Ende September ist ein Buch erschienen, das sich mit Theorie, Praxis und Geschichte des Bankraubs beschäftigt. Zu diesem außergewöhnlichen Vorhaben haben unser Autor Theo Bruns und unsere Redaktionsmitglieder Gert Eisenbürger und Gaby Küppers den nachfolgenden Text beigesteuert, der die "Enteignungsaktionen“ der MLN-Tupamaros in Uruguay ab Ende der 1960er Jahre beschreibt. Dabei ging es den AutorInnen nicht um eine vollständige Chronologie – das wäre auch unmöglich, denn die Banküberfälle der Tupas gingen in die Hunderte –, sondern um die besonderen Merkmale und Charakteristika der Aktionen. Die Tatsache, dass die Überfälle äußerst phantasievoll, mitunter auch skurril waren, brachte den Tupas viele Sympathien ein und garantieren den LeserInnen des Beitrags einen hohen Unterhaltungswert.
Montevideo. Ankunft am Flughafen Carrasco. Im Osten die Viertel der Reichen, im Westen die Arbeiterstadtteile. Nach einigen Kilometern auf der Küstenstraße taucht auf der rechten Seite ein imposantes Gebäude auf. Als wir hinüber schauen, lächelt der Freund, der uns vom Flughafen abgeholt hat: „Das ist das Kasino von Carrasco. Da waren wir auch mal drin.” Er ist kein Spieler, sondern Tupamaro, Mitglied einer Organisation, die den „Gewinn” nicht dem Zufall überlassen wollte. Das ist lange her. Aber die Erinnerung ist lebendig geblieben, und es dauert eine ganze Weile, bis das Lächeln von seinen Lippen verschwunden ist.
Warten auf den Guerillero lautete der Titel einer Schrift von Raúl Sendic, dem Führer der Bewegung der Zuckerrohrarbeiter. Die von ihm organisierten Protestmärsche der Cañeros auf Montevideo hatten die Landoligarchie nicht zum Einlenken bewegen können. Unter dem Einfluss der kubanischen Revolution entwickeln sich Anfang der 1960er Jahre die MLN-Tupamaros. Ihr Credo lautet: Erst das revolutionäre Handeln einer bewussten Minderheit, eines bewaffneten Kerns schafft eine revolutionäre Situation. Die Guerilla ist der subjektive Zünder, der kleine Motor, der den großen Motor der Revolution in Gang setzt.
Im Unterschied zum kubanischen Modell konnte in Uruguay die Guerilla nicht vom Land ausgehen, sondern organisierte sich im urbanen Raum Montevideos. Ihre Inspiration bezog sie weniger von lateinamerikanischen Vorbildern als aus dem Studium der französischen Résistance, der algerischen Revolution sowie des
Kampfes der Juden unter der britischen Mandatsmacht in Palästina. Binnen weniger Jahre entwickelte sie sich zur legendärsten Stadtguerilla der Welt, deren Ausstrahlungskraft bis nach Europa reichte: Tupamaros München, Tupamaros Westberlin nannten sich die ersten bewaffneten Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Und die spätere Entführung des Berliner CDU-Vor- sitzenden Peter Lorenz durch die Bewegung 2. Juni war in manchem an der Entführung des CIA-Agenten Dan Mitrione geschult, einer Aktion der Tupamaros, die durch den Film Der unsichtbare Aufstand von Costa Gavras weltweit bekannt geworden war.
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"Dezember 1963. Das Weihnachts- und das Neujahrsfest stehen vor der Tür. Für manche werden diese Feste Anlass sein, sich zu amüsieren, sich zu beschenken und gut zu essen. Für andere werden diese Tage ebenso trübe und traurig verlaufen, wie alle übrigen Tage ihres armseligen und von Hunger geprägten Lebens. Natürlich bedeuten einige gute Tage im Leben nicht viel, und es kommt
darauf an, daß alle Menschen an jedem Tag ihres Lebens glücklich sind. Dies ist wichtig, und dafür muß man kämpfen.” So beginnt das Kapitel „Cantegriles”in Wir, die Tupamaros, einem Buch, in dem die Guerilleros ihre eigenen Aktionen schildern.
Unter einer fingierten Adresse wurde bei der Aktiengesellschaft Manzanares ein LKW mit Lebensmitteln bestellt. Der LKW wurde von einem „Empfangskomitee” beschlagnahmt, und die Lebensmittel an die Bevölkerung des Slums verteilt – zusammen mit Flugblättern, denn man will keine passive Bewunderung auslösen, sondern Bewusstsein schaffen, „Brandherde der Rebellion” entfachen.
Obwohl für diese Aktion noch ein Kommando „José Artigas” (uruguayischer
„Nationalheld“) verantwortlich zeichnete, wird sie später mit den Tupamaros identifiziert und trug maßgeblich zum „Robin-Hood-Image” der Bewegung bei. Eine List der Geschichte, sollte dies doch die einzige Operation dieser Art bleiben und spätere Enteignungen der Eigenfinanzierung der Organisation und der revolutionären Aktion dienen. Es sei unsinnig, der Bevölkerung „heute Brot und morgen Hunger” zu geben, hieß es in einem späteren Text.
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Eine geradezu klassische Aktion der Stadtguerilla ist die Enteignungsaktion – und ihre bevorzugte Form der Bankraub. „Was die Bewaffnung angeht, so übernimmt die
Stadtguerilla die Grundregeln der Landguerilla: ‘sich beim Feind versorgen’. Für den Kampf der Stadtguerilla gilt, daß Fahrzeuge und Wohnungen als strategische Mittel ebenso wichtig sind wie Waffen. Zur Vorbereitung von Aktionen muß die Guerilla große Geldsummen enteignen; mit dem Geld kann sich die Stadtguerilla ihre ‘Sierra Maestra’ (Gebirge im Osten Kubas, erstes Operationsgebiet der castristischen Guerilla) kaufen, d.h. sichere Räume, Werkstätten, technische Ausrüstung und auch die Waffen. So wird die Enteignung genauso zu einem strategischen Instrument wie Maschinen, Wagen und Waffen.”
Daß Kontinuität ein „Hauptgesetz der Stadtguerilla” ist, bewiesen die Tupamaros auch auf diesem Gebiet in beeindruckender Form: Allein zwischen 1968 und März 1971 zählte die Polizei 74 Banküberfälle, die der revolutionären Organisation zugerechnet wurden. 1970 kam es zu einem Vorfall, der wohl weltweit einmalig sein dürfte: Bankfilialen wurden geschlossen, um zu verhindern, daß sie
ausgeraubt wurden.
Die Enteignungsaktionen dienten nicht der persönlichen Bereicherung, sondern verstanden sich als revolutionäre Aktion, als „Teil des Klassenkampfes”. Um diesen besonderen Charakter kenntlich zu machen, waren sie nicht nur von propagandistischen Aktionen
begleitet, wie z.B. der Veröffentlichung gestohlener Firmenunterlagen, die
Korruption oder verdeckte Geschäfte bekannter Politiker aufdeckten,
sondern sie bediente sich auch eines charakteristischen, unverwechselbaren
Stils.
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Caja Obrera. Einer der ersten Bankraube findet im
Oktober 1966 statt. Er nimmt geradezu burleske Züge an. Die Bank wird am
Mittag eine Viertelstunde vor der offiziellen Öffnungszeit besetzt, indem
ein „falscher Polizeibeamter” sich Zugang zum Gebäude verschafft. Seine
Uniform musste zuvor notdürftig zusammengeflickt werden, da sie in ihrem
Versteck von Ratten angenagt worden war. Die nach und nach eintrudelnden
Angestellten werden festgenommen und auf der Toilette eingeschlossen. Da
sich der Bankdirektor, der im Besitz des Tresorschlüssels ist, verspätet,
wächst ihre Zahl langsam auf acht an. Darüber hinaus erscheint ein
Angestellter der Elektrizitätswerke, um den Stromzähler abzulesen.
Letztlich geht alles gut, und der Inhalt des Tresors verschwindet in den
Taschen des Kommandos.
Einige Charakteristika werden deutlich:
„falsche Polizisten“ werden auch bei späteren Aktionen wieder auftauchen,
und auch ein zweites Merkmal ist bereits feststellbar: der Einsatz einer
verhältnismäßig großen Anzahl von an der Aktion Beteiligten. Diesmal
werden es 14 GenossInnen sein. Eine Überlegenheit, die darauf abzielt, den
Einsatz von Schußwaffen möglichst zu vermeiden.
Verkleidung – ein
Trauerzug inklusive Leichenwagen – und große Zahl (50) werden sich u.a.
bei der Besetzung der Kleinstadt Pando wiederholen, in deren Verlauf drei
Banken ausgeraubt werden.
Pando ist allerdings auch eine Warnung: Die
Aktion endet beim Rückzug in einem Desaster, drei Tupamaros werden
erschossen, mehrere verhaftet. Mögen die eingesetzten Mittel auch
spielerisch wirken – die Aktion ist es nicht.
*
Die politische
Bestimmung des Bankraubs bedingt seine Form, die Art seiner Durchführung,
seinen spezifischen Stil. Die „Stilelemente”, die „Ästhetik” werden
dadurch nicht unwichtig, sie erweisen sich vielmehr als Momente einer
durchdachten Strategie, die stets auf Vermittelbarkeit und
Rückkoppelbarkeit zu den Massenkämpfen bedacht ist.
Die Unterlegenheit
der Guerilla in bezug auf materielle Ressourcen kann nur durch einen
Vorsprung an Phantasie ausgeglichen werden. Uniformen werden aus dem
Atelier eines Militärschneiders entwendet, aber auch aus der
Requisitenkammer eines Theaters – und sogar zurückgegeben, wenn sie sich
als untauglich erweisen. Die ersten Waffen werden bei einem Einbruch in
den Schweizer Schießclub erbeutet, andere bei Überfällen auf Polizei-
stationen. Als Basen dienen eine Privatschule für Buchhaltung, ein
Jugendclub, eine Sprachschule. Perfekte Tarnung gehört zur
Überlebensstrategie.
Ziel der Aktionen ist es, die Repressionskräfte
zu demoralisieren, letztlich eine Dualität der Macht aufzubauen.
Einfallsreichtum und Verkleidung, die den Autor Alain Labrousse bei
manchen Aktionen an eine „komische Oper” denken ließen, machen den Gegner
lächerlich und streichen die eigene Überlegenheit heraus, erwecken
Sympathie und zeigen der Bevölkerung, daß der Apparat verwundbar
ist.
Schließlich: Kaltblütigkeit, minuziöse Planung, Geschwindigkeit.
Die verschiedenen Schritte einer Aktion greifen nahtlos ineinander,
gehorchen einer Choreographie, als hätte sie ein „Ballettmeister”
einstudiert.
*
Panzerknacker: Auch diese Methode kommt bei den
Tupamaros zum Einsatz. Ort der Handlung ist das palastartige Anwesen einer
der reichsten Familien der uruguayischen Oligarchie, der Mailhos. In ihm
befindet sich der „Goldesel“, ein Safe, der den Reichtum der Familie birgt
und üppige Beute verspricht. Roberto Filippone, ein Angestellter des
Hauses, der durch den „Widerspruch der Verweigerung des Nötigsten mit den
fantastischen Reichtümern mancher Familien” sensibilisiert wurde und sich
klar gemacht hat, „dass Geld unheimlich wichtig für die Revolution ist“,
hat den Tipp gegeben und sich den Tupamaros angeschlossen.
Es dürfte
eine der schweißtreibendsten Arbeiten der Organisation gewesen sein. Der
Safe wiegt sage und schreibe 1500 Kilogramm, ihn in der Wohnung zu knacken
ist zu zeitraubend, und man beschließt, ihn abzutransportieren. Dazu sind
Rollen, Flaschenzüge und Planken notwendig. Eine Wand muss aufgebrochen
werden, um Platz zu schaffen. Der Hausmeister und seine Familie müssen
festgesetzt und beruhigt werden. Die Aktion verläuft am Wochenende in der
Nacht von Samstag auf Sonntag. Erst im Morgengrauen schaffen sie es, den
Safe auf den bereitstehenden Lastwagen zu wuchten. Eine Milliarde Pesos in
Pfund Sterling und Goldbarren fließen in die Kassen der Organisation.
Auf einer Tafel pflegten die Mitglieder der Familie Mailhos Ort und
Dauer ihrer Abwesenheit aufzuschreiben:
„Gustavo, Punta del Este, bis
zum 2. März. Julio, Paris, bis zum 5. Mai“.
Darunter prangt nun die
Eintragung:
„Roberto Filippone, bis zum Sieg!“
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Propaganda. Die Verbindung von Geldbeschaffung und
revolutionärer Propaganda gelingt beispielhaft beim Überfall auf die
Anlagefirma Monty. Das Unternehmen gehörte zur Banco de Crédito. Diese
hatte die Firma gegründet, um ihre schwarze Buchführung zu tarnen. Der
Zweck des Unternehmens waren Steuerhinterziehung und Goldgeschäfte, die
mit angeblichen Transaktionen mit Firmen in Panama oder auf den Bahamas
kaschiert wurden.
Lucía Topolansky, eine junge Studentin und Aktivistin
der Tupas, kam auf der Suche nach einer Studienfinanzierung zufällig als
Sekretärin in das Unternehmen. Als sie feststellte, was sich hinter ihrem
Arbeitsplatz verbarg, informierte sie die Organisation.
Am Freitag, 14.
Februar 1969, überfielen die Tupamaros die Büroräume der Anlagefirma. Dank
Topolanskys Tätigkeit waren sie bestens informiert, kannten sogar die
Kombination des Geldschranks. Sie fesselten die Angestellten, öffneten den
Tresor und holten in acht Minuten problemlos Geld – mehrere zehntausend
Dollar – und belastende Papiere heraus. Kurz nach ihrer Flucht trifft eine
ahnungslose Angestellte ein, befreit die Gefesselten und informiert den
Geschäftsführer.
Eine halbe Stunde später findet eine Versammlung unter
Anwesenheit der Chefs statt. Man will die Polizei nicht einschalten.
Am
nächsten Tag gibt die MLN-Tupamaros ein Flugblatt heraus, in dem sie die
Verantwortung für den Überfall übernimmt. Doch das ganze Wochenende über
geschieht nichts. Schließlich wendet sich die MLN an die Presse, die
Polizei und verschiedene Persönlichkeiten. In der Innenstadt Montevideos
tauchen Flugblätter auf, in denen die Tupas ausführlich über Aktivitäten
und Personalverwicklungen der Monty berichten. Keine Reaktion. Einem
Radiosender und dem Untersuchungsrichter Arturo Otero werden Kopien der
enteigneten Bücher zugespielt. Die Monty schweigt weiter. Am Dienstag
begründet ein Polizeisprecher die Untätigkeit der Polizei damit, daß die
Überfallenen den Überfall nicht gemeldet hätten, der Fall liege nun in den
Händen der Justiz. Als die ersten Presseberichte erschienen, dementierte
die Monty formell. Weder Geld noch Akten seien gestohlen worden.
Nur
Tage nach dem Überfall werden die Räume der Monty durch einen Brand
vernichtet. Die Feuerwehr stellt Brandstiftung fest. Die öffentliche
Meinung weiß, woran sie ist. In Umfragen spenden mehr als 90% der
UruguayerInnen der MLN-Aktion Beifall.
Im Justizapparat wird im Oktober
der mit den Ermittlungen beauftragte Richter versetzt. Zwei Jahre später
wird Lucia Topolanski, die nach dem Überfall in die Klandestinität
abgetaucht war, festgenommen. In ihrer Akte steht der Fall Monty. Sie und
ihr Rechtsanwalt entscheiden, den Fall in ihrem Verfahren aufzurollen.
Doch ihre Anträge bleiben in den Mühlen der Justiz hängen. Später gelingt
Lucía Topolansky die Flucht aus dem Gefängnis. Nach ihrer erneuten
Verhaftung ist der Komplex Monty aus ihrer Akte verschwunden.
In die
schwarzen Geschäfte des Unternehmens waren zahlreiche Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens verwickelt. Eine Woche nach dem Überfall trat einer
der Hauptaktionäre der Banco de Crédito, Landwirtschaftsminister Carlos
Frick Davies, zurück. Alle anderen, deren Namen in den illegalen
Transaktionen auftauchen, blieben in ihren Ämtern.
*
Heißer
Sommer. Am 18. Februar 1969, nur vier (!) Tage nach dem Überfall auf die
Monty gelingt den Tupamaros eine weitere spektakuläre Enteignungsaktion:
Sie überfallen das Spielcasino San Rafael in Punta del Este. Die Beute:
umgerechnet eine hallbe Million Mark.
Punta del Este – der mondäne
Badeort 150 Kilometer östlich von Uruguays Hauptstadt, dort wo die
Trichtermündung des Rio de la Plata endgültig zum Atlantischen Ozean wird,
ist seit Jahrzehnten das Mekka der Reichen nicht nur Südamerikas.
Argentinische Großgrundbesitzer, brasilianische Industriebosse, aber auch
der griechische Reederkönig Aristoteles Onassis oder der im Amt ergraute
deutsche Playboy Gunter Sachs hatten bzw. haben dort ihre
Villen.
Anfang 1979 heckten die Guerilleros den Plan „heißer Sommer“
aus , der – so schrieben sie – „den Pulvergeruch in die Bastionen der
Bourgeoisie“ blasen sollte. Sie wollten sich nicht in einen
Abnutzungskrieg gegen die Polizei verwickeln lassen, während die
herrschende Klasse in aller Ruhe Champagner schlürfte. So erhielten viele
Reiche in diesem Sommer ungebetenen Besuch. Die Gäste stürmten Villen,
zerschlugen Porzellan und Kristall, teerten Perser-Teppiche, kippten
Whisky in die Blumentöpfe und zerrupften die Pelze. Auch bei Onassis
wurden sie vorstellig und entwendeten ein Gewehr.
Höhepunkt des heißen
Sommers war der Überfall auf das Spielcasino San Rafael (in Uruguay sind
Januar und Februar die heißesten Sommer-Ferienmonate). Einer der
beteiligten Tupamaros war der Schriftsteller Mauricio Rosencof. Er
erinnert sich: „Am 18. Februar 1969, um 17 Uhr, steigt der Hauptkassierer
des Spielkasinos San Rafael aus dem Omnibus. Er ist nach getaner Arbeit
auf dem Weg nach Hause. Zwei uniformierte Polizisten treten auf ihn zu,
weisen sich mit der Marke aus und fordern ihn auf, sie aufs Revier zu
begleiten, um eine Routine- angelegenheit zu klären. Er steigt ein. Doch
der Streifenwagen biegt in eine Seitenstraße, wo die Polizisten ihre
Waffen ziehen und den Kassierer zur Herausgabe der Tresorschlüssel
zwingen. Mit dem Gefesselten klingeln sie an der Pforte des Spielkasinos.
Dort halten sich nur Putzfrauen und ein paar Wachleute auf, die die
vermeintlichen Polizisten einlassen. Als sie sich zu erkennen geben,
erleidet die Putzfrau Doña Tomasa einen Nervenzusammen- bruch und bittet
die Räuber, an ihre Kinder zu denken. Sie wird beruhigt: „Sorgen Sie sich
nicht um Ihre Kinder, es wird ihnen nichts passieren. Das hier machen wir
für Ihre Kinder, für unsere Kinder und für alle. Das Geld ist für das
Volk“. Das Kommando öffnet den Safe. Nach sieben Minuten steigen die
Räuber, ohne einen Schuss abgegeben zu haben, in ihre Wagen und brausen
davon.“
Die Tupamaros hatten aller Welt demonstriert, dass ein
bewaffneter Angriff auf die gehüteten Enklaven der Reichen möglich war.
Zudem hatten sie eine riesige Beute erzielt. Aber auch in der Stunde des
Erfolgs blieb sparsame Kassenführung eine revolutionäre Pflicht, wie sich
Rosencof erinnert: „Das war unglaublich viel Geld für die Organisation. Es
war mitten in der Feriensaison, mit all den Superreichen aus Buenos Aires,
die sich von ihren Jachten direkt ins Kasino begeben. Raúl Sendic und ich
hatten wochenlang San Rafael von gegenüber aus einer Bar observiert, stets
bei einem Glas Sprudel. Aber in der Nacht nach der Operation fuhren wir
zum Feiern nach Maldonado und Sendic sagte: wir haben uns einen Schluck
verdient! Auf Kosten der Operation tranken wir einen Grappa mit Zitrone.
Und als wir das Glas ausgetrunken hatten, sagte er: wenn du noch einen
willst, musst du ihn aus eigener Tasche zahlen.“
*
Revolutionäre
Ehre. Die Beute des Überfalls auf das Casino San Rafael enthielt auch die
Trinkgelder der Croupiers – Löhne von Arbeitnehmern also. Arbeitern aber
wollten die Tupas grundsätzlich nichts rauben. So standen sie mehrfach vor
einem Dilemma, wie sich Rosencof erinnert: „Dieses Problem hatte sich auch
bei der Enteignung der Sparkasse gestellt, in deren Safes die Leute ihren
Familienschmuck aufbewahrt hatten. Wir hatten insgesamt vierzehn Säcke
Juwelen herausgeholt, und plötzlich protestierten die Leute in
Leserbriefen und forderten ihren Schmuck zurück. Sie hatten sogar ein
Komitee gegründet. Wir teilten ihnen über eine Presseerklärung mit, dass
wir dazu bereit seien und dass wir genaue Beschreibungen erwarten, nach
denen wir die Klunker sortieren könnten. Auch das Trinkgeld der Croupiers
in San Rafael wollten wir an die Beschäftigten zurückerstatten.“
Doch
der Vorsatz scheiterte an seiner praktischen Durchführbarkeit. Die
Situation in Uruguay hatte sich zugespitzt. Nicht zuletzt durch die
Operation „Heißer Sommer“ waren die Mächtigen in helle Aufregung versetzt.
Die Auseinandersetzung begann, in einen Bürgerkrieg auszuarten, in ein
Gemetzel zwischen Todesschwadron und Revolution.
*
Komische
Oper. Das Ausmaß der skurrilen Szenen, die sich beim Einbruch in die Banco
Francés e Italiano am 27. Dezember 1969 ereigneten, würden wohl selbst die
Phantasie eines auf komische Verwicklungen spezialisierten
Operettenlibrettisten übersteigen. Nach den Weihnachtsfeiertagen
vermuteten die Tupamaros in der Bank einen prall gefüllten Tresor und
Material über illegale Finanztransaktionen ins Ausland. Drei Wochen lang
observierten sie die Bank, um sich über alle Details des täglichen
Betriebs genauestens zu informieren. Dann stand der Plan: Eine Konditorei
sollte beauftragt werden, nach Schalterschluss im Namen eines potenten
Kunden Leckereien als Jahresabschlussgeschenk in der Bank anzuliefern –
eine durchaus landesübliche Sitte. Auf dem Weg dorthin sollte der Wagen
abgefangen und die Konditoreiangestellten gegen Tupas ausgetauscht werden,
die sodann mit Kuchentabletts und dem üblichen Cidre unverdächtig in die
Bank eindrängen. Die telefonische Bestellung bei der Konditorei am 24.
Dezember sorgt für eine böse Überraschung. Alle Autos für den geplanten
Tag der Aktion waren ausgebucht. Der Plan muss verändert und wieder auf
die Variante „falsche Polizisten“ zurückgegriffen werden.
Am 27.
Dezember, kurz vor Schalterschluss beziehen die beteiligten Tupamaros ihre
Positionen in der Nähe des Personaleingangs der Bank. Unverhofft tippt
einem von ihnen ein ahnungsloser Bekannter auf die Schulter. Der Genosse
antwortet einsilbig, doch der Bekannte lässt sich einfach nicht
abschütteln. Der Zeitplan gerät in Gefahr – da verabschiedet sich die
Plaudertasche buchstäblich in letzter Minute.
Zum vereinbarten
Zeitpunkt klingelt ein vermeintlicher Bote der Telegraphengesellschaft bei
der Bank, um ein Telegramm abzugeben. Seine Uniform ist täuschend echt,
maßgeschneidert in einer klandestinen Schneiderei. So schöpft der Portier
keinerlei Verdacht und öffnet die Tür, um den Erhalt des Telegramms zu
bestätigen. Sofort schieben sich sechs Männer in den Eingang, gegenüber
dem überraschten Wärter weisen sie sich als Polizisten der
Ermittlungskommission aus. Die Bank müsse durchsucht werden, soeben sei
eine Bombendrohung eingegangen.
In Windeseile ist das gesamte Personal
im Empfangsraum im Erdgeschoss versammelt. Die falschen Polizisten
informieren die erschrockenen Angestellten über das drohende Attentat und
fordern sie auf, jegliche Berührung mit elektrischen Geräten und Telefonen
zu vermeiden, um nicht unbeabsichtigt die Explosion der Bombe auszulösen.
Inzwischen sind weitere „Polizisten“ in der Bank eingetroffen. Alle
Angestellten beteiligen sich an der sorgfältigen Durchsuchung des
Gebäudes. So ist ihre Gesamtzahl – exakt 32 – schnell ermittelt.
Die
anfängliche Panikstimmung legt sich bald. Nach rund einer halben Stunde
geben sich die Bankräuber als solche zu erkennen und fordern vom
Hauptkassierer den Schüssel des Tresorraums. Dieser händigt ihnen seinen
aus, fügt jedoch hinzu, daß zur Öffnung ein zweiter Schlüssel notwendig
sei. Den habe der Bevollmächtigte Nelson Barocco, welcher bereits zu einer
Essenseinladung in den Club Español gefahren sei. Erneute Umdisposition.
Zwei der Bankräuber fahren zum Club Español, machen Barocco ausfindig und
teilen ihm mit, der Geschäftsführer Berri habe Selbstmord begangen. Er,
Barrocco, solle kurz mit zur Bank kommen, um mit seinem zweiten Schlüssel
den Tresorraum zwecks Überprüfung zu öffnen. Barocco sieht sich ertappt.
Er habe seinen Schlüssel für den Wochenbeginn regelwidrig bereits dem
nächsten Bevollmächtigten Hector Brunetto weitergegeben. Aber er könne sie
in seinem Wagen zum Haus Brunettos fahren. Im Auto treibt man
Konversation, ein völlig unfähiger Mensch sei sein Chef gewesen, mutmaßt
Barocco, so etwas treibe wohl in den Selbstmord. Brunetto ist rasch von
der Notwendigkeit, mitzukommen überzeugt. Doch seine Gattin wittert einen
fingierten „Ausflug“ ihres Mannes und lässt sich erst einmal den
Dienstausweis derjenigen zeigen, hinter denen sie seine Saufkumpane
vermutet. Da alles offenbar stimmt, fährt Brunetto mit zur Bank. Am Portal
verabschiedet sich Barocco und kehrt ohne jeden Verdacht zum Club Español
zurück. Mit Brunettos Schlüssel lässt sich der Tresorraum endlich öffnen,
doch für den Geldschrank fehlt ein weiterer Schlüssel, der sich – so
erfahren die Bankräuber erst jetzt – in der Hand des Kassierers befindet.
Der sei ebenfalls bei besagtem Abendessen im Club Español. Mittlerweile
ist es zehn Uhr abends. Ein erneuter Trip zum Club Español würde viel Zeit
kosten und möglicherweise Aufmerksamkeit erregen. So versuchten die
Bankräuber, den Geldschrank mit 300 Millionen Pesos mit Gewalt zu
knacken.
Doch da steht plötzlich die Frau des Bankdirektors Berri vor
der Tür. Das Paar war zu einem Essen eingeladen. Die Ehefrau hatte zu
Hause gewartet und dann ungeduldig in der Bank angerufen. Die dort
erhaltene Antwort, ihr Ehemann sei leider sehr beschäftigt und könne noch
nicht weg, hatte sie stutzig gemacht und auf die Idee gebracht, selbst
vorbeizuschauen. Ihre Ankunft vereitelt alle weiteren Aktivitäten. Die
Tupas wimmeln sie mit der Nachricht ab, Berri sei bereits fortgegangen,
und bereiten den Rückzug vor. Die Aussicht auf die 300 Millionen Pesos muß
aufgegeben werden. Immerhin können sie viele vertrauliche
Geschäftsunterlagen mitgehen lassen.
Bevor die Tupamaros die Bank
verlassen, schließen sie das gesamte Personal im Tresorraum ein. Nachdem
ihr Rückzug gelungen ist, melden sie den Coup der Polizei, die die
Angestellten befreit.
*
„Buchstäblich unzerstörbar” seien die
Tupamaros, schrieb im September 1971 Régis Debray, der von der
Massenverankerung der Guerilla und ihrer organisatorischen und
militärischen Stärke beeindruckt war. Er irrte sich – zumindest
vorübergehend. Ein Jahr später wurden die Tupamaros zerschlagen, ein
weiteres Jahr später putschten die Militärs, und Uruguay versank für mehr
als ein Jahrzehnt in der Nacht der Militärdiktatur.
Nach deren Ende
und der Freilassung aller gefangenen Guerilleros konstituierten sich 1985
die MLN-Tupamaros neu als legale Organisation. Sie ist heute Teil des
Linksbündnisses „Frente Amplio“. Bei den letzten Wahlen (November 1999)
wurde die Frente stärkste politische Kraft in Uruguay und stellt in der
inzwischen schon dritten Legislaturperiode die Stadtregierung von
Montevideo.
Dieses Amt bescherte den Tupamaros einen ernsthaften
Konflikt, der sich ironischerweise ausgerechnet am einst überfallenen
Casino von Carrasco entzündete. Die Spielbank und das zugehörige Hotel
sind städtisches Eigentum. Da diese Anlage mittlerweile chronisch
defizitär war, wollte es die linke Stadtregierung privatisieren. Ein
Tupamaro-Stadtrat mochte diese Entscheidung, die der
Antiprivatisierungspolitik der MLN widersprach, nicht mittragen und führte
dadurch eine Zerreißprobe herbei, die fast zum Bruch des Linksbündnisses
geführt hätte.
Das Buch Va Banque! ist im Verlag Libertäre Assoziation und dem Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Straße erschienen.
Literatur:
*Alain Labrousse: Die Tupamaros. Stadtguerilla in Uruguay, München 1971
*Interview mit Urbano, in: Alex Schubert: Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay – Rote Armee Fraktion in der BRD, S. 57-80, Berlin 1971
*Régis Debray: Was wir von den Tupamaros lernen können. In: Sozialistisches Jahrbuch 4, hg. v. Wolfgang Dreßen, S. 144-175, Berlin 1972
*Wir, die Tupamaros, Frankfurt/M. 1973
*Ernesto Kroch: Ein Hotel als Zankapfel – Heftige Konflikte in der Linken Uruguays, in: ila 211 (Dez. 1997), S. 22/23
*ders.: Uruguay – zwischen Demokratie und Diktatur, dipa-Verlag, Frankfurt/M. 1991
*Gaby Weber: Ein Mythos stirbt – Tupamaros heute. In: Ernesto Gonzalez Bermejo: Hände im Feuer. Ein Tupamaro blickt zurück, S. 243-265, Gießen 1986
*Interview von Gaby Weber mit Mauricio Rosencof, am ??.??.1999, in Montevideo/Uruguay
*Eleuterio Fernández Huidobro: Historia de los Tupamaros. Tomo 1: Los orígenes; Tomo 2: El nacimiento; Tomo 3: El MLN, Montevideo 1989/90
*Financiera Monty: la historia de la gran cloaca, in: Mate Armago, Montevideo, 8 de Enero 1992
*El Banco de Crédito y las financieras – Entrevista con Luisa xxx Lucíaxxx Topolansky, in: Mate Armago, 25 de Abril 1996
*Div. Artikel aus der uruguayischen Tagespresse aus dem Jahr 1969, archiviert und ausgewertet von David
Cámpora (Montevideo)
Die AutorInnen danken Gaby Weber und David Cámpora (Montevideo) für freundliche Unterstützung, wichtige Hinweise und Überlassung von umfangreichem Quellenmaterial.
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