsel verbunden war. Entscheidende Positionen auch in der
Rechtsprechung blieben durch die bisherige Nomenklatura besetzt, die sich
berufen sah, das Volk nur äußerst behutsam an Wahrheiten über die
sowjetische Ära der Ukraine heranführen. Diese Vorgehen führte zu einer
Doppelstrategie aus Aufklärung und Vertuschung, deren Konsequenz darin
bestand, einerseits gesetzliche Regelungen für die - auch materielle -
Rehabilitierung von Verfolgten der Sowjetzeit zu verabschieden,
andererseits begangenes Unrechts nicht durch eine entsprechende
Strafverfolgung zu ahnden.
Die Rechtsgrundlage für
Rehabilitierungen ergab sich größtenteils aus Gesetzestexten, die bereits
vor der Unabhängigkeitserklärung als Rechtsakte der späten Sowjetunion
unter Gorbatschow entstanden waren. Sie unterschieden sich sowohl
hinsichtlich des von Wiedergutmachung betroffenen Personenkreises als auch
der Entschädigungsmodalitäten kaum von der russischen Praxis (s.
Freitag, 18.5. 2001). Erstaunlicherweise wurden in Kiew noch nie
Angaben über die Zahl der Rehabilitierten veröffentlicht. Die
Allukrainische Gesellschaft der Polithäftlinge und Verfolgten
(AGPV) greift bei Nachfragen auf eigene Schätzungen zurück: Allein in der
Westukraine müsse die Zahl bereits entschiedener oder unmittelbar vor der
Entscheidung stehender Fälle auf 400.000 beziffert werden. Die AGPV macht
auch auf ukrainische Spezifika aufmerksam, die sich besonders mit dem von
Rehabilitierungen ausgeschlossenen Personenkreis zeigen, den "bewaffneten
Formationen". Gemeint sind antikommunistische Freischärler der
Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), des militärischen Arms
der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten). Sie führten
bis 1952 im Westen des Landes einen verbissenen Partisanenkrieg gegen die
Sowjetarmee und hatten während des Zweiten Weltkrieges mit der deutschen
Wehrmacht kollaboriert. Ein abschließendes Urteil über die UPA durch eine
Entscheidung der Rada, des ukrainischen Parlaments, steht bis heute aus.
Problematisch sind die im Entschädigungsgesetz auf drei Jahre
festgelegten Fristen für Rehabilitierungsanträge, ebenso die stockenden
Auszahlungen der Abfindungen. Ein Umstand, der auf die Finanzmisere des
Staates weist und Präsident Kutschma schon veranlasste, per Ukas im
Interesse der Opfer zu intervenieren.
Spagat II - rehabilitierte Opfer, unbehelligte Täter
Wo Opfer sind, gibt es in der Regel auch Täter. Die seit 1991 obwaltenden Regierungen in Kiew haben sich nie zu dieser Schlussfolgerung durchringen können. Im Rausch der Unabhängigkeit wurde zwar die KP wegen ihrer Verwicklung in den misslungenen Putschversuch orthodox-kommunistischer Kräfte am 19. August
1991 in Moskau verboten, doch konnte sich die Partei bereits 1993 unter leicht verändertem Namen erneut registrieren lassen. Im Parlament nehmen die Kommunisten mittlerweile ein Viertel aller Sitze ein und dürften vermutlich jeden Gesetzesvorstoß zu einer umfassenden Strafverfolgung vor 1990 begangener Verbrechen und Vergehen wie Totschlag, Amtsmissbrauch, Bereicherung oder Rechtsbeugung zu verhindern suchen. Die neue ukrainische Verfassung von 1996 bekennt sich überdies im Artikel 58 ausdrücklich zum Rückwirkungsverbot, wonach niemand für Handlungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden darf, die zur Zeit ihrer Begehung nicht
strafbar waren. Ein zusätzlicher Schutzschild für einstige Angehörige von
Armee, Polizei oder Sicherheitsdienst sind geltende Gesetze über die
Wahrung von Staatsgeheimnissen. Eine rückhaltslose Aufklärung über während
der kommunistischen Ära begangenes Unrecht ist aus Sicht der heutigen
Nomenklatura ganz offenkundig nicht erwünscht. Nur ein relevantes Indiz
dafür ist die stete Verlängerung von Sperrfristen für staatliche Archive.
Ins Gewicht fällt bei alldem auch die finanzielle Misere solcher
Institutionen wie der Allukrainischen Gesellschaft Memorial, die
sich um eine Aufarbeitung der Vergangenheit bemüht. Von hohen Auflagen und
regelmäßigem Erscheinen können Zeitschriften wie Zona
(Herausgeber AGPV) oder Bil ("Der Schmerz" / Memorial)
nur träumen. Eingeengt durch den politischen Kontext blicken viele
Aktivisten daher in Richtung Weltöffentlichkeit. Dmytro Ponamartschuk
erinnert an den Mitte der neunziger Jahre von seiner Partei Volksruch
der Ukraine (NRU) verfassten Appell an alle Regierungen der Welt,
"ein Gericht über die kommunistische Ideologie und ihre Verbrechen" zu
organisieren. Der gleiche Aufruf kam 1995 aus den Reihen von AGPV, blieb
aber ohne Resonanz. "Wir brauchen einen zweiten Nürnberger Prozess für die
Kommunisten, um uns aus unserer Vergangenheit zu lösen", fordert
Ponamartschuk, doch diese Rufe verhallen schon in der Ukraine.
Der materielle Schaden für die Kommunistische Partei, hervorgerufen durch den
eingangs geschilderten Protestakt der Selbstständigen Ukraine,
hielt sich in Grenzen: Mit nationalistischen Sprüchen beschmierte
Tapeten und ein zerstörtes Gemälde Lenin im Smolny. Hohe Wellen
unter potenziellen Sympathisanten schlug die Aktion ohnehin nicht. Kein
Wunder, ist doch das heutige Geschichtsbild der Ukraine nicht durch
Konfrontation, sondern durch Neutralität gegenüber der Vergangenheit
geprägt und dem Bemühen untergeordnet, ein fragiles gesellschaftliches
Gleichgewicht nicht zu gefährden.
(*)
Überprüfung der Mitarbeiter wegen einer möglichen Mitarbeit bei früheren
staatlichen Sicherheitsdiensten.
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