Kürzlich äußerte Theo Sommer in der ZEIT die Auffassung, ein normales Verhältnis des Westens zum »neuen« Rußland nach den Dezember-Wahlen und dem Ausscheiden der Reformer aus der Regierung hinge wesentlich vom Verständnis für Rußlands politische Interessen westlich seiner Grenzen ab. Sommer unterscheidet subtil zwischen einem »äußeren Imperium« - den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und dem kulturell zum Westen gehörigen Baltikum, wo man russischen Einflußnahmeversuchen entgegentreten müsse, und einem »inneren Imperium«, den traditionell zu von Russen dominierten Imperien gehörenden Gebieten wie Weißrußland oder der Ukraine. In diesen Ländern, so der ZEIT-Autor, sei russische Einmischung in bestimmten Grenzen tolerierbar, nicht zuletzt auch mit Blick auf die dort lebenden russischen Minderheiten.
Gerade im Falle der Ukraine begibt
sich Sommer auf historisch unsicheres Gelände, denn deren Westgebiete, die
Hochburgen der ukrainischen Bewegung, befanden sich keinesfalls »traditionell«
unter russischer Herrschaft, sondern wurden erst im Gefolge des Zweiten
Weltkriegs der Sowjetunion einverleibt. Von den Teilungen Polens am Ende des 18.
Jahrhunderts bis 1918, als beispielsweise das Baltikum russisch beherrscht
wurde, waren die westukrainischen Länder Teil der Habsburgermonarchie; in der
Zwischenkriegszeit gehörten sie zu Polen und der Tschechoslowakei. Die wieder so
beliebte Argumentation vom »Kulturkreis Europa«, welche die einen gnädig der
»eigenen« Sphäre zurechnet, während die anderen sich jenseits der europäischen
Ostgrenze wiederfinden, führt nicht weit. Sie verwischt und verkennt zwar
verschüttete, aber doch lebendige Kontinuitäten, die für die Ukrainer heute
wieder eine wichtige Rolle spielen. Der Westen des jungen Staates ist stolz auf
seine mitteleuropäische Vergangenheit, auf seine Rolle als Schnittpunkt
westlich-lateinischer und ostslavisch-orthodoxer Kultur. Wer die ukrainischen
Provinzstädte in Ostgalizien, der Bukowina oder der Karpatoukraine besucht, kann
die alten Verbindungslinien erspüren. In Kiew verweist man gerne auf die
Tatsache, daß es die Ukraine war, über die im 17. und frühen 18. Jahrhundert
westliche Kultur nach Rußland vermittelt wurde.
Der Blick in die glanzvolle europäische Vergangenheit kann aber in der
Ukraine nicht die nüchterne Bestandsaufnahme der grauen Gegenwart ersetzen. Hat
Theo Sommer nicht doch recht? Kann sich die Ukraine, wirtschaftlich auf Gedeih
und Verderb von russischen Energielieferungen abhängig und deshalb politisch
steuerbar (viele Ukrainer meinen: erpreßbar), den Luxus der Unabhängigkeit
leisten? Mußte sie nicht eine Position nach der anderen preisgeben, sei es in
der Frage der Schwarzmeerflotte, seien es die Atomwaffen? Droht ihr nicht neben
dem wirtschaftlichen Zusammenbruch auch der territoriale Kollaps, die Abspaltung
der »russischen« Ostgebiete und der Krim, wie es jüngst ein CIA-Bericht
prophezeite?
Es sind größtenteils Hiobsbotschaften, die das Bild der Ukraine in der westlichen Öffentlichkeit prägen: Krise, Chaos, Zwist mit Rußland. Selten einmal wird die Aufmerksamkeit auf das ukrainische Kulturleben, auf erste Fühlungnahmen mit Westeuropa, auf Erfolge in der Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten gelenkt. Solche Erfolge gibt es. Problematisch ist jedoch die jahrzehntelange, hierzulande immer noch nicht ganz überwundene Gewöhnung, Informationen über die Zustände an der westlichen Peripherie der Sowjetunion und jetzt der GUS aus Moskau zu beziehen oder unter russozentrischem Blickwinkel zu interpretieren. Allerdings neigen ukrainische Patrioten dazu, diesen Tatbestand voller Selbstmitleid zu bejammern und die ukrainische Misere kurzerhand als Problem der Public relations darzustellen, die der junge Staat noch unzureichend beherrsche, während »Moskauer Propaganda« im Westen das Bild der Ukraine bestimme. Fest steht zwar, daß die auch bei uns als Informationsquelle genutzten russischen Medien den Ukrainern meist, je nach Orientierung, mit milder bis penetranter Großmacht-Arroganz begegnen und daß im Verhalten russischer Amtsträger bei Verhandlungen mit ukrainischen Stellen immer noch das Selbstverständnis des »Großen Bruders« dominiert. Das erzeugt in der Ukraine hilflose Wut und Verbitterung, verhindert aber auch eine kühle Bilanzierung der eigenen Mißstände und Probleme, die denen Rußlands doch so oft gleichen.
Gerade für die ökonomische Katastrophe der Ukraine gilt dies in besonderem Maße.
Was die jüngst aus der Regierung ausgeschiedenen russischen Reformer in ihrem Land
kritisierten - die weiter anhaltende, inflationsträchtige Finanzierung unproduktiver
Großkombinate und der staatlichen Agrarwirtschaft über die Notenpresse - ist
auch in der Ukraine das schwerwiegendste Problem. Während ein Staatskredit nach
dem anderen zur Erhaltung des organisatorischen Status quo der Sowjetwirtschaft
durch das Parlament abgesegnet wird - die Gelder dienen vorwiegend Lohnzahlungen
und dem Unterhalt der aufgeblähten betrieblichen Infrastruktur vom Kindergarten
bis zum Sanatorium - versucht die ukrainische Regierung, die Inflation auf der
anderen Seite zu bekämpfen, indem sie Lehrern, Ärzten, Universitätsdozenten und
Verwaltungsangestellten einfach keine Gehälter mehr auszahlt. Streiks im
Gesundheits- und Bildungswesen sind die Folge. Anders als in Rußland sind noch
nicht einmal bescheidene rechtliche Voraussetzungen für die Durchführung von
Reformen an der Basis geschaffen worden, beispielsweise die Möglichkeit privaten
Landerwerbs und der Bildung nichtstaatlicher Bauerngenossenschaften. Wie in
Rußland fehlen Steuerrecht und schlagkräftige Finanzverwaltung als Voraussetzung
für staatliche Einnahmen. Im Unterschied zu Rußland verfügt die Ukraine jedoch
kaum über Rohstoffe wie Öl und Erdgas, die im Export Devisen erwirtschaften
könnten. Einzig der in der Ukraine produzierte Atomstrom ist augenblicklich ein
Exportkandidat, nach langen Kämpfen mit dem ehemaligen Zentrum, das bis vor
kurzem auch die eigentlich der Ukraine zustehenden Stromexport-Erlöse einstrich.
Aber auch in diesem Bereich kam es durch den Ausfall konventioneller russischer
Energielieferungen und Schwierigkeiten mit der Brennstoff- und
Ersatzteilversorgung zu bedrohlichen Engpässen - ganz abgesehen von der geringen
Akzeptanz dieses Industriesektors in der ukrainischen Bevölkerung. Wie abhängig
die ukrainische Wirtschaft zudem von politischen Bedingungen ist, zeigt der
Winter 1993/94: Während vor der russisch-ukrainisch-amerikanischen Einigung über
die Atomwaffen in vielen ukrainischen Gebieten aus Energiemangel stundenweise
die Lichter und Heizungen ausgingen, liefert Rußland nun offensichtlich wieder
zum GUS-Vorzugspreis.
Zwar verweisen die Ukrainer gerne auf ihr wirtschaftliches Potential (immer
wieder wird, oft in verzerrter Form, eine Studie der Deutschen Bank zitiert):
hervorragende Verkehrslage, gute Infrastruktur, hohes Ausbildungsniveau,
niedrige Löhne - aber das sind Wechsel auf die Zukunft, solange die ersehnten
westlichen Investoren sich auf rechtlich und politisch unsicherem Terrain
bewegen müssen. Grundsätzlich zeigt die Ukraine also, bei schlechteren
Ausgangsbedingungen und noch geringerer Reformbereitschaft, die gleiche
Problemstruktur wie Rußland. Vielleicht wird das seit Jahresbeginn gestiegene
westliche Interesse an der Ukraine, motiviert durch unbefriedigende Erfahrungen
mit einer alleinigen Konzentration auf die Rußländische Föderation,
wirtschaftliche Unterstützung und Reformimpulse für die Ukraine bringen.
Ukrainische Politiker rechnen sich dieses Interesse als Verdienst an: Nur durch
ihr langes Beharren auf dem Verbleib der sowjetischen Atomwaffen sei es der
Ukraine gelungen, »im Spiel zu bleiben« und die Aufmerksamkeit zu erringen, die
ihr als zweitgrößter europäischer Staat eigentlich natürlicherweise zustehe.
Ebenfalls an Rußland gemahnt die Tatsache, daß sich zwar die Staatswirtschaft
im freien Fall befindet, gleichzeitig aber ein Netz florierender
Kleinhandelsbetriebe das Land überzieht, das die Bevölkerung in mehr oder
weniger bescheidenem Ausmaß mit Konsumgütern versorgt. Fast jeder Ukrainer hat
neben seiner »offiziellen« Beschäftigung noch mindestens einen »Job«, der ihm
bescheidene Deviseneinnahmen ermöglicht; viele reisen mit ukrainischer Ware nach
Polen, Rußland oder in die Türkei, um dort gewinnbringend zu verkaufen und
ihrerseits Textilien, Zigaretten oder Elektrogeräte für den ukrainischen Markt
zu erwerben. Die polnisch-ukrainische Grenzstadt Przemysl hat sich auf diese
Weise von einem verschlafenen galizischen Provinznest zum boomenden Handelsplatz
entwickelt. Dies erklärt viele Widersprüche des täglichen ukrainischen Lebens -
warum es trotz der schon dutzendemale erklungenen Prognosen, im nächsten Monat
sei es »zu Ende« mit der Ukraine, irgendwie immer noch weitergeht; warum sich
viele heute sogar mehr leisten können als zu Sowjetzeiten. Die Verlierer dieses
Spiels bleiben oft unsichtbar, wenn sie sich nicht als Bettler vor den Kirchen
sammeln: es sind Menschen, denen die in der Ukraine unerläßlichen
Familienbeziehungen fehlen, die über keine am wilden Markt verwertbaren
Fertigkeiten verfügen: Rentner vor allem, aber auch alleinstehene Mütter,
Behinderte, Studenten. Gerade die Pensionäre verkaufen ihren letzten Besitz, um
sich noch Brot, Tee und Kartoffeln leisten zu können. Sie, die in der
Sowjetunion sozial recht gut situiert waren, deren Ersparnisse jedoch die
Inflation gefressen hat, trifft die Misere am härtesten.
Anders als in Rußland, wo wenigstens zeitweise Reformanstrengungen aus dem
Regierungslager kamen, ist es in der Ukraine die Regierung selbst, gestützt von
einer reformfeindlichen altkommunistischen Parlamentsmehrheit, die sich als
Bremser betätigt und reformorientierte Politiker nach und nach aus ihren Reihen
verbannt hat. Anders auch als in Rußland, wo sich russisch-nationales Denken nur
allzuoft mit antiwestlichem Habitus und reformfeindlicher Haltung vereint, ist
es in der Ukraine gerade die nationalbewegte Parlamentsopposition, die für
wirtschaftliche Reformen und für eine ukrainische Westorientierung eintritt. Die
bei den nur bedingt freien Wahlen vom März 1990 in die »Verchovna Rada«
(Oberster Rat) entsandten Vertreter des sowjetischen Establishments, die
Werksleiter, Kolchosvorsitzenden und Ex-Kreisparteisekretäre, lassen sich in
ihrem Abstimmungsverhalten vor allem von der Angst um angestammte Pfründen
leiten, weniger von ideologischen Präferenzen. Daß mitunter auch die
altkommunistische »Gruppe der 236« ukrainisch-patriotischen Anwandlungen nicht
fernsteht, zeigen die Mehrheitsentscheidungen des Obersten Rates zu Fragen der
Schwarzmeerflotte, der Krim oder der Atombewaffnung. Der alles beherrschende
militärisch-industrielle Komplex scheint sich mit der Unabhängigkeit zu
arrangieren, solange auch unter blau-gelber Flagge sein Einfluß gesichert
bleibt. Kritische Beobachter aus der ukrainischen Opposition sprechen daher
schon von einer Wiederkehr des ukrainischen »Nationalkommunismus«, der eine
Politik der nationalen Stärke mit einer Vorliebe für Staatswirtschaft, Schwer-
und Rüstungsindustrie verkoppelt. Erinnerungen an den Anfang der siebziger Jahre
von Moskau abgesetzten KPU-Chef Petro Selest, dem eine solche Politik
vorgeschwebt haben mag, als er eine vorsichtige Autonomisierung seiner
Sowjetrepublik betrieb, werden wach. Leonid Kravcuk - ein neuer Selest?
Auch der Opposition sind aber patriotisches Engagement und Vorliebe für Militärpolitik zum
Verhängnis geworden. Regierung wie Nationalbewegung schlossen zeitweise in diesen Fragen
einen umstrittenen Burgfrieden, der zur Zersplitterung der Opposition beitrug. Man beschäftigte
sich lange mit den teils von Rußland provozierten, teils durch ukrainisches Beharren
verschärften politischen Konflikten, während die wenigen Pragmatiker rieten, sich auf die
wirtschaftspolitische Kärrnerarbeit zu konzentrieren, anstatt Zeit und Ressourcen in
Prestigekonflikten zu verschwenden. Noch hat die ukrainische Politik nicht zu der Ruhe
gefunden, die sie benötigt, um der drückendsten Probleme Herr zu werden: Immer dominierten
die Konflikte mit Rußland das Geschehen, die von beiden Seiten aus innenpolitischen Erwägungen
hoch geschaukelt wurden, um dann auf dem Verhandlungswege mühsam ausgeräumt zu werden. Gerade
die von Intellektuellen geprägte nationale Opposition verkennt oft, daß die Unabhängigkeit kein
Selbstzweck ist, daß insbesondere das wirtschaftliche Wohlergehen die Treue der Bürger zum
ukrainischen Staat bestimmt, nicht die »Überzeugung«. Allenfalls die Westukrainer sind bereit,
um der Unabhängigkeit willen auch empfindliche Einbußen hinzunehmen. Was spöttisch als
»Wurstpatriotismus« bezeichnet wird (und was im Dezember 1991 zur überwältigenden
Volksabstimmungsmehrheit für die ukrainische Selbständigkeit beitrug) ist die Tatsache, daß in
vielen Gebieten der Ukraine, besonders aber im russischsprachigen Osten, »die Wurst« wesentlich
die nationalen Präferenzen mit bestimmt. Im Klartext: Damals versprach die ukrainische
Unabhängigkeit, Garant des Aufschwungs zu werden; lockt aber Rußland, und sei es nur
vermuteterweise, heute mit besseren Lohn- und Versorgungsbedingungen, dann bröckelt auch die
Loyalität gegenüber Kiew. Weitsichtige ukrainische Beobachter fordern daher einen
wirtschaftlichen Pragmatismus, der auch den gewachsenen (wenn auch nicht immer freiwilligen)
Beziehungen zu Rußland Rechnung trägt, als Grundbedingung für die nationale Integrität der
Ukraine. Nationale Symbolik, Prestigeobjekte wie Flotte oder Atomwaffen hätten da zurück zu
stehen.
Allerdings wäre es zu einfach, die nationalen Befindlichkeiten in der Ukraine auf
»die Wurst« zu reduzieren und die »Prestigekämpfe« mit Rußland zum eigentlich überflüssigen
Geplänkel zu erklären, wie es oft auch hierzulande geschehen ist. Schließlich haben gerade
im Zusammenhang mit der Flottenfrage russische Politiker - und beileibe nicht nur Ruckoj
oder irinovskij - immer wieder auch territoriale Forderungen verdeckt oder direkt geäußert.
Nicht nur die Schwarzmeerflotte sollte »auf ewig« russisch sein, sondern auch deren
Stationierungsorte auf der Krim und an der ukrainischen Küste. Inzwischen steht die Flotte
faktisch unter russischer Kontrolle, macht aber keine Anstalten, sich in die russischen
Schwarzmeerhäfen zurück zu ziehen. In Georgien griff sie als russisches Machtinstrument in die
dortigen Kämpfe ein. Präsident Kravcuk hat sich auf eine deeskalative Politik verlegt, die
zwar Konflikte vermeidet, ihm in der Ukraine aber zunehmend den Vorwurf einträgt, er betreibe
einen Ausverkauf ukrainischer Interessen an Rußland. Flotte und Militärstützpunkte sind also
nicht nur Prestigeobjekte für die Ukraine, sondern hochsensible Sicherheitsprobleme.
Aber auch Fragen des Prestiges und des Nationalbewußtseins sind für den
jungen ukrainischen Staat von großer Bedeutung. Für die ukrainische politische
Klasse - und da wissen sich Lemberger Intellektuelle mit ihrem exkommunistischen
Präsidenten in einer Front - ist von großer Wichtigkeit, ob in den Staat Ukraine
auch eine ukrainische Nation gleichsam hineinwächst. Nationaler Stolz, Kampf um
Symbole sind Ausdruck des Versuchs, einem territorial und ethnisch-sprachlich
uneinheitlichen Staat eine Identität zu verschaffen. Der ukrainische Balanceakt
besteht nun darin, Gebiete und Bevölkerungsschichten mit ganz unterschiedlicher
historischer Tradition und sozio-ethnischer Struktur zu einer »ukrainischen
Nation« zu vereinen. Da sind Gebiete wie das ländlich geprägte, tiefreligiöse
Galizien mit den Zentren Lemberg/L'viv, Ternopil und Ivano-Frankivs'k. Da sind
die Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz und die Karpatoukraine, deren
Bewohner ein ausgeprägtes Regionalbewußtsein haben und keinesfalls mit den
Galiziern in einen Topf geworfen werden wollen. Da ist die Metropole Kiew, in
der als Verkehrssprache immer noch das Russische dominiert, das aber ein
unbestrittenes Zentrum ukrainischer Kultur und Wissenschaft geworden ist, dessen
Bürger mehrheitlich Oppositionskandidaten bei Wahlen den Vorzug gaben. Da ist
die russisch-ukrainisch-jüdische Hafenstadt Odessa mit ihrem weltläufigen
Selbstbewußtsein. Da sind der ostukrainische »Kohlenpott«, der Donbas, und die
Industriegebiete am Unterlauf des Dnjepr, die von Wirtschaftskrise und
ökologischer Katastrophe besonders betroffen sind. Da ist die Krim, deren
mehrheitlich russische Bevölkerung offen den Aufstand gegen Kiew probt. Und da
sind schließlich die weiten ländlichen Gebiete im Zentrum und Nordosten, in
denen mehrheitlich ukrainisch gesprochen wird, wo aber die alten Eliten immer
noch das Heft fest in der Hand halten. Alle diese so unterschiedlichen
Territorien sollen nun zu einem Staat zusammenwachsen.
Wie entscheidet sich die Ukraine? Vor allem geht es hier um die Frage, ob die
Nation ethnisch oder politisch definiert werden soll; ob das Fünftel der
Bevölkerung, das russisch, nicht ukrainisch ist, gleichberechtigt aufgenommen
wird oder als »zur Minderheit gewordene Mehrheit« abseits steht, wo die
Zirinovskijs bereits auf ihre Chance warten. Interessant wird auch sein, wie
sich die rund zehn Millionen Ukrainer verhalten werden, die aufgrund der im
Sowjetsystem auferlegten Dominanz russischer Kultur in der Ukraine, durch
russische Ausbildung und russischsprachige Umgebung längst das Russische als
Muttersprache bezeichnen.
Bis jetzt ist die Entwicklung positiver verlaufen, als es die düstere
Ukraine-Berichterstattung hierzulande vermuten läßt. Es gibt zwischen
ukrainischen und russischen Bewohnern der Ukraine zum überwiegenden Teil keine
Animositäten, so sehr das selbsternannte Minderheitenschützer in Rußland auch
behaupten mögen. Viele Russen, die seit Generationen in der Ukraine leben,
zeigen die gleiche Anhänglichkeit an ihre Heimat wie ihre ukrainischen
Mitbürger. Grundsatzentscheidungen der Regierung wie die Verleihung der
Staatsbürgerschaft an alle Bürger, die bei Inkrafttreten eines entsprechenden
Gesetzes ihren ersten Wohnsitz in der Ukraine hatten, vermieden von vornherein
Konflikte wie in Estland und Lettland, wo die Verleihung von Bürgerrechten an
bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Die ukrainische Nationalbewegung hat in
ihrer Mehrheit Forderungen nach einer Re-Ukrainisierung des öffentlichen Lebens
stets mit einer Betonung der Minderheitenrechte verbunden. Entsprechende Gesetze
sind, anders als im Falle der Privatisierungs- oder Steuergesetzgebung, schnell
verabschiedet worden. Das Verhältnis zur ungarischen Minderheit in
Transkarpatien regelt ein (vielgelobter) Grundlagenvertrag mit Budapest.
Was die russischsprachigen Gebiete im Osten und Süden der Ukraine betrifft,
so dominiert hier weiterhin die russische Kultur; die Sprachenpolitik der
Regierung skizzierte der Kultusminister und Ex-Dissident Ivan Dzjuba als
»Laissez-faire«, das größtenteils auf die langfristige »sanfte« Ukrainisierung
innerhalb einer Generation setzt. Tatsächlich ist der Anteil der Schulanfänger,
die ukrainische Schulen besuchen, in den letzten Jahren rapide angestiegen. Aus
demselben Grunde, der früher ukrainische Eltern bewog, ihre Kinder in russische
Schulen zu schicken, werden jetzt die ukrainischen Schulen bevorzugt:
Sprachkenntnis ist Grundvoraussetzung einer späteren beruflichen Karriere.
Politisch ist also trotz der Liberalität im Vorgehen die Entscheidung
zugunsten einer Ukrainisierung gefallen. Einzige Staatssprache ist das
Ukrainische; der Status des Russischen, obwohl faktisch Verkehrssprache in
vielen ukrainischen Gebieten, ist nicht gesetzlich fixiert, was russische
Aktivisten seit langem fordern. Die Verteidiger dieser Grundsatzentscheidung
argumentieren dagegen, daß ohne eine solche Festlegung die jahrzehntelang massiv
unterdrückte ukrainische Sprache im öffentlichen Leben chancenlos wäre. Erste
Folgen dieser Orientierung sind schon absehbar: während früher
ukrainischsprachige Bewerber bei der Studienplatz- und Stellungssuche eindeutig
russischsprachigen Kandidaten unterlegen waren, ist es nun umgekehrt. Für die
begehrten Posten bei westlichen Firmen und Vertretungen ist Kenntnis des
Ukrainischen Voraussetzung. Insofern kann gesagt werden, daß die Trägerschicht
der ukrainischen Nationalbewegung - gut ausgebildete, durch »russische«
Konkurrenz im eigenen Land am sozialen Aufstieg gehinderte Ukrainer - unter
Beibehaltung der jetzigen »sanften« Ukrainisierungspolitik ihr Ziel, die
Verbesserung der eigenen sozialen Chancen, erreichen wird.
Naturgemäß ist die Sprachenpolitik eines der Hauptschlachtfelder im Nationalitätenkampf.
Trotzdem darf gerade im Falle der Ukraine nicht übersehen werden, daß Sprache nur ein Faktor
im nationalen Kräftespiel ist. Für ein ukrainisches Nationalbewußtsein scheint die ukrainische
Muttersprache nicht allein ausschlaggebend zu sein; viele russischsprachige Ukrainer würden
trotz ihrer Sprachpräferenz nie einen Wiederanschluß der Ukraine an Rußland befürworten. Das
Verhalten der zumeist russischsprachigen 600.000 Krim-Ukrainer, die die »Präsidentschaftswahlen«
auf der Halbinsel mehrheitlich boykottierten, weil alle Kandidaten in mehr oder weniger offener
Form den Anschluß der Krim an Rußland propagierten, mag hier als Beispiel dienen. Betrachtet
man den angeblich akut sezessionsgefährdeten ukrainischen Südosten, wo zwar russisch gesprochen
wird, die ethnischen Russen aber in der Minderheit sind, sollte man mit Vorhersagen über einen
baldigen Abmarsch nach Rußland behutsam sein. Es trifft zu, daß die schwerindustriegeprägte
Ostukraine nie richtig warm wurde mit der Nationalbewegung, deren intellektuelle, oft aus dem
Westen stammende Wortführer eine andere Sprache sprechen als die nicht minder selbstbewußten
Industriearbeiter des Donbas. Gleichwohl gab und gibt es immer wieder erstaunliche, aus dem
Moment geborene Ost-West-Koalitionen, wie im Herbst des vorigen Jahres, als Streikdrohungen
aus dem Donbas die Forderung der Opposition unterstrichen, das reformunfähige Parlament
vorfristig neu zu wählen. Zwar erfreuen sich in der Ostukraine pro-russische Gruppierungen
einigen Zulaufs, politisch relevant konnten sie bis jetzt jedoch nicht werden. Sie setzen auf
den totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch der Ukraine, der ihnen Anhänger zutreiben soll;
allerdings müssen sie mit ukrainischen Loyalitäten jenseits von Sprache und Kultur rechnen,
die jede Prognose über das Verhalten der Ostgebiete einstweilen unsicher machen. Dazu kommt,
daß die Bewohner des Donbas auch von Rußland, realistisch eingeschätzt, wenig zu erwarten
hätten. Auch ihnen ist bekannt, daß dieses älteste sowjetische Industrierevier zu Zeiten
herunter gewirtschaftet und von Investitionen abgeschnitten wurde, als noch Moskau und nicht
Kiew das Sagen hatte. Ein zu Rußland gehöriges Donbas hätte gegenüber den rentableren
sibirischen Kohlerevieren das Nachsehen.
Die Halbinsel Krim ist insofern das einzige wirklich akut sezessionsgefährdete und -fähige
Gebiet der Ukraine. Sie spielt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle: Erstens sind
tatsächlich die Bewohner in ihrer Mehrheit Russen; die Krim erzielte beim ukrainischen
Unabhängigkeitsreferendum im Dezember 1991 bei weitem die schlechtesten Ergebnisse.
Zweitens hat die größtenteils erst seit dem Zweiten Weltkrieg auf der Krim ansässige
russische Bevölkerung eine spezielle Struktur, die ihr Wahlverhalten teilweise erklärt.
Dominierende Schichten sind das Militärpersonal der Schwarzmeerflotte und ein hoher
Prozentsatz an Pensionären aus KP, Militär und Geheimdienst, die im »Sowjet-Florida«
Krim ihren Lebensabend verbringen. Letztere wählten kürzlich geschlossen den russischen
Nationalisten Jurij Meskov zum Krim-Präsidenten, weil dieser ideologisch ihren Vorstellungen
entsprach und außerdem die Auszahlung der Renten in Rubeln statt in (noch wertloseren)
ukrainischen Kupons in Aussicht stellte. Wie nirgendwo sonst in der Ukraine sind in der
russischen Bevölkerung der Krim also Repräsentanten der alten sowjetischen Eliten konzentriert.
Schon lange vor den jetzigen Sezessionskämpfen dominierten hier alte KP-Cliquen um den wendigen
Gebietsparteichef Bagrov das politische Geschehen; Bagrov unterstützte offen die Putschisten
vom August 1991. Er, der in letzter Zeit für eine Autonomie der Krim innerhalb des ukrainischen
Staatsverbandes plädierte, wurde inzwischen von Mekov rechts überholt.
Schließlich ist ein dritter Faktor entscheidend für das Krim-Problem: Die Halbinsel wurde erst
im Jahre 1954 durch einen »Ukaz« Chruscevs an die damalige Ukrainische SSR angegliedert;
russische Nationalisten können sich also auf ältere, allgemein erinnerbare Rechtstitel berufen,
wenn sie die »Korrektur« des Akts von 1954 verlangen. Kiew bleibt im Falle der Krim, anders als
beim Konflikt um Flotte und Atomwaffen, kaum mehr Spielraum zur Beilegung des Streits am
Verhandlungstisch. Schon lange vor der Wahl des Krim-Präsidenten Mekov hat es der »Republik
Krim« weitgehende Autonomie zugebilligt. Die jetzigen Krim-Machthaber und ihre Unterstützer
in der mehrheitlich kommunistisch-nationalistischen Moskauer Staatsduma haben jedoch kein
Interesse an Autonomie, sondern wollen den Bruch. Sie wissen, daß ein Erfolg in Sachen Krim
gleichzeitig Präzedenzfall für alle anderen »russischsprachigen Gebiete« des »nahen Auslandes«
wäre - nicht nur für die Ostukraine, sondern auch für Teile Estlands, Lettlands und Kasachstans.
Der Alptraum der Grenzrevision jedoch ist es, der die ukrainische Führung hart bleiben läßt und,
bis jetzt, die Moskauer Regierenden abschreckt. Auch aus dem Westen kamen bereits Signale, daß
eine Veränderung bestehender Grenzen inakzeptabel sei. Allerdings zeigt den Ukrainern das
Beispiel Bosnien, was im Ernstfall westliche Mahnungen auszurichten vermögen; auf die
Standfestigkeit Boris Jelzins verläßt man sich ebenfalls nur zweifelnd angesichts der
nationalistischen Kräfte in Rußland, die den Präsidenten hart bedrängen und die sicherlich
die Krim zum neuen patriotischen Schlager machen werden. Schon haben die Krim-Russen ein
Referendum über den Wiederanschluß just für den 27. März, den Tag der vorgezogenen
ukrainischen Parlamentswahlen, angekündigt, und Vladimir Zirinovskijs Duma-Antrag für die
brüderliche Aufnahme der abgetrennten Landsleute liegt schon fertig in der Schublade. Zwar
hat schon einmal ein russisches Parlament die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine ohne Folgen
für »nichtig« erklärt, doch diesmal könnte sich auch Jelzin gezwungen sehen, in puncto
russischem Patriotismus Flagge zu zeigen. Dies würde ohne Zweifel zum Tiefpunkt und zum
gefährlichsten Moment in den spannungsreichen russisch-ukrainischen Beziehungen.
Ein Faktor allerdings ist es, den die russischen Strategen auf der Krim
bislang eklatant mißachteten und der ihnen noch viel Ärger einbringen könnte:
Immerhin gehört ein Drittel der Krim-Bevölkerung zu den Minderheiten, die den
Verbleib der Halbinsel bei der Ukraine anstreben. Die Gruppe der Ukrainer wurde
bereits genannt. Politisch wesentlich aktiver ist aber die inzwischen 350.000
Einwohner zählende Gemeinschaft der Krimtataren, die als einzige ein wirkliches
»Heimatrecht« auf der Krim beanspruchen könnten, wo sie jahrhundertelang
siedelten, bevor russische, deutsche und ukrainische Kolonisten kamen. Sie
kehren seit Jahren aus ihren mittelasiatischen Verbannungsorten zurück, wohin
Stalin sie als angebliche »Kollaborateure« im Zweiten Weltkrieg unter
unglaublichen Verlusten hat deportieren lassen. Sie sind es auch, die dem
russischen Anschlußvorhaben massiven Widerstand entgegensetzen wollen. Schon
jetzt hat der tatarisch-russische Konflikt Todesopfer gefordert: tatarische
Politiker und ihre Leibwächter, die Terroranschlägen zum Opfer fielen. Selbst
wenn die Ukraine einem Anschluß der Krim an Rußland tatenlos zusehen müßte: der
nächste Konflikt auf der Urlaubsinsel ist vorprogrammiert. Die Zeichen stehen,
leider, schon längst auf Sturm; aufgrund der Radikalität der russischen
Nationalisten, die auf der Krim den Ton angeben, scheint eine Lösung, die alle
drei Seiten befriedigen würde, in weite Ferne gerückt. Wird auch die Krim bald
ein Fall für UN-Blauhelme?
Ein Konflikt mit Rußland um die Krim hätte wahrscheinlich auch katastrophale
Folgen für das bislang friedliche Zusammenleben der Nationalitäten auf dem
ukrainischen Festland. Schon gibt es auch unter den Ukrainern militante
rechtsorientierte Gruppierungen wie die »Ukrajins'ka nacional'na samooborona«
(Ukrainische nationale Selbstverteidigung), die die Auffassung vertreten, nur
eine Politik der harten Hand könne »die Moskowiter« von imperialen Träumen
abhalten. Ihnen schwebt ein bis an die Zähne bewaffneter, ukrainisch-nationaler
Einheitsstaat vor, in dem Minderheiten allenfalls geduldet würden. Ihre
Verlautbarungen werden in der russischen Presse genüßlich zitiert und von den
russischen Bewohnern der Ukraine ängstlich aufgenommen; tatsächliche vereinzelte
russophobe Verwaltungsakte, wie sie beispielsweise in Dnipropetrovs'k mit der
»Säuberung« von Bibliotheken vorgenommen wurden, tragen zur Verunsicherung bei.
Zunehmender russischer Druck auf die Ukraine, territoriale Ansprüche, politische
Erpressung drohen die tolerante ukrainische Nationalitätenpolitik zu gefährden.
Was bis heute als großes Verdienst auf der Haben-Seite des ukrainischen Staates
steht - die Regelung politischer Konflikte ohne das Blutvergießen, das den
postsowjetischen Transformationsprozeß fast überall unausweichlich zu begleiten
scheint - könnte bald auch für die Ukraine nicht mehr gelten.
Optimistischer gestimmte Beobachter verweisen auf der anderen Seite auf die sprichwörtliche ukrainische Gelassenheit, die im Lande bis jetzt noch jeden Konflikt abgefedert habe. Wie für keine andere ehemalige Sowjetrepublik gelte für die Ukraine, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Das sei schon während der Perestrojka so gewesen, als die Ukrainer im Vergleich zu Balten, Kaukasiern und Russen erst spät aus den Startlöchern kamen. So gesehen könnte man gerade die territorial-ethnische Uneinheitlichkeit der Ukraine nicht als Manko, sondern als Modell, als »europäische Chance« begreifen, die der Ukraine ihre traditionelle Rolle als Vermittlungs- und Durchgangsgebiet wieder ins Gedächtnis ruft. Anders gesagt: Ist die monolithische ukrainische und ukrainischsprachige Nation, von Kiew aus zentral regiert, überhaupt wünschenswert? Oder ist nicht auch ein ganz anderes Modell denkbar, das die einzelnen Regionen in ihren Eigenarten und historisch gewachsenen Beziehungen respektiert und der Ukraine wirtschaftlich nutzbar macht? Visionäre denken an eine Bundesrepublik Ukraine, in der Galizien seine Kontakte nach Polen, die Karpatoukraine die ihren nach Ungarn und in die Slowakei aktiviert, während im Osten die jahrhundertelang gewachsenen Bindungen und Verbindungen zu Rußland nicht negiert, sondern akzeptiert werden; ein Land, in dem den einzelnen Bundesstaaten in Kultur- und Sprachpolitik ein großer Freiraum gelassen wird. Dieser Vision steht freilich die harte zentralistische Realität der heutigen Ukraine gegenüber, deren Verwaltungsstrukturen von der Sowjetunion übernommen wurden und die eine Gebiets- und Verwaltungsreform Geld und Zeit kosten würde. Zwar wird, was die Zusammenarbeit mit den Nachbarn angeht, durch tägliche Praxis schon vorgelebt, was institutionell noch nicht gefestigt ist: der kleine Grenzverkehr mit den westlichen Nachbarn, die Euroregion Karpaten, die praktisch unsichtbaren Grenzen zu Rußland und Weißrußland. Eine organisatorische föderalistische Tradition fehlt jedoch der Ukraine vollkommen, wenn sie auch in ihrer regionalen Vielfalt die Voraussetzung für ein Bundesstaatsmodell bieten würde. Ein ausgeprägtes Regionalbewußtsein als eine der Bedingungen bringen die Bürger der Ukraine jedoch ohne Zweifel mit.
Ob ein Abgehen vom sowjetisch-zentralistischen Herrschaftsmodell auf lange Sicht möglich
sein wird, ob die nationalen Konflikte entschärft werden und in der Ukraine ein bescheidener
Wohlstand einziehen kann, entscheiden auch die ersten wirklich freien Wahlen, deren erster
Wahlgang am 27. März stattgefunden hat. Er sorgte im In- und Ausland für Überraschung:
Entgegen allen Prognosen über eine extrem niedrige Wahlbeteiligung gaben landesweit etwa
75 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. An den Stichwahlen am 3. und 10. April nahmen
zwar weniger Bürger teil, jedoch scheinen sich politisches Desinteresse und allgemeine
Resignation nicht so stark wie in Rußland auf die Wahlbereitschaft auszuwirken. Betrachtet
man die Ergebnisse im einzelnen, stellt sich allerdings heraus, daß vor allem die politisch
viel stärker mobilisierten Westukrainer mit Quoten von 80 bis 90 Prozent die Wahlbeteiligung
hoch ausfallen ließen. In den überwiegend russischsprachigen Gebieten und den Großstädten
ähnelt das Bild eher dem in Rußland.
Nicht nur die Wahlbeteiligung, auch die politischen Präferenzen der Wähler
belegen den West-Ost-Gegensatz in der Ukraine: Während im Westen ausschließlich
Nationaldemokraten und sogar eine kleine Anzahl Rechtsextremisten im ersten
Wahlgang siegten oder in die Stichwahlen kamen, sind es im Osten überwiegend
alte Funktionäre, die als »Parteilose«, »Sozialisten« oder auch als Mitglieder
der neukonstituierten ukrainischen KP die meisten Stimmen auf sich vereinigten.
Auch im neuen ukrainischen Parlament werden sich als Hauptakteure das
sowjetukrainische Establishment und die nationalorientierten Kräfte
gegenüberstehen. Die Fraktion der Nationalbewegung konnte ihren Anteil leicht
ausbauen, die Mehrheit bilden jedoch KP, Sozialisten und »Parteilose«. Ein
endgültiges Ergebnis liegt jedoch noch nicht vor, da auch im zweiten Wahlgang
nur Kandidaten als gewählt gelten, die eine absolute Mehrheit der Stimmen auf
sich vereinigen konnten. 337 von 450 Mandaten sind inzwischen vergeben. Trotz
des langwierigen Wahlverfahrens besitzt die neue »Verchovna Rada« eine recht
solide Legitimationsbasis, was die düsteren Prognosen Präsident Kravcuks
widerlegt. Dieser hatte für den Fall einer zu niedrigen Wahlbeteiligung in
Aussicht gestellt, das Land mithilfe von Notverordnungen zu regieren. Ob das
Parlament allerdings arbeitsfähig sein wird, hängt vom Verhalten der einzelnen
Abgeordneten ab; die politische Zersplitterung und das Mehrheitswahlsystem, das
»parteilose Spezialisten« kommunistischer Provenienz begünstigt, tragen nicht zu
programmatischer Konzentration bei. Wechselnde Koalitionen werden wohl auch in
Zukunft die Regel sein. Wer die Verhältnisse im Parlament als unüberbrückbaren
Gegensatz zwischen »Rechten« und »Roten« beschreibt, erfaßt die Situation nicht
ausreichend. Die ukrainisch-nationalen Kräfte sind nicht mit »Rechten« oder gar
Rechtsextremisten gleichzusetzen, auch wenn deutsche Medien ihre
Vorwahlberichterstattung vor allem auf ultrarechte ukrainische Splittergruppen
konzentrierten. Auch unter den »Roten« gibt es Zentristen, die für Kooperation
mit Rußland eintreten, gleichwohl die ukrainische Souveränität nicht in Frage
stellen. Ein Beispiel ist der Ex-Premier Leonid Kucma aus Cernihiv, der schon am
27. März mit absoluter Mehrheit ins Parlament gewählt wurde und im Juni bei den
Präsidentenwahlen gegen Kravcuk antreten will. Auch Teile der hierzulande recht
einfach als »Nationalisten« abgestempelten Abgeordneten der nationalen
Opposition rechnen sich in bestimmten Sachfragen den Zentristen zu. Erbitterte
Kämpfe zwischen Nationalromantikern und Pragmatikern haben in der Vergangenheit
die Oppositionsarbeit behindert, und vieles spricht dafür, daß dies auch im
neuen Parlament so bleiben wird.
Die hohe Wahlbeteiligung vom 27. März kann allerdings nicht darüber
hinwegtäuschen, daß die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor ihren
»Volksvertretern« gegenüber auf mißtrauischer Distanz bleibt. Politik gilt als
schmutziges Geschäft, das vorrangig der Verteilung von Privilegien dient; auch
oppositionelle Politiker werden, teilweise zu Recht, verdächtigt, nur ihren
eigenen Vorteil im Auge zu haben. Viele sind der Überzeugung, daß ohnehin alles
beim alten bleiben wird, ob man sich nun an den Wahlen beteiligt oder nicht:
»Die da oben, wir hier unten«. Dies ist über Nationalität und Sprache hinweg
eine Identität, die die Mehrheit der ukrainischen Bürger noch am ehesten als die
ihre bezeichen würde.
Mit der ersten Zeile der ukrainischen Hymne könnte man die derzeitige Befindlichkeit im Lande treffend beschreiben. Man schwankt zwischen Hoffnung und Resignation, Bangen um die nationale Zukunft und totalem Desinteresse. Die von mir skizzierten Probleme sind erdrückend, und doch hat die Ukraine Chancen, die es zu nutzen gilt. Was ihre Situation so prekär macht, ist die Tatsache, daß die Dynamik der für die Ukraine gefährlichsten Entwicklungen nur bedingt von Kiew aus zu steuern ist. Viel hängt davon ab, welche Haltung Rußland in den nächsten Monaten einnehmen wird, und die aktuellen Moskauer Zustände lassen Schlimmstes befürchten. Die ukrainische Unabhängigkeit ist ein wunder Punkt im Nationalbewußtsein vieler Russen, die ihre ostslavischen Nachbarn im Grunde immer noch als einen Zweig der russischen Nation - »Kleinrussen« eben - betrachten. Bis tief in die Reihen der russischen Demokraten wird die Verselbständigung der Ukraine bis heute als »unnatürliche« Entwicklung interpretiert und als Demütigung empfunden. Solange also die Russen diesen Schock nicht verarbeitet haben, ist ein entspanntes, gleichberechtigtes ukrainisch-russisches Verhältnis kaum denkbar. Auch auf der ukrainischen Seite, die gegenüber Moskau zu oft Kompromißbereitschaft gezeigt hat, ohne nennenswerte, vertrauenswürdige Sicherheitsgarantien zu erhalten, dominiert inzwischen Mißtrauen angesichts des übermächtigen Nachbarn. Rußlands Absicht, die Angelegenheiten der außerhalb seiner Grenzen lebenden Russen zur »nationalen Aufgabe« zu machen und sich eine Einmischung im »nahen Ausland« vorzubehalten, trägt nicht zur Verbesserung der Atmosphäre bei. Weißrußland, dessen integrer Staatschef von konservativen, prorussischen Seilschaften abgesetzt wurde, steht den Ukrainern als mahnendes Beispiel vor Augen. Zwar sind die politischen Gegebenheiten in der Ukraine anders, ist die Nationsbildung wesentlich weiter fortgeschritten als bei den Weißrussen, trotzdem aber scheint Wachsamkeit angeraten. Die Ukraine hat aus diesem Grunde besonders gerne das Angebot des Westens über eine »Partnerschaft für den Frieden« angenommen. Die Führung in Kiew jedoch, wie auch immer sie nach den Wahlen aussehen mag, muß sich darüber im klaren sein, daß nationale Sicherheit unverbrüchlich mit Demokratisierung und Wirtschaftsreform zusammenhängt. Nur eine Ukraine, die allen ihren Bürgern wirtschaftliche Konsolidierung und politische Partizipation garantiert, wird ein stabiles Staatswesen sein, das auch russischen Anmaßungen gelassener gegenüber treten kann. Aufgabe des Westens wiederum müßte es sein, den zweitgrößten europäischen Staat mit seinem besonderen Charakter endlich als europäischen Akteur wahrzunehmen. Die im Vergleich zu Rußland wesentlich kooperativere außenpolitische Haltung der Ukraine sollte registriert und honoriert werden. Wer die Ukraine nach wie vor als ehemals russische Provinz behandelt und ihre »Provinzialität« belächelt, sollte sich vor Augen führen, daß bis vor kurzem jeder Kontakt des Landes mit der westlichen Welt von Moskauer Behörden kontrolliert oder gar verhindert wurde. Der Weg der Ukraine nach Europa ist auch der Weg aus der Generationen lang aufgezwungenen künstlichen Provinzialisierung; er ist jedoch nur mit europäischer Hilfe gangbar.
Die Autorin, Jahrgang 1966, ist Mitarbeiterin am Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Köln und ist regelmäßig wissenschaftlich und journalistisch in der Ukraine tätig.
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Last update: August
9th, 1998