Die TÜRKEI vor den Toren EUROPAS

Vom osmanischen Vielvölkerreich
zum türkischen Nationalstaat

Ein geschichtlicher Abriss

von Fikret Adanir {Bürger im Staat Heft 1/2000}

Links, Bilder und Nachbemerkung: Nikolas Dikigoros

Prof. Dr. Fikret Adanir lehrt Geschichte Südosteuropas (mit besonderer Berücksichtigung der osmanisch-türkischen Geschichte) an der Ruhr-Universität Bochum

Im Gefolge des Ersten Weltkrieges schrumpfte das Osmanische Reich zur Türkei. Modernisierungsströmungen hatte es zwar schon vorher gegeben. Doch erst jetzt konnte der Weg zu einem modernen säkularen Staat konsequent und radikal gegangen werden, unter Führung von Kemal Pascha, der den Beinamen Atatürk erhielt: Vater der modernen Türkei. Letztlich vollzog er mit Hilfe einer "Erziehungsdiktatur" eine Kulturrevolution, die jedoch nicht unwidersprochen hingenommen wurde, bis zum heutigen Tag. Die Entwicklung des türkischen Parteiensystems, die politischen Krisen wie auch die Interventionen des Militärs sind letztlich zu begreifen vor der Auseinandersetzung darum, ob sich die Türkei als islamischer oder moderner säkularer Staat definieren soll. Der Anschluss an die EU würde das vollenden, wovon die türkische Elite seit rund 200 Jahren träumt: die Türkei als moderner europäischer Staat. Red.

Versuche, das Osmanische Reich zu reformieren, schlugen fehl

Die Ausrufung der Republik Türkei am 29. Oktober 1923 wurde von einem profunden Kenner universalgeschichtlicher Zusammenhänge als "ein Denkmal zur Vormachtstellung der westlichen Zivilisation in der modernen Welt" charakterisiert (Arnold Toynbee). In der Tat kann der Übergang vom osmanischen Vielvölkerreich zum Nationalstaat des 20. Jahrhunderts durchaus als Folge spätosmanischer Bemühungen um die Reformierung von Staat und Gesellschaft nach europäischen Vorbildern gesehen werden. Schon 1876 hatte die Reformbewegung Tanzimat die Gewährung einer Verfassung durchgesetzt und somit das Reich in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt. Die Reformer waren dabei von der Hoffnung getragen, die auseinanderstrebenden Interessen einzelner Reichsvölker im Rahmen eines parlamentarischen Systems versöhnen zu können. Alle Untertanen des Sultans sollten unabhängig davon, welcher Religion oder ethnischen Gruppe sie angehörten, rechtlich gleichgestellte Bürger ein und desselben osmanischen Vaterlandes sein.

Die Verwirklichung dieser integrativen Ideologie des "Osmanismus" implizierte auf lange Sicht die Ersetzung der alten Konfessionsgemeinschaften (Millets) durch einen säkularen und demokratisch legitimierten Territorialstaat. Dies entsprach jedoch kaum den Interessen der nationalen Befreiungsbewegungen osmanischer Völker, deren Eliten im Rahmen des für sie günstigeren alten Systems auf die "Wiedergeburt" ihrer jeweiligen Nation hinarbeiteten. Dass es praktisch unmöglich war, das Territorium des Reiches, auf dem man seit Jahrhunderten in einer Gemengelage gelebt hatte, nach nationalen Gesichtspunkten "gerecht" aufzuteilen, wurde ignoriert. Ebenso gering schätzte man die Bedeutung der Tatsache, dass manches Gebiet, das man im Namen des historischen Rechts für die eigene Nation reklamierte, vielleicht mehrheitlich von einer anderen ethnischen Gruppe besiedelt war.

Es war zudem schon eine Ironie der Geschichte, dass gerade der Westen, dessen Gleichheitsideal die osmanischen Reformer anstrebten, für die Respektierung der historisch gewachsenen Privilegien der christlichen Völker, somit faktisch für die Beibehaltung des alten Konfessionssystems im Orient eintrat. Denn eine konsequente Reformierung, d.h. auch Säkularisierung des Osmanischen Reiches, würde auch die Interessen der europäischen Großmächte beeinträchtigen. So wäre dadurch der exterritoriale Status der Europäer im Orient ebenso unhaltbar geworden, wie die Protektoratsansprüche der Mächte in Bezug auf die orientalischen Christen gegenstandslos geworden wären, weil beide auf dem Konfessionalitätsprinzip fußten. Nicht zuletzt erschiene auch die wirtschaftliche Open-door-Politik gegenüber dem Osmanischen Reich, welche die Mächte unter kollektiver Anstrengung aufrecht erhielten, in Frage gestellt.

Die osmanischen Reformer stießen aber auf Widerstand auch von Seiten der muslimischen Bevölkerungsmehrheit. Die Muslime sahen sich als das staatstragende Element überhaupt, das jedoch wirtschaftlich und sozial schlechter gestellt sei als die nichtmuslimischen Mitbürger. Die Unzufriedenheit vertiefte sich infolge der katastrophalen Niederlage im Krieg gegen Russland 1877/78, als Hunderttausende muslimischer Flüchtlinge aus dem Balkan und Kaukasus Zuflucht in Kleinasien suchten. Die Regierung Abdulhamids II. (1876-1909) war bestrebt, diese Unzufriedenheit der muslimischen Bevölkerung für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Als erstes setzte er die Verfassung von 1876 außer Kraft und duldete für Jahrzehnte keine liberale Opposition mehr. Säkularisierende Reformen der vorangehenden Epoche wurden nun als die eigentlichen Ursachen der eingetretenen Katastrophen hingestellt. Gegenüber der offensichtlich überlegenen Kultur des modernen Europa stellte man die großen Leistungen der islamischen Zivilisation in der Vergangenheit heraus. Angesichts der Expansionspolitik der Kolonialmächte in den muslimischen Gebieten Afrikas und Asiens gelang es dem Sultan außerdem, das seit langem verblasste Amt des Kalifats zu reaktivieren und als Beschützer aller Muslime aufzutreten.

Die "Jungtürken" und die Gründe ihres Scheiterns

Die jungtürkischen Intellektuellen, die in den 1890er Jahren in disparaten Gruppierungen im Exil zusammenkamen, waren hauptsächlich durch ihre Opposition gegen das Regime Sultan Abdulhamids geeint. Sonst zeigte man sich aber unfähig, eine breitere Basis für eine konstruktive gemeinsame Politik zu finden. Während die Mehrheit, darunter armenische, albanische und arabische Organisationen, für die Dezentralisation des Reiches mit entsprechender regionaler Autonomie eintrat und um dieses Zieles willen sogar bereit war, die Großmächte zu militärischen Interventionen aufzufordern, bestand die Minderheit, die als "zentralistisch" galt, auf der Respektierung der osmanischen Souveränität. Diesen Zentralisten sollte es Ende 1907 vorerst gelingen, die übrigen Gruppierungen auf ein Aktionsprogramm zu verpflichten, das im wesentlichen die Wiedereinführung der Verfassung zum Ziel hatte. So kam es zu einer spektakulären Völkerverbrüderung in den Tagen der jungtürkischen Revolution im Sommer 1908.

Indes wurde die nationale Frage keineswegs gelöst. Die gegensätzlichen Interessen traten in den Parlamentswahlen im Spätherbst 1908 offen zutage, als die vielen Unregelmäßigkeiten das Vertrauen zum zentralistischen jungtürkischen Komitee Einheit und Fortschritt zusätzlich untergruben. Die feindliche Haltung der Nachbarstaaten und einiger Großmächte war ein weiterer Faktor, der zur Destabilisierung des neuen Regimes beitrug. Die bulgarische Unabhängigkeitserklärung, die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn und die Enosis (Wiedervereinigung) der Insel Kreta mit Griechenland im Oktober 1908 waren aufeinander abgestimmte Handlungen, in hohem Maße geeignet, die verfassungsmäßige Ordnung im Osmanischen Reich zu diskreditieren.

Ein wichtiger Grund für das Scheitern der Jungtürken ist jedoch darin zu sehen, dass ein muslimisches Bürgertum, das als Träger des neuen konstitutionellen Systems hätte dienen können, nicht vorhanden war. So stützte sich die Reformbewegung hauptsächlich auf die grundbesitzende Schicht und die Militärs. Von den muslimischen Massen, deren Interessen die Jungtürken zu artikulieren glaubten, waren sie kulturell entfremdet. Überwiegend Anhänger positivistischer Lehren und diverser sozialdarwinistischer Vorstellungen, glaubten sie, die Rückständigkeit des Landes auf den islamischen Glauben der Bevölkerung zurückführen zu können. Ihr elitäres Denken dürfte weitgehend erklären, warum unter ihnen sich schließlich ein ungeduldiger Aktionismus durchsetzte, dem Gewalt als Mittel der Politik durchaus vertraut war. Die politischen Krisen, wie die anlässlich der "gegenrevolutionären" Bewegung im Frühjahr 1909 oder die nach der Niederlage im Balkankrieg 1912/13, wurden nur dank der Intervention der Streitkräfte gemeistert. Unter dem zunehmenden Einfluss des Militärs zeigte sich das jungtürkische Komitee seit 1913 entschlossen, die Zügel im Sinne eines strengen Zentralismus straffer anzuziehen. Die Niederlage im Balkankrieg wurde zum einen darauf zurückgeführt, dass die nichtmuslimischen Soldaten zum Feind übergelaufen und damit eine Demoralisierung in den osmanischen Reihen verursacht hätten, zum anderen aber darauf, dass der durchschnittliche osmanische Soldat es unter dem Einfluss eines multikulturellen Osmanismus verlernt habe, sich für die Ehre des Islam und des Vaterlandes aufzuopfern. Man sah es als erwiesen an, dass das Land künftighin eine neue Erziehung im nationalistischen Geist brauchte.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschien in dieser Perspektive auch als Chance, das jungtürkische Nationalprogramm in Gang zu setzen. Als erstes wurde das verhasste Regime der "Kapitulationen", das die rechtliche Basis aller Privilegien der Europäer (Exterritorialität, Steuerfreiheit, eigene Postämter, niedrige Ad-valorem-Zollsätze) im Orient bildete, gekündigt. Bald danach erhob man das Türkische zum obligatorischen Medium der Korrespondenz in der Wirtschaft und ebnete damit den Weg für die Ersetzung der überwiegend christlichen Angestellten durch das Personal islamischen Glaubens. Im militärischen Bereich schließlich war man auch im Sinne des deutschen Verbündeten entschlossen, die Kolonialvölker durch pantürkische bzw. panislamische Aufstände im Kaukasus, in Ägypten oder Indien zu "revolutionieren".

Der Erste Weltkrieg ließ vom Osmanischen Reich nur einen Rumpfstaat übrig

Als die ersten Initiativen an der Kaukasusfront im Winter 1914/15 mit einem Debakel endeten und die russische Armee, der Sympathie der armenischen Bevölkerung im Osten sicher, die Gegenoffensive eröffnete, geriet das jungtürkische Regime in eine prekäre Lage. Am Vorabend der Landung der Entente-Truppen an den Dardanellen (25. April 1915) entschloss man sich zu durchgreifenden Maßnahmen gegen die politischen Organisationen der Armenier: Wurden zunächst nur deren Führer in der Hauptstadt verhaftet, ging man Ende Mai 1915 dazu über, die gesamte armenische Bevölkerung des zur "Kampfzone" erklärten Anatolien in andere Gebiete im Süden (Syrien und Mesopotamien) zu deportieren - eine Maßnahme, die aus der Sicht einer nationalistischen Clique die Lösung einer der schwierigsten Probleme der spät-osmanischen Geschichte versprach, die aber Hunderttausenden (wenn nicht gar über einer Million) von unschuldigen Menschen das Leben kostete. Trotzdem änderte sich die Lage im Osten erst, nachdem die russische Kaukasus-Armee sich infolge der Oktober-Revolution 1917 aufgelöst hatte. Aufgrund des Vertrags von Brest-Litovsk (3. März 1918) konnten die Jungtürken nunmehr die Heimkehr der 1878 an Russland abgetretenen Distrikte Kars, Ardahan und Batum feiern. Im Juni 1918 ließ der Generalissimus Enver Pascha gar eine "Islamische Armee" im Kaukasus aufstellen, mit dem Auftrag, Baku am Kaspischen Meer zu befreien. Kurz nach dem Erreichen dieses grandiosen Ziels brach jedoch die Front in Palästina zusammen, und der Erste Weltkrieg war für das Osmanische Reich verloren.

Wie es sich bald heraus stellte, verhieß der Frieden dem altehrwürdigen Reich der Osmanen nichts weniger als die totale Auflösung. In Vorwegnahme jeglichen Widerstands liefen die Entente-Flotten im Herbst 1918 in den Bosporus ein. Während Armenien im April 1919 die östlichen Vilayets annektierte, autorisierte man Griechenland, Izmir (Smyrna) und dessen Hinterland zu besetzen, was Mitte Mai 1919 vollzogen wurde. Die osmanische Regierung selbst hoffte immer noch darauf, aus den gegensätzlichen Interessen der Großmächte profitieren zu können. Die britisch-französische Zwietracht über die Abgrenzung der jeweiligen Einflusszonen im Nahen Osten schien in der Tat die Verhandlungsposition der Hohen Pforte zu stärken. Doch erwiesen sich alle diesbezüglichen Hoffnungen letztlich als Illusion, und man sah sich auch unter dem Eindruck des griechischen Vormarsches in Ostthrakien in Richtung Istanbul gezwungen, die Bedingungen des Friedens von Sèvres anzunehmen (10. August 1920).

Neben dem Verzicht auf die arabischen Provinzen zugunsten der Ententemächte gewährte man England, Frankreich und Italien ausgedehnte Einflusszonen auch im Süden bzw. Südwesten Kleinasiens. Armenien wurde als unabhängige Republik anerkannt, deren Westgrenze durch einen Schiedsspruch des US-Präsidenten Wilson bestimmt werden sollte. Östlich von Euphrat war ferner ein autonomes kurdisches Gebiet vorgesehen, das jedoch die Provinz Mosul im Süden mit einer kurdischen Mehrheit nicht einschloss. Griechenland erhielt Ostthrakien bis zur Çatalca-Linie, die Inseln Imbros und Tenedos sowie Izmir samt dessen Hinterland in Westanatolien, wo die Bevölkerung nach einer fünfjährigen griechischen Verwaltung durch Plebiszit bestimmen sollte, ob sie den endgültigen Anschluss an Griechenland wünschte. Vom Osmanischen Reich blieb somit nur ein Rumpfstaat im Norden Kleinasiens mit der Hauptstadt Istanbul übrig.

Der Aufstieg Atatürks

Der türkische Befreiungskampf ist als eine Widerstandsbewegung gegen die Bestimmungen der Versailler Friedensordnung im Nahen Osten entstanden. Sie begann als eine Bewegung jener Kreise innerhalb der islamischen Bevölkerung, welche Repressalien oder gar Vertreibung zu befürchten hatten und sich daher von den regionalen Kadern des inzwischen verbotenen jungtürkischen Komitees mobilisieren ließen. So wurde schon Anfang November 1918 ein Nationaler Islamischer Rat von Kars gebildet, um die Übergabe dieser Provinz an die Armenier zu verhindern. Im Februar 1919 entstand im Gebiet um Trabzon am Schwarzen Meer, das von Griechen wie Armeniern beansprucht wurde, ein Verein mit ähnlicher Zielsetzung. Im März 1919 kam man in Izmir zur "Ablehnung der Annexion" durch Griechenland zusammen.

Gerade die Besetzung Izmirs im Mai schwächte die Position Entente-freundlicher Kräfte. Es fanden zum ersten Mal Massen-Demonstrationen statt, an denen neben den überwiegend jungtürkisch-nationalistischen Wortführern auch Vertreter der liberalen Intelligenz teilnahmen. Die Regierung des Sultans, die bis dahin den guten Willen des Westens betont hatte, verlor zunehmend an Ansehen. Auf der militärischen Ebene schließlich kam es jetzt zur Formierung der ersten Verbände der irregulären "nationalen Kräfte". So wurden die vordringenden Griechen in eine Art Partisanenkrieg verwickelt, der mit wechselnder Intensität bis zum türkischen Sieg im Herbst 1922 andauern sollte.

Der Aufstieg Mustafa Kemals (später Atatürk) zum Führer der türkischen Nationalbewegung ist vor diesem Hintergrund zu betrachten. Er wurde im Frühjahr 1919 zum Inspekteur der Truppen in Ostanatolien ernannt, mit dem Auftrag, die lokalen Unruheherde besonders im Pontus-Gebiet zu unterdrücken und die Demobilisierung der Truppen zu überwachen. Mustafa Kemal war zwar Mitglied des Jungtürken-Komitees von Anfang an gewesen, war jedoch während des Krieges gegenüber der Führung der Bewegung auf Distanz gegangen. Zugleich genoss er aufgrund seiner Erfolge im Krieg - ein Held der Dardanellenschlacht - hohes Ansehen innerhalb des Offizierskorps. Seine neuerliche Mission im Osten eröffnete daher der in Formierung begriffenen Widerstandsbewegung neue Perspektiven. So wurde es unter Mustafa Kemals Leitung schon im Sommer 1919 möglich, Einigkeit darüber zu erzielen, dass die territoriale Integrität des Landes mit allen Mitteln zu verteidigen sei, wobei man davon ausging, dass das gesamte am Kriegsende noch von den osmanischen Truppen kontrollierte Gebiet den territorialen Bestand des unabhängigen osmanischen Staates bilde. Die Beschlüsse des "Kongresses von Sivas" vom Anfang September 1919 implizierten darüber hinaus eine gewisse Klärung der Minderheitenfrage: Die unterschiedlichen ethnischen Elemente der muslimischen Bevölkerung seien durch Gefühle des gegenseitigen Respekts und der Solidarität unzertrennlich miteinander verbunden. Was die nicht-muslimischen Staatsbürger betrifft, so hätten sie die gleichen Rechte und Pflichten wie die Muslime, ihr historisch gewachsener Sonderstatus sei jedoch abgeschafft.

Unter dem Eindruck dieser Entwicklung in Anatolien sah sich die Regierung in Istanbul genötigt, allgemeine Wahlen abzuhalten. Das neugewählte Parlament wurde von kemalistischen Abgeordneten aus der Provinz beherrscht. So wurde Ende Januar 1920 der sog. "Nationalpakt" verabschiedet: Die Beschlüsse der Kongresse von Erzurum und Sivas erfuhren darin eine zusätzliche Bekräftigung. Die Reaktion der Regierung unter dem Druck der Besatzungsmächte auf diese Wende war die Auflösung des Parlaments. Der Scheich ul-Islam stellte außerdem ein islamrechtliches Gutachten aus, das Mustafa Kemal und seine Anhänger zu Rebellen erklärte. Diese drakonischen Schritte trugen aber ungewollt dazu bei, dass die Widerstandsbewegung fortan mit größerer Legitimität auftreten konnte. Denn das aufgelöste Parlament traf am 23. April 1920 als die Große Nationalversammlung in Ankara erneut zusammen, mit dem Anspruch, im Namen der gesamten osmanischen Nation zu handeln. In einem "Gegen-Fetwa", ausgestellt vom Mufti von Ankara, wurde betont: So lange der Sitz des Kalifats von feindlichen Mächten besetzt gehalten und der Kalif daran gehindert werde, die zum Wohle der Nation nötigen Maßnahmen zu ergreifen, sei es Pflicht aller Muslime, den Kalifen zu befreien. Offensichtlich war dies ein Versuch, den Islam als ein nützliches Instrument der Legitimität gegenüber der Regierung des Sultan-Kalifen zu verwenden. Der Islam diente aber ohnehin als die Basis der Solidarität zwischen den ethnisch unterschiedlichen muslimischen Gruppen in Anatolien. Mustafa Kemal selbst betonte in dieser Zeit wiederholt, dass die politische Einheit des Landes, die herzustellen man entschlossen sei, eine alle ethnischen Elemente umfassende islamische Einheit sein würde.

Ein Krieg an drei Fronten

Die Widerstandsbewegung weitete sich seit Sommer 1920 zu einem regelrechten Krieg an drei Fronten aus: Im Osten errang man im November 1920 einen wichtigen Erfolg über die militärisch schwache Republik Armenien. Im Vertrag von Gümrü (Alexandropol) vom 2. Dezember 1920 sah sich Armenien (inzwischen eine Sowjetrepublik) gezwungen, den Vertrag von Sèvres zu widerrufen. Die alte osmanische Grenze von 1878 wurde damit wiederhergestellt. Die sowjetischen Befürchtungen hinsichtlich eines Arrangements der Kemalisten mit den Westmächten einerseits und die Einnahme von Batum durch die Türken im Februar 1921 andererseits schufen dann jene Bedingungen, die den Vertrag vom 16. März 1921 über "Freundschaft und Bruderschaft" zwischen der Sowjetunion und der Regierung von Ankara ermöglichten. Die Sowjets verzichteten darin auf die Privilegien, die seit alters den Bürgern europäischer Staaten im Osmanischen Reich zustanden, und erkannten die Souveränität der Türkei über die Meerengen an. Auch an der Südfront waren die Kemalisten im Herbst 1921 erfolgreich: Die Franzosen erklärten den Kriegszustand mit der neuen Türkei für beendet und verpflichteten sich, Kilikien zu räumen. Die Nordgrenze des französischen Mandatsgebiets in Syrien wurde, abgesehen vom Sandschak Alexandrette, im Sinne des türkischen "Nationalpaktes" festgelegt. Damit war der Vertrag von Sèvres von einem führenden Mitglied der Entente selbst aufgegeben worden.

Die Kämpfe an der Westfront waren wesentlich schwieriger. Die Griechen, die seit Frühjahr 1919 Izmir und dessen Hinterland besetzt hielten, starteten im Sommer 1920 eine Offensive mit dem Ziel, die Widerstandsbewegung in Anatolien zur Annahme von Sèvres zu zwingen. Gegen die schwachen Milizverbände konnten sie zunächst große Geländegewinne erzielen. Trotz Abwehrerfolge bei Inönü (Januar und März 1921) brach die türkische Westfront im Juli zusammen, und die Griechen drangen bis zum Sakarya-Fluss bei Ankara vor. Im August und September lieferten aber die Türken, die nunmehr direkt von Mustafa Kemal kommandiert wurden, erbitterte Abwehrkämpfe, bis die griechische Armee den Rückzug antrat. Die sorgfältig vorbereitete Offensive des nächsten Sommers, die gegen Ende August einsetzte, endete mit einem vollständigen Sieg, als die türkische Armee am 9. September 1922 in Izmir einzog. Im Waffenstillstand (10. Oktober) wurde vereinbart, dass die griechischen Truppen bald auch Ostthrakien und die Besatzungstruppen der Ententemächte die Meerengen zu räumen hatten.

Die Nationalversammlung in Ankara sah sich nun mit der Aufgabe konfrontiert, die künftige Staatsform zu regeln, zumal es unklar war, durch welche Regierung das Land - die von Ankara, die von Istanbul oder durch beide gemeinsam - auf dem bevorstehenden Friedenskonferenz vertreten sein würde. Nach allgemeiner Auffassung hatte Sultan Mehmed VI. sein hohes Amt missbraucht, ja sogar Landesverrat begangen. Doch plädierte eine Mehrheit dafür, einen anderen Angehörigen der osmanischen Dynastie zum neuen Kalifen des Islam und zugleich zum Staatsoberhaupt der Türkei zu bestimmen. Nur eine jakobinisch denkende Gruppierung um Mustafa Kemal trat für das Prinzip der Volkssouveränität ein. Als eine Kompromisslösung kam Ende Oktober 1922 der Beschluss zustande, das osmanische Sultanat endgültig abzuschaffen und zugleich einen neuen Kalifen, der nunmehr lediglich religiöse Funktionen wahrzunehmen hätte, zu bestimmen.

Auf der Friedenskonferenz von Lausanne seit November 1922 ging es um die Revision des Vertrags von Sèvres. Das Territorium der Türkei, wie es im "Nationalpakt" definiert war, stand in seinem anatolischen Hauptbestand nicht mehr zur Disposition. Die Siegermächte des Weltkrieges konnten aber ihre Interessen trotzdem weitgehend durchsetzen: So sollten die Meerengen zwar unter türkischer Souveränität - entmilitarisiert und unter die Kontrolle eines internationalen Gremiums gestellt werden. Die Feststellung der Zugehörigkeit des Vilayets Mosul, gemäß dem "Nationalpakt" türkisches Territorium, blieb im Sinne Großbritanniens einem Entscheid des Völkerbundes vorbehalten. Die Franzosen behielten den Sandschak Iskenderun (Alexandrette), dessen Besitz ähnlich umstritten war, in ihrem Mandatsgebiet Syrien, und die Italiener bestanden erfolgreich auf dem Besitz der Inselgruppe Dodekanes. Die übrigen der kleinasiatischen Küste vorgelagerten Inseln - mit Ausnahme von Imbros und Tenedos - gingen an Griechenland, unter der Bedingung, dass sie entmilitarisiert werden müssten.

Die Verhandlungen über die Aufhebung der Kapitulationen, die Rechte der christlichen Minderheiten sowie die Regelung der ökonomisch-finanziellen Angelegenheiten gestalteten sich wesentlich schwieriger. Die Westmächte bestanden auf der Beibehaltung der Sonderrechte der Europäer und forderten außerdem für die christlichen Staatsbürger der Türkei einen Minderheitenstatus unter Aufsicht des Völkerbundes. Ankara lehnte aber - auch unter Hinweis auf die Säkularisierungsabsichten des neuen Regimes - jede rechtliche Sonderstellung der Ausländer sowie eine externe Kontrolle über die Behandlung von christlichen Minderheiten prinzipiell ab. In Bezug auf die im Lande verbliebenen Armenier wurde betont, diese könnten als türkische Staatsbürger leben, ohne dass irgendeine fremde Macht ein Protektorat über sie ausüben dürfe. Was die griechisch-orthodoxe Bevölkerung Kleinasiens betrifft, bestand man auf ihrer Zwangsumsiedlung nach Griechenland im Austausch gegen die Muslime aus Griechisch-Makedonien. Von irgendwelchen muslimischen Minderheiten auf türkischem Boden, etwa von den Kurden, war im endgültigen Vertragstext keine Rede mehr. Auch im ökonomisch-finanziellen Bereich gelang es Ankara, dem Prinzip der vollen Souveränität Anerkennung zu verschaffen. So fand die türkische Widerstandsbewegung mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Lausanne am 24. Juli 1923 ihren erfolgreichen Abschluss. Mit umfassenden - politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen - Reformen konnte eine Elite unter der Führung Mustafa Kemals unmehr daran gehen, die Türkei zu einem modernen Nationalstaat westlichen Typs umzugestalten.

Mustafa Kemals Politik der vollendeten Tatsachen

Der Modernisierungsprozess verlief allerdings nicht ohne Brüche. Schon die Art und Weise, wie Mustafa Kemal die Umwandlung der Verteidigung der Rechte-Bewegung in eine Volkspartei unter eigener Führung durchsetzte, war Anlass zum Widerspruch. Denn er ließ sich zum Führer der neuen Partei wählen, ohne dass er bereit war, den Vorsitz der Nationalversammlung aufzugeben. Seinen Willen setzte er auch dahingehend durch, dass von nun praktisch nur jene ins Parlament gewählt werden konnten, die von ihm selbst nominiert wurden. Auf diese Weise verfügte Mustafa Kemal immer über überwältigende Mehrheiten, auf welcher Basis er eine Politik der vollendeten Tatsachen betrieb. So wurde Mitte Oktober 1923 Ankara, damals eine Kleinstadt mit ca. 25.000 Einwohnern, zur neuen Hauptstadt des Landes bestimmt, und eine Regierungskrise diente Mustafa Kemal als Anlass, am 29. Oktober 1923 die Republik ausrufen zu lassen. Am selben Tag wurde er einstimmig zum ersten Präsidenten der Republik gewählt.

Mitkämpfer aus den Jahren des nationalen Widerstandes befürchteten nun die Errichtung einer Diktatur. Denn Mustafa Kemal als Präsident der Republik bestand darauf, zugleich Vorsitzender der Volkspartei zu sein. Die Opposition betrachtete das Kalifenamt als ein mögliches Gegengewicht gegen eine derart starke Führergestalt. Mustafa Kemal ergriff jedoch die Initiative und setzte Anfang März 1924 die Abschaffung des Kalifats durch. Gleichzeitig wurden per Gesetz das Ministerium für religiöse Stiftungen aufgelöst und die Schulbildung vereinheitlicht, was die Schließung aller islamischen Schulen bedeutete. Abweichung von dieser Politik wurde mit Reaktion gleichgesetzt, und davor waren auch ehemalige Kampfgefährten nicht geschützt. Als einige von ihnen aus Protest die Volkspartei verließen, um eine neue politische Gruppierung unter der Bezeichnung Fortschrittliche Republikanische Partei zu gründen (November 1924), erschien dies zwar zunächst als eine bemerkenswerte Wende zum Mehrparteiensystem hin. Ein Aufstand im Südosten des Landes im Frühjahr 1925, der religiös-restaurative wie kurdisch-nationale Ziele verfolgte, diente aber der Regierung als Anlass, mit der Opposition abzurechnen. Mit Hilfe außerordentlicher "Unabhängigkeitstribunale" wurden neben dem Aufstand im Osten auch die freie Presse im Westen unterdrückt und die Fortschrittliche Republikanische Partei verboten.

Die Kemalistische Kulturrevolution

Nun war der Weg frei für die kemalistische Kulturrevolution. Als erstes wurde im Sommer 1925 eine neue Kopfbedeckung für die türkische Männerwelt anstelle des traditionellen Fes angeordnet. Bald folgten neue Schritte, die die Zerstörung der alten Herrschaftsstrukturen, die Entmachtung der traditionellen Machteliten und die Diskreditierung der überkommenen Muster der politischen Legitimation zum Ziel hatten. Im September 1925 ordnete die Regierung die Schließung aller Derwischkonvente an. Am Neujahr 1926 wurde das internationale Kalender- und Uhrzeitsystem und die Jahreszählung nach Christi Geburt eingeführt. Noch bedeutender in dieser Hinsicht war die Annahme eines Zivilgesetzbuches (übernommen aus der Schweiz) Anfang Oktober 1926. Fortan galten Ehen, die nur in religiöser Form geschlossen wurden, als rechtlich unwirksam. Auch Polygamie wurde zum öffentlich-rechtlichen Ehehindernis deklariert. Mit der Einführung der lateinischen Schrift im November 1928, die den Höhepunkt der Reformbewegung markiert, verfolgte man neben pragmatischen Gesichtspunkten wie die leichtere Erlernbarkeit der lateinischen Schrift auch ideologische Ziele: Beabsichtigt war nichts weniger als eine vollständige Abwendung von der islamischen Klassik ebenso wie von den politischen Einflüssen aus der spät-osmanischen Zeit. Aufwendige Alphabetisierungsmaßnahmen, die nun folgten und auch die ländlichen Bevölkerungsschichten erreichten, wurden daher mit großem Engagement im Zeichen einer politisch-kulturellen Aufklärung durchgeführt.

In der Wirtschaftspolitik ließ man sich zwar, wie seinerzeit die jungtürkische Regierung, von einer "Nationalökonomie" Friedrich List´scher Provenienz inspirieren. So verlangte ein Alltürkischer Wirtschaftskongress (1923) besondere Förderungsmaßnahmen für die einheimischen Unternehmer, damit das Land sich infrastrukturell wie industriell rasch entwickeln könne. Unter gesellschaftlich-politischem Aspekt hatte also die Heranbildung einer nationalen Bourgeoisie Vorrang. Die Masse der Bevölkerung (80%) lebte aber immer noch von der Landwirtschaft. Bei einer Einwohnerzahl von etwa 13,6 Millionen im Jahre 1927 und einem Territorium von ca. 758.000 qkm hatte die Türkei dabei eine sehr niedrige Bevölkerungsdichte. Den althergebrachten Naturalzehnten schuf man im Jahre 1925 - bei gleichzeitigem Beginn der Subventionierung der Weizenpreise - in der Hoffnung ab, dass dies sich als Anreiz zur Erweiterung der bewirtschafteten Fläche auswirken würde. Weitere Impulse erhoffte man sich von einem zügigen Ausbau des Transportwesens, denn die Republik besaß 1923 nur etwa 3.500 km Eisenbahnen. Zwischen 1924 und 1928 wurden neue Linien mit einer Gesamtlänge von 2.000 km geplant, von denen im Jahre 1929 annähernd die Hälfte fertiggestellt war.

In der Weltwirtschaftskrise steuerte man in Ankara, wie in vielen anderen Ländern auch, einen Kurs der wirtschaftlichen Autarkie. Für die ländliche Bevölkerung wirkte sich jetzt die Abschaffung des Naturalzehnts eher nachteilig aus, denn während Getreide auf dem Markt nichts wert war, mussten die Bauern die Steuern - statt wie früher in Naturalien - jetzt mit ihren knappen Barmitteln entrichten. Sie erfuhren dabei von staatlicher Seite wenig Entgegenkommen. Die Regierung hatte die spärlichen Ressourcen des Landes anderweitig festgelegt: Öffentliche Mittel wurden u.a. zum Ausbau von Ankara zu einer repräsentativen Hauptstadt benötigt. Ein Großteil des vorhandenen Kapitals war zudem in den neuen Eisenbahnlinien unwiderruflich gebunden. Die Intellektuellen des Landes diskutierten derweil über Theorien, die einen Ausweg aus der Krise versprachen. Eine kleine Gruppe zog "permanente Revolution" unter der Leitung einer kleinen aber zielbewussten Avantgarde in Betracht. Allgemein war man der Meinung, die Kapitalakkumulation auf klassische Art und Weise, nämlich durch freie Konkurrenz individueller Kapitaleigner im Rahmen einer liberalen Wirtschaftsordnung, komme für die Türkei nicht mehr in Frage. Vielmehr müsse es Aufgabe des Staates sein, für die Akkumulation des Kapitals Sorge zu tragen. Die Führungselite müsse dabei imstande sein, die Interessen der Nation gegebenenfalls gegen den Willen der Nation durchzusetzen.

Diesem autoritären Konzept zum Trotz versuchte man zunächst, der Krise durch eine Erweiterung der Legitimationsbasis des Regimes zu begegnen: Mustafa Kemal regte im Frühsommer 1930 die Gründung einer zweiten politischen Partei an. Von Personen aus seinem engeren Freundeskreis geführt, erhielt die Liberale Republikanische Partei freilich nicht die Aufgabe, das bisherige Regierungsmonopol der Republikanischen Volkspartei (CHP) in Frage zu stellen, sondern war offensichtlich als Ventil gedacht, um die angestaute Unzufriedenheit abbauen zu helfen. In ihrem Programm verlangten die Liberalen die Reduzierung von Steuern, bessere Konditionen für das Auslandskapital, die Erhöhung des Agrarkredits sowie einen bürgernahen öffentlichen Dienst. Sie erklärten sich gegen die staatliche Einmischung im Wirtschaftsleben, während die CHP sich zunehmend als "etatistisch" profilierte.

Die sechs Prinzipien des Kemalismus

Dieses bemerkenswerte Experiment in Mehrparteiendemokratie endete jedoch mit einem Eklat: Angesichts des unerwartet großen Anklangs in der Bevölkerung sahen sich die Gründer der neuen Partei in eine unangenehme Lage versetzt, denn eine aussichtsreiche Opposition gegen die Staatspartei lief Gefahr, als Reaktion gegen die Errungenschaften der Republik gedeutet zu werden. So lösten sie Mitte November ihre kaum drei Monate alte Partei selbst auf. Kritik an den Zuständen in der Türkei hatte von nun an kaum Chance, Gehör zu finden; sowohl die Medien als auch die wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen des Landes wurden gleichgeschaltet, und die Bevölkerung, besonders die Jugend, einer ideologischen Umerziehung unter der Leitung der CHP unterzogen. Das neu formulierte Programm der Partei (Mai 1931) betonte im wesentlichen die sechs Prinzipien des Kemalismus, symbolisiert durch sechs Pfeile:

Nationalismus,

Republikanismus,

Populismus,

Laizismus,

Etatismus sowie

Reformismus bzw. Revolutionismus.

Diese Prinzipien fanden bald Eingang auch in die Verfassung und dienten so zur Identifizierung der einzigen politischen Partei mit dem Staat. Der nationalen Erziehung kam in diesem ideologischen Rahmen große Bedeutung zu. Besonders sollte der öffentliche Geschichtsunterricht dazu dienen, die Nation an ihre großartige vorislamische Vergangenheit zu erinnern. Die Schüler sollten dabei lernen, auch die Geschichte der alten Zivilisationen der Sumerer, der Ägypter oder der Hethiter als eine Kulturleistung des eigenen Volkes zu betrachten. Die islamische Zivilisation und die Geschichte des Osmanischen Reiches traten dabei in den Hintergrund. Diese Konstruktion der nationalen Geschichte wurde unterstützt von einer neuen Sprachthese, die das Türkische gleichsam zur Ursprache aller Völker erhob. Im Alltag äußerte sich dies in einer Kampagne der Sprachreinigung, die die Ersetzung arabischer oder persischer Wörter und Begriffe durch ihre türkischen Entsprechungen oder Neuschöpfungen zum Ziel hatte. Die Folge war, dass die Jugend, die das arabische Alphabet nicht mehr lernte und daher die vor 1928 gedruckten Bücher nicht lesen konnte, bald auch außerstande war, die klassischen Werke der eigenen Literatur sprachlich zu verstehen.

Eine nationale Außenpolitik

Die Betonung des Nationalen, die der inneren Stabilisierung zugute kam, schuf zugleich die Voraussetzungen für eine nationale Außenpolitik. In Abhängigkeit von den Schwankungen der internationalen Konjunktur ging es dabei primär um die Wiederherstellung der türkischen Souveränität über die Meerengen, d. h. um deren Remilitarisierung. Bis zur Erreichung dieses Zieles (Meerengen-Konvention von Montreux 1936) blieb die türkische Außenpolitik im Fahrwasser der Sowjetunion. Ende 1925 wurde der sowjetisch-türkische Nichtangriffs- und Neutralitätspakt geschlossen. Darin verpflichtete man sich, keinem Bündnissystem beizutreten, das eine Konfrontation beider Länder nach sich ziehen könnte. Dieser Vertrag wurde 1929 und 1935 verlängert. Im Vergleich dazu waren die Beziehungen Ankaras zu Großbritannien zunächst ausgesprochen schlecht. Ankara vermutete sogar britische Komplizenschaft in den kurdischen Aufständen im Osten des Landes. In der Mosul-Frage, die den Hauptkonfliktpunkt bildete, sah sich die Türkei aber letztlich gezwungen, ihre Ansprüche fallen zu lassen (1926). Es war dann besonders die Bedrohung im Ostmittelmeerraum durch das faschistische Italien, die London wie Ankara von der Nützlichkeit einer Zusammenarbeit überzeugte.

Auch die Normalisierung der griechisch-türkischen Beziehungen seit 1930 wurde erst im Kontext der Bemühungen um kollektive Sicherheit in Südosteuropa möglich. Der gemeinsam initiierte Balkanpakt (1934) war gegen revisionistische Bestrebungen gerichtet, wenn er sich auch als ungeeignet erwies, den italienischen Angriff auf Griechenland zu verhindern. Die Türkei konnte sich jedenfalls der Unterstützung der Balkanländer sicher sein, als es noch um die Revision des Meerengenstatus ging.

Die Intensivierung der Beziehungen zu Deutschland fiel in die Zeit der Weltwirtschaftskrise, als Berlin klar wurde, dass Südosteuropa für die Ausfuhr Deutschlands künftig von großer Bedeutung sein würde. Neben anderen Balkanländern geriet in dieser Zeit auch die Türkei in den Sog des deutschen Marktes. Doch die Abhängigkeit vom Dritten Reich wurde am Vorabend des Zweiten Weltkrieges dadurch gemindert, dass auch Deutschland beträchtliches Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Türkei bekundete. Das hing mit der geostrategischen Lage der Türkei ebenso zusammen wie mit der Tatsache, dass Anatolien über einige kriegswichtige Rohstoffe wie Chrom, Kupfer und Baumwolle verfügte. So wurde die Türkei zu einem umworbenen Land, und zwar umworben nicht allein von deutscher Seite.

Das türkisch-französische Verhältnis, dem schon aufgrund der turkophilen Haltung Frankreichs während des griechisch-türkischen Krieges besondere Bedeutung zukam, wurde in den dreißiger Jahren durch einen Streit über die Festlegung des türkisch-syrischen Grenzverlaufs belastet. Ankara beanspruchte den Sandschak Alexandrette, ein geostrategisch wichtiges Gebiet auf dem Verbindungsweg von Kleinasien nach Syrien, mit der Begründung, dass diese Region im Sinne des "Nationalpakts" (1920) ein Bestandteil des türkischen Territoriums sei. Die Voraussetzungen für eine Beilegung des Konflikts im türkischen Sinne verbesserten sich in der Zwischenkriegszeit zunehmend: Nach dem Abschluss des Balkanpaktes (1934), der Intensivierung der Beziehungen zu Großbritannien im Zuge der Abessinien-Krise (1935) und schließlich der Remilitarisierung der Meerengen (1936) fühlte man sich in Ankara jedenfalls stärker gegenüber einer Mandatsmacht Frankreich in Syrien, die durch die Entwicklungen in Zentraleuropa (Remilitarisierung des Rheinlandes) geschwächt war. Mustafa Kemal engagierte sich in diesem Streit mit Frankreich persönlich, er schien sogar vor einem Krieg um Alexandrette, wofür man nun den hethitischen Namen "Hatay" verwendete, nicht zurückzuschrecken. Er erlebte allerdings den Anschluss der Provinz an die Türkei, der im Sommer 1939 in der Konstellation eines neuen Weltkrieges mit Einwilligung von Paris vollzogen wurde, nicht mehr.

Aus dem Zweiten Weltkrieg konnte man sich geschickt heraus halten

Entgegen mancher Befürchtung folgte dem Tod Mustafa Kemal Atatürks im November 1938 keine innenpolitische Destabilisierung. Sein Nachfolger als Präsident der Republik und Vorsitzender der CHP, Ismet Inönü, war unumstritten der beste Vertreter der jungtürkisch-kemalistischen Reformbürokratie. Durch eine umsichtige wie zuweilen auch opportunistische Politik sollte es ihm gelingen, die Türkei aus dem Zweiten Weltkrieg herauszuhalten. Gerade als von Papen, Reichskanzler a.D. und ehemaliger Offizier bei der osmanischen Armee, als Botschafter Hitlers und "alter Kamerad" Inönüs in Ankara eintraf (April 1939), arbeitete man dort an der britisch-türkischen Beistandserklärung vom 12. Mai 1939. (Diese Westorientierung hinderte allerdings das Regime nicht, den innenpolitischen Druck auf die nicht-muslimischen Minderheiten, vor allem auf Juden und Armenier, zu erhöhen.) Inönü blieb der Allianz mit Großbritannien bis zum Ende des Krieges treu. Dies belastete das Verhältnis nicht nur zu Berlin, sondern auch zu Moskau, und der "Hitler-Stalin-Pakt" (23. August 1939) bedeutete sicherlich auch für Ankara einen Rückschlag. Die eigentlich kritische Phase dieser Entwicklung erlebte man hier im Frühjahr 1941, in der Zeit zwischen dem Beginn des deutschen Balkanfeldzugs (6. April) und der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Nichtangriffspaktes (18. Juni). Erst der deutsche Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni) war für die Türkei Anlass für eine gewisse Entwarnung.

Im Großen und Ganzen erwies man sich in Ankara realistisch genug, um sich nicht irgendwelcher panturkistischer Pläne willen in ein Abenteuer gegen die Sowjetunion hineinstürzen zu lassen. Noch während des deutschen Vormarsches im Sommer 1941 wies man darauf hin, die Türkei hege außerhalb ihrer gegenwärtigen Grenzen keine territorialen Ambitionen und würde unbedingt neutral bleiben. Ankara widersetzte sich aber auch Forderungen der Alliierten, auf ihrer Seite gegen Deutschland in den Krieg einzutreten, und dies auch nach Stalingrad, als es offensichtlich wurde, dass das Dritte Reich den Krieg verlieren würde. Dabei machte man sich auch in Ankara Sorgen darüber, dass die Balkanländer ihre Befreiung vielleicht ausschließlich der Roten Armee würden zu verdanken haben, hielt es aber letztlich für wichtiger, das Militärpotenzial der Türkei bis Ende des Krieges unverbraucht zu erhalten. Stalin und Churchill waren im Juli 1944 darüber einig, dass es nicht länger sinnvoll sei, den Kriegseintritt der Türkei zu verlangen. Andererseits gaben aber die USA und Großbritannien der Türkei von nun an die Empfehlung, die Beziehungen zu Deutschland doch abzubrechen, ohne dabei aktiv in den Krieg einzutreten. In der Tat folgte Ankara diesem Rat und erklärte Anfang August 1944 die Beziehungen zu Berlin für abgebrochen. Den Westmächten ging es offensichtlich bereits in dieser Phase um die Stärkung ihrer Positionen im Nachkriegseuropa, und die türkischen Politiker hatten schon richtig gepokert: Bei der Neuordnung der Kräfteverhältnisse am Ende des Krieges würden nur die geostrategische Lage der Türkei und die Stärke ihrer Streitkräfte entscheidende Bedeutung haben.

Unter den Bedingungen des Bürgerkrieges in Griechenland, wo die Amerikaner bald die Briten als Unterstützer der Monarchie ersetzen mussten, kam es im März 1947 zur Verkündung der "Truman-Doktrin", welche die territoriale Unversehrtheit Griechenlands, aber zugleich auch der Türkei, garantierte. Anfang September 1947 wurde ein Abkommen über amerikanische Militärhilfe an die Türkei unterzeichnet. Im April 1948 schließlich wurde die Türkei, die schon Gründungsmitglied der UNO war, Mitglied der OEEC (Organization of European Economic Cooperation). Im Kalten Krieg hatte das Land seinen Platz fest im westlichen Lager.

Der innenpolitische "Erdrutsch" von 1950

Die erfolgreiche Annäherung an die siegreichen Demokratien konnte schwerlich ohne Konsequenz für die türkische Innenpolitik bleiben. So war die politische Führung unverkennbar bemüht, die bisherige Geschichte der Republik als eine notwendige Phase der Vorbereitung für den Übergang zur Mehrparteien-Demokratie umzudeuten. Staatschef Inönü selbst wies in einer Rede Anfang November 1946 jeden Diktaturvorwurf zurück und unterstrich den grundsätzlich demokratischen Charakter der kemalistischen Reformpolitik, die letztlich immer durch das Parlament kontrolliert worden sei.

Der aufgestaute Unmut der Bevölkerung war jedoch nicht leicht zu besänftigen. Die allgemeine Unzufriedenheit hatte ihren Grund in der schlechten Versorgungslage während der Kriegsjahre sowie in unzähligen Übertretungen staatlicher Organe unter den Bedingungen der Einparteienherrschaft. Die Kosten der ständigen Kriegsbereitschaft hatte man hauptsächlich den ländlichen Produzenten aufgebürdet. So wurden die Bauern vielerorts zum Arbeitseinsatz im Straßenbau abkommandiert. Eine zehntähnliche Naturalabgabe seit 1943 belastete sie zusätzlich. Bei alledem wurden die Bauern von der Bürokratie ausgesprochen herrisch behandelt. In materieller Hinsicht ging es der Masse der Stadtbewohner kaum besser. Der Index der Lebenshaltungskosten stieg, wenn man für das Jahr 1939 100 ansetzt, auf 320 im Jahre 1944, während der Index der Reallöhne im gleichen Zeitraum auf 50 zurückging. Sogar die wohlhabenderen Schichten hatten wenig Grund, mit dem Regime zufrieden zu sein.

Die Opposition sammelte sich seit Anfang 1946 in der Demokratischen Partei (DP) unter der Führung von Celal Bayar und Adnan Menderes. Man verlangte hier im wesentlichen a) Einschränkung der unternehmerischen Rolle des Staates, b) Unterstützung des Privatunternehmertums, c) Förderung von Investitionen des Auslandskapitals, d) Erhöhung des Agrarkreditfonds sowie e) eine tolerantere Haltung gegenüber Religion. Die DP hatte kaum noch Chancen, die kommenden Parlamentswahlen zu gewinnen. Trotzdem blieb ihr Programm nicht ohne Einfluss auf die Regierungspolitik: Präsident Inönü schien nunmehr - zum Teil auch für die eigenen Parteigenossen überraschend - bereit zu sein, sogar Grundelemente des kemalistischen Reformwerkes zu opfern. So diskutierte man in der CHP über die Wiedereinführung des Religionsunterrichts und war bereit, die von der Opposition als "kommunistisch" kritisierten "Dorfinstitute" abzuschaffen.

Diese populären Konzessionen kamen jedoch zu spät, die politische Wende des Jahres 1950 war nicht mehr aufzuhalten. Die allgemeinen Wahlen vom 14. Mai 1950 zeitigten erdrutschartige Ergebnisse: Die oppositionelle DP erhielt 53,3% der abgegebenen Stimmen und die überwältigende Mehrheit der Sitze im Parlament. Die Masse der Bevölkerung fasste die eingetretenen Veränderungen vor allem als Emanzipation von der Herrschaft der kemalistischen Bürokratie auf. Die neuen Kader, die nun überwiegend aus der anatolischen Provinz stammten, waren bereit und in der Lage, diese antibürokratische, antielitäre und gar antiintellektuelle Wende zu tragen. Dabei brauchte die offizielle Ideologie des Regimes, also der Kemalismus, keineswegs in Frage gestellt zu werden. Besonders aus der Zeit des Unabhängigkeitskampfes konnte man Praktiken zitieren, die mit dem Radikalreformismus späterer Jahrzehnte wenig zu tun hatten. Jedenfalls sammelten sich nun auch Kräfte, die seit der Republikgründung aus der Politik verdrängt worden waren, in der populistischen Auflehnungsfront gegen das bürokratische Zentrum.

Der politische Aufstieg neuer Gesellschaftsgruppen an der Peripherie wurde auch durch die wirtschaftliche Entwicklung begünstigt. Vor allem die Erhöhung des Kreditfonds und die Gewährung von Mindestpreisen für Agrargüter ermöglichten eine rasche Mechanisierung der Landwirtschaft und - damit zusammenhängend - die Ausweitung der Anbauflächen. So konnten in der Folge mehrere Jahre hindurch Rekordernten erzielt werden, und die Türkei entwickelte sich in der Hochkonjunktur während des Koreakrieges zu einem bedeutenden Getreideexporteur.

Eine "Re-Islamisierung" erfüllte die Wünsche der "schweigenden Mehrheit"

In den 1950er Jahren gewann auch jener Prozess an Schwung, der als "Reislamisierung" apostrophiert wird. Gemeint ist damit nicht so sehr die private Frömmigkeit, sondern das gestiegene Gewicht der Religion als politischer Faktor im Wahlkalkül der Parteien. Vom Gebetsruf in arabischer Sprache über Koran-Rezitation im staatlichen Rundfunk bis hin zum Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in den Schulen wurden die Wünsche der "schweigenden Mehrheit" erfüllt. Nicht zuletzt dadurch gelang es der regierenden DP, ihren Stimmenanteil in den Wahlen des Jahres 1954 auf 56,6% zu erhöhen.

Dieses Hervorkehren des islamischen Antlitzes der Türkei fiel in eine Zeit, in der sich das Land außenpolitisch die Positionen des Westens zu eigen machte und dadurch weitere Entfremdung von der islamischen Welt in Kauf nahm: Ankara erkannte Israel diplomatisch an (1952), unterstützte die anglo-französische Suez-Expedition (1956) und die Intervention der USA im Libanon (1958). Die französische Algerien-Politik wurde von der Türkei im Sinne der NATO-Solidarität ebenfalls mitgetragen. Als jedoch die Türkei selbst immer tiefer in den Konflikt um Zypern hineinschlitterte, wurde bald klar, dass nicht allein die (schon verprellten) muslimischen "Bruder"-Staaten, sondern auch die westlichen Verbündeten kaum Verständnis für türkische Belange aufbrachten. Hier war ein Widerspruch, der auf längere Sicht unweigerlich zur Verschärfung der nationalen Identitätskrise beitragen sollte.

Der Staatsstreich von 1960

Wenn auch Abweichungen vom laizistischen Kurs und der "würdevollen" Außenpolitik der kemalistischen Republik von der Opposition angeprangert wurden, so entstand die politische Krise der späten fünfziger Jahre unmittelbar als Folge von sozialen Verschiebungen innerhalb der Mittelschicht aufgrund der Urbanisierung und Industrialisierung. Der Interessengegensatz zwischen der neuen Elite der "Technokraten" einerseits und der traditionellen Elite der zivilen und militärischen Bürokratie andererseits vertiefte sich in dem Maße, wie die Bezieher von fixen Einkommen infolge der Geldentwertung nach 1954 empfindliche Einbußen an ihrem Lebensstandard hinnehmen mussten. Zu den betroffenen Gruppen gehörten vor allem Offiziere, Lehrer und die Verwaltungsbeamten. Die wirtschaftlichen Engpässe unterstrichen nur den eingetretenen Prestigeverlust des Regimes. Die Regierung reagierte zunehmend autoritär und versuchte, die Opposition mittels fragwürdiger Methoden mundtot zu machen. Dadurch gab sie den sog. "lebendigen Kräften" der Gesellschaft, d.h. der Presse, der Intelligenz und der Studentenschaft, die Möglichkeit, sich gleichsam zu einer moralischen Anklageinstanz zu formieren. Die Bewahrung des kemalistischen Erbes wurde zur alles übertönenden Kampfparole. Blutige Straßen-Demonstrationen und, in deren Folge, die Einschaltung des Militärs zur Herstellung von Ruhe und Ordnung bahnten den Weg zum Staatsstreich von 1960.

Ein Komitee für Nationale Einheit unter der Führung von Oberst Alpaslan Türkes versprach, den drohenden Bürgerkrieg zu verhindern. Die Junta war jedoch von Anfang an gespalten: Die Gruppe der Radikalen war entschlossen, für längere Zeit an der Macht zu bleiben, um Staat und Gesellschaft nachhaltig zu reformieren. Ihr Aktionismus blieb aber nicht unwidersprochen. Die Generäle, die sich durch den Staatsstreich der unteren Ränge überrumpelt fühlten, schlossen sich in einem Bund (Union der Streitkräfte) zusammen. Man beabsichtigte, den Einfluss der Junta innerhalb der Armee einzuschränken und künftighin zu verhindern, dass es je wieder zu einem Obristenputsch kam. Nötigenfalls würden die Generäle selber putschen. So entstand eine Mehrheitsfront der gemäßigten Militärs, die die Ausarbeitung einer liberalen Verfassung in Auftrag gab. Man lehnte sich dabei personell wie konzeptionell an die kemalistische CHP an. Aus der Sicht der breiten Massen war diese Entwicklung eine Verlängerung der innenpolitischen Streitigkeiten der fünfziger Jahre, und die Militärjunta verlor bald ihren Nimbus als parteiungebundene nationale Institution und erschien zunehmend als Komplize der CHP.

Dennoch ist zumindest die Verfassung von 1961 als Verdienst der Militärs zu betrachten. Sie sah ein bikamerales parlamentarisches System vor. Man wollte - auch mit Hilfe flankierender Institutionen wie Verfassungsgerichtsbarkeit, Pressefreiheit sowie Autonomie für Hochschulen - verhindern, dass eine arithmetische Majorität, wie in den 1950er Jahren geschehen, je wieder ein Machtmonopol erringen konnte. Die Entwicklung schien einen wirklich pluralistischen Parlamentarismus zu begünstigen, und schon im Januar 1961, als das Verbot für politische Tätigkeit gelockert wurde, entstanden elf neue Parteien. Die insgesamt optimistische Stimmung erhielt jedoch im Frühherbst 1961 einen deutlichen Dämpfer: Zur Enttäuschung der Militärjunta erklärten sich in einem Referendum Anfang September 1961 lediglich 61,7% der stimmberechtigten Bürger für die Annahme der neuen Verfassung. In elf Provinzen, alle ehemalige Hochburgen der DP, wurde die Verfassung glatt abgelehnt. Dem Referendum folgten einige Tage später unter Missachtung zahlreicher Gnadengesuche aus dem In- und Ausland die Hinrichtung der drei Führer des alten Regimes. Diese inhumane wie sinnlose Tat wirkte sich nachhaltig polarisierend aus.

Der "Nationale Sicherheitsrat" als Kontrollinstrument der Generalität

Die Generalität verhielt sich in dieser Phase loyal und wusste verschiedene Putschversuche zu vereiteln. Gleichsam als Belohnung dafür schuf die Regierung im März 1962 den Rat für Nationale Sicherheit, und zwar als ein verfassungsmäßiges Organ der Republik neben und sogar über dem Kabinett. Unter dem Vorsitz des Staatspräsidenten, der ja damals ohnehin ein General (Cemal Gürsel) war, sollten die Befehlshaber der Land-, See- und Luftstreitkräfte, der Chef des Generalstabes sowie einige wenige Fachminister eine "beratende" Funktion gegenüber der Regierung ausüben. Bald begann jedoch der Nationale Sicherheitsrat, eine bestimmende Rolle in der türkischen Politik zu spielen.

Allmählich fand die Türkei wieder zu einem geregelten Parlamentarismus zurück. Nach vielen Experimenten mit Koalitionsregierungen setzte sich die Gerechtigskeitspartei (AP) Süleyman Demirels in den Wahlen von Oktober 1965 durch. Im Grunde hatte damit das seit 1960 verfemte Lager der alten DP auf ganzer Front gesiegt. Wie fast alle seinen Vorgänger betonte auch die Regierung Demirel eine umfassende Industrialisierung als das oberste Ziel. Auf dem Weg dorthin erschien in den sechziger Jahren eine importsubstituierende Entwicklungsstrategie als Gebot der Stunde. Die Einfuhr von Industrieerzeugnissen sollte eingeschränkt werden, damit ein geschützter Binnenmarkt für die einheimischen Unternehmer entstand, die nun praktisch Monopolprofite erzielen durften. Die Folge war in der Tat eine beachtliche Industrialisierung, so dass bald Kühlschränke, Waschmaschinen, Fernsehgeräte, Automobile, Traktoren u.ä. aus heimischer Produktion auf den Binnenmarkt kamen. Freilich basierte eine derartige Produktion letztlich auf fremder Technologie, auf importierten Rohstoffen und Vorprodukten, d.h., die Einsparungen an harter Währung waren gering. Da der türkische Export weiterhin aus traditionellen Agrargütern bestand, deren Preise stagnierten, wuchs das Zahlungsbilanzdefizit des Landes beständig.

Der Export von Arbeitskräften entschärfte die sozialen Probleme

In diesem Rahmen gewann der Export von Arbeitskräften an Bedeutung, und die staatliche Planungsstelle wies schon früh auf die darin liegenden gesellschaftlichen Vorteile hin: Das vom raschen Bevölkerungswachstum herrührende Problem der Arbeitslosigkeit würde entschärft; die in die Heimat transferierten Ersparnisse der Arbeitsmigranten würden sich als ein wirksames Mittel zur Deckung des Zahlungsbilanzdefizits erweisen. Nicht zuletzt erhoffte man sich vom Export von Arbeitskräften die Heranbildung einer qualifizierten Facharbeiterschaft, die der Industrialisierung in der Türkei zugute kommen würde. Mit dem Abkommen von Ankara 1963 begann ein mehr oder weniger geregelter Export von Arbeitskräften vor allem nach Deutschland, aber auch nach den Niederlanden, Frankreich, Dänemark und Skandinavien.

Die 1960er Jahre waren eine Periode des Aufschwungs in der politisch-kulturellen Publizistik. Es wurde nunmehr gestattet, auch marxistische Literatur zu drucken und marxistisch orientierte politische Organisationen zu gründen. Im Mittelpunkt vielfältiger Diskussionen stand die Frage, wie die strukturelle Unterentwicklung des Landes zu überwinden sei. Infolge der zunehmenden Mechanisierung im Agrarbereich und, parallel dazu, der Landflucht, war die Zahl der Arbeitslosen in den Städten bedrohlich angewachsen. Was waren aber die historischen Ursachen dieser Entwicklung, wer trug für die Rückständigkeit des Landes die Verantwortung? Die Beschäftigung mit solchen Fragen wirkte sich auf die Jugend politisierend aus. Ein starkes Interesse für die sozialen Probleme des Landes, verbunden mit einem beachtlichen Maß an Aktionismus, ließ im Rahmen der Protestbewegung gegen den Vietnam-Krieg und die NATO-Mitgliedschaft der Türkei radikale Jugendorganisationen entstehen, die ihre Aktivitäten als Beitrag zur Vorbereitung der weltweiten Revolution begriffen. Gegenüber diesen linken Gruppierungen formierte sich auch ein turkistisch-national orientierter Rechtsblock, aus dem später die Nationale Aktionspartei (MHP) unter der Führung des Obristen Türkes hervorging. Ebenfalls auf dem rechten Spektrum gründete Necmettin Erbakan Anfang 1970 seine (islamistische) Nationale Ordnungspartei, die Vorgängerin der Nationalen Heilspartei (MSP) und, noch später, der Wohlfahrtspartei (RP).

Die gegen Ende des Jahrzehnts überhand nehmenden Aktionen extremistischer Gruppen nahmen die türkischen Generäle zum Anlass, sich erneut in die Politik einzumischen. In einem Memorandum an den Ministerpräsidenten Demirel (12. März 1971) verlangten sie eine starke Regierung, um Reformen im Geiste Atatürks einzuführen. Sollte sich die Regierung dazu unfähig sehen, so würden die Streitkräfte die Macht übernehmen. Angesichts dieser Drohung trat Demirel zurück. Die neue Regierung des konservativ-kemalistischen Politikers Nihat Erim nahm eine einschneidende Revision der Verfassung von 1961 vor: Bürgerliche Freiheiten, das Streikrecht der Arbeitnehmer, die Autonomie der Hochschulen, der Status des Verfassungsgerichts - alle demokratischen Errungenschaften der 1960er Jahre - wurden entweder drastisch eingeschränkt oder völlig aufgehoben. Zudem wurde in den Ballungszentren des Westens und in den kurdischen Gebieten des Landes das Kriegsrecht verhängt. Die Verfolgung linker wie liberaler Kräfte verschärfte sich. Aber auch die islamistische Partei Erbakans musste sich nun aufgrund eines Beschlusses des Verfassungsgerichts auflösen. Im Juli 1971 folgte das Verbot der sozialistischen Arbeiterpartei der Türkei (TIP).

Die Doktrin von der "Türkisch-Islamischen Synthese"

Während sich Inönü und sogar Demirel der Generalität gegenüber zuvorkommend verhielten, profilierte sich Bülent Ecevit als Kritiker der Armeeführung. Im Mai 1972 gelang es ihm sogar, die Mehrheit innerhalb der Volkspartei gegen Inönü zu mobilisieren, so dass der greise Politiker sich gezwungen sah, die Partei, die er mit Atatürk gemeinsam gegründet hatte, zu verlassen. Als im Jahre 1973 der Kandidat der im Parlament vertretenen Parteien (Fahri Korutürk) gegen den Kandidaten des Militärs zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, erschien das politische Übergewicht der Generalität schon beträchtlich abgeschwächt, zumal die allgemeinen Wahlen im Herbst 1973 von der nunmehr sozialdemokratisch orientierten CHP Bülent Ecevits gewonnen wurden. Anfang 1974 kam es dann zur Bildung einer bemerkenswerten Koalitionsregierung des Sozialdemokraten Ecevit und des Islamisten Erbakan.

Diese als "historischer Kompromiss" apostrophierte Verbindung überlebte allerdings die bald ausbrechende Krise um Zypern nicht. Die Bestrebungen der griechisch-orthodoxen Mehrheit auf der Insel, den Anschluss an das griechische Mutterland durchzusetzen, hatte die Zypern-Frage schon in den 1950er Jahren zu einem beherrschenden Thema der türkischen Außen- wie Innenpolitik werden lassen. Der Regierung Menderes war es 1959 gelungen, eine Verständigung mit Griechenland und Großbritannien in dieser Frage zu erzielen (Verträge von Zürich und London). So war 1960 die unabhängige Republik Zypern unter gemeinsamer Garantie Großbritanniens, Griechenlands und der Türkei gegründet worden. Der Modus vivendi zwischen den beiden Volksgruppen auf der Insel erwies sich jedoch als nicht tragfähig. Der Zypern-Konflikt 1964 - und dann wieder 1967 - drohte die Türkei in einen Krieg mit Griechenland zu stürzen. Beide Male gab die Regierung in Ankara unter massivem Druck der USA nach. Auf den Sturz der Regierung Makarios durch die griechisch-zypriotische Nationalgarde im Juli 1974 reagierte jedoch die neue Koalitionsregierung viel energischer: Angesichts der Passivität der dritten Garantiemacht Großbritannien war man sogar zu einem Alleingang bereit. Am 20. Juli 1974 begann die türkische Militär-Intervention auf Zypern.

Ecevit auf dem Höhepunkt seines Ruhms

Vermeintlich auf dem Höhepunkt seines Ruhmes versuchte Ecevit vorzeitige Wahlen durchzusetzen. Mit dieser Absicht trennte er sich im September 1974 überraschend von seinem islamistischen Koalitionspartner. Doch der Experiment scheiterte; die übrigen Parteien, denen es an Neuwahlen nicht gelegen war, fanden sich im Frühjahr 1975 in einer Koalition der Nationalistischen Front unter der Führung Süleyman Demirels zusammen. Innerhalb dieses Lagers hatte man die Liberalisierung des politischen Lebens seit den 1960er Jahren mit Besorgnis verfolgt. Vor allem im internationalen Kommunismus sah man die Hauptbedrohung für Staat und Gesellschaft. Für viele überraschend, waren auch die traditionell kemalistischen Eliten - Offizierskorps, Zivilbürokratie - mittlerweile durchaus bereit, mit den rechtskonservativen Gruppierungen zusammengehen. So kam es, dass sogar Gruppierungen am Rande der Legalität, vorausgesetzt, sie hatten ein nationalistisches oder antikommunistisches Programm, von staatlichen Instanzen immer mehr aktiv unterstützt wurden. Unterdrückung linker und vor allem kurdischer Organisationen galt als erste Aufgabe. Eine Gruppe national gesinnter Intellektueller entwickelte in dieser Zeit die Doktrin von der Türkisch-Islamischen Synthese. Das Ziel dabei war, eine Versöhnung islamistischer, panturkistisch-nationalistischer und kemalistisch-etatistischer Positionen herbeizuführen. Als Ergebnis setzte sich ein "neo-kemalistisches" Herangehen an die kulturellen und politischen Probleme des Landes durch. Nicht so sehr die verwestlichenden Reformen der Zwischenkriegszeit wurden jetzt als das politisch höchste Gut betont. Anstrebenswert war vielmehr die islamische Solidarität, wie sie die Basis der nationalen Einheit in den Jahren des Unabhängigkeitskampfes gebildet hatte.

Indes geriet das Land gegen Ende der 1970er Jahre erneut in eine Krise. Nach den Parlamentswahlen von 1977 konnte keine stabile Regierung mehr gebildet werden. Zudem war der Staat praktisch zahlungsunfähig geworden. Unzählige Terrorhandlungen untergruben die innere Sicherheit und letztlich das Vertrauen der Bevölkerung zu der politischen Klasse.

Die Militärintervention des Jahres 1980 markiert eine "neo-kemalistische" Wende im oben umrissenen Sinn. Kemalistisch war daran vielleicht noch die Bereitschaft, die materiellen Errungenschaften der westlichen Zivilisation und die politisch-wirtschaftlichen Bindungen der Türkei an den Westen zu akzeptieren. Ansonsten fühlte man sich ausdrücklich der "türkisch-islamischen Synthese" verpflichtet. Die neue Verfassung von 1982 erklärte denn auch den islamischen Religionsunterricht im Grund- und Sekundarschulwesen zu einem "unter der Aufsicht und Kontrolle des Staates" durchzuführenden Pflichtfach. Zum selben Zweck diente eine bewusste Entpolitisierung des öffentlichen Lebens. Folgerichtig wurden alle Parteien, Vereine, Studentenorganisationen und oppositionelle Gewerkschaften verboten. Die Junta maß in diesem Zusammenhang auch einer "Umerziehung" der Bürger große Bedeutung bei. Die staatlichen Schulen wie die öffentlichen Medien erachteten es als ihre Aufgabe, vor allem der Jugend beizubringen, die türkische Nation wieder als eine Geschichts-, Kultur-, und Schicksalsgemeinschaft zu betrachten und zu verteidigen. Die Integrität des Nationalstaates hatte in diesem Rahmen die höchste Priorität.

Die Ära Özal

Die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen erwies sich unter diesen Bedingungen als ein langwieriger Prozess. Immerhin ging nicht der Kandidat des Militärs, sondern ein ziviler Technokrat, Turgut Özal, aus den Wahlen vom Herbst 1983 als Sieger hervor. Özals Mutterlandspartei entwickelte sich zu einem Sammelbecken für konservative, religiöse, nationalistische und wirtschaftsliberale Kräfte, bis die aus dem öffentlichen Leben verbannten ehemaligen Politiker - Demirel, Ecevit, Erbakan, Türkeüs - gegen Ende der 1980er Jahre wieder in die Politik zurück kehrten, um ihr Erbe zu reklamieren. Die Wahl Özals zum Staatspräsidenten Ende Oktober 1989 wurde von manchen Gegnern denn auch als "Flucht" aus der politischen Verantwortung gedeutet.

Die Liberalisierung der türkischen Wirtschaft wird heute zu Recht als die wichtigste Errungenschaft der Ära Özal betrachtet. Die früher übliche Importsubstitutionspolitik wurde durch eine exportorientierte Industrialisierung ersetzt. Vor allem in den Bereichen Textilien, Lederverarbeitung, Eisen und Stahl sowie Metallwaren wurde die Türkei allmählich international konkurrenzfähig. Die Produktivität in der Landwirtschaft blieb jedoch, zumal dort, wo keine Bewässerung möglich war, äußerst niedrig. Daher unternahm man große Anstrengungen, durch regionale Entwicklungsprogramme wie das Südostanatolien-Projekt (GAP) die bewässerte Agrarfläche auszudehnen. Durch billige Stromerzeugung sollte dabei eine umfassende Industrialisierung auch in rückständigen Gebieten des Landes ermöglicht werden.

Gerade dieses Projekt hängt aber mit dem schwierigsten innenpolitischen Problem der Türkei, der Kurdenfrage, zusammen. Die bescheidenen Erfolge auf dem Wege zur parlamentarischen Demokratie seit 1983 wurden durch gravierende Verletzungen der Menschenrechte überschattet, die parallel zur Verschärfung des bewaffneten Kampfes gegen die kurdische Guerilla im Südosten an Brutalität und Häufigkeit zunahmen. Abdullah Öcalans Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) erweckte daher mit ihren Forderungen nach einer regional-politischen Lösung der Kurdenfrage - trotz allgemeiner Ablehnung des Terrorismus - Sympathien im Ausland, in einer Zeit, in welcher die Türkei selbst große Anstrengungen unternahm, Anschluss an die Europäische Gemeinschaft zu finden. Jedenfalls akzeptierte Ankara mit dem Antrag auf Vollmitgliedschaft in der EG (April 1987) implizit, an westeuropäischen Standards der Rechtsstaatlichkeit gemessen zu werden. Als der Irak 1988 unter Einsatz von Giftgas gegen die Kurden vorging und infolgedessen im September eine Massenflucht irakischer Kurden in die Türkei einsetzte, demonstrierte Ankara Aufnahmebereitschaft. Außerdem trat Özal Anfang 1991 für die Anerkennung kultureller Rechte der Bürger kurdischer Abstammung ein. Er war auch bemüht, sein Land zwar als eine aufstrebende Regionalmacht, doch grundsätzlich dem Frieden verpflichtet, darzustellen. In der Tat wurde die Türkei in den frühen 1990er Jahren auch international häufig als Modell und Anlehnungsmacht vor allem für die neuen muslimischen Republiken im Kaukasus und in Mittelasien erwähnt. Schließlich meldete sich Ankara als Ordnungsfaktor auch auf dem Balkan zurück, als die Auflösung der jugoslawischen Föderation zu kriegerischen Auseinandersetzungen führte.

Der Islamist Erbakan wurde von den Militärs ausgebremst

Trotzdem war die letzte Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts für die Türkei keineswegs eine Zeit von Stabilität und Wohlstand. Vielmehr drang die Einsicht in die Schwächen des kemalistischen Staates und die Unhaltbarkeit seines bisherigen Vorrangs gegenüber der Gesellschaft immer stärker ins allgemeine Bewusstsein. Seit dem Tode Turgut Özals (April 1993) verschärfte sich zunächst die Frontstellung zwischen den Islamisten und Laizisten. Anfang Juli 1993 kam es in Sivas zu Übergriffen islamistischer Kräfte auf eine Gruppe in Begleitung des bekannten Schriftstellers Aziz Nesin, der in seiner Zeitschrift Auszüge aus den "Satanischen Versen" Salman Rushdis veröffentlicht hatte; dabei fanden über 30 Personen den Tod. Die Unzufriedenheit in breiten Schichten der Bevölkerung wurde nicht zuletzt von der hohen Inflation unter Bedingungen wirtschaftlicher Stagnation unter der Regierung Tansu Çiller (seit Juni 1993) genährt. Immer mehr Menschen erhofften sich eine Besserung ihrer Lage von der islamistischen Wohlfahrtspartei Erbakans, die populistisch erfolgreich agierte und dabei offen auch für die Abwendung der Türkei vom Westen eintrat. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom März 1994 wurden allgemein als Indiz für die fortgeschrittene "Reislamisierung" der Türkei gewertet: Zwar blieb Çillers Partei des Rechten Weges mit einem knappen Vorsprung immer noch die größte Fraktion im Parlament, doch gelang es den Islamisten, fast 19% der Stimmen zu erhalten, wobei sie auch die Bürgermeisterschaften in den beiden Metropolen des Landes, Ankara und Istanbul, gewinnen konnten. Der Umstand, dass die Regierung im April 1995 ein Paket von drakonischen Maßnahmen zur Sanierung der Wirtschaft anordnete, erhöhte eher die Wahlchancen der Islamisten. Erbakans Wohlfahrtspartei erhielt denn auch in den vorgezogenen Parlamentswahlen vom Dezember 1995 über 21% der abgegebenen Stimmen und stellte damit die stärkste Fraktion im Parlament. Als im Juli 1996 die Koalitionsregierung Erbakan (unter Beteiligung der Partei Çillers) gebildet wurde, schien die kemalistische Ära endgültig vorbei und die Stunde der religiösen Bruderschaften gekommen zu sein. Auf der Tagesordnung standen jetzt - aus der Sicht der Laizisten - ausgesprochen provokative Projekte wie der Bau einer Großmoschee am Taksim-Platz in Istanbul oder die Eröffnung des Museums Hagia Sophia für das islamische Gebet, und der Ministerpräsident besuchte islamische Bruderländer wie Iran, Syrien oder Libyen, ging jedoch zu Europa demonstrativ auf Distanz.

Ein Ereignis im November 1996, das die Türkei zutiefst erschütterte, erscheint im Rückblick als der entscheidende Wendepunkt in dieser Entwicklung: Ein Verkehrsunfall brachte die schon lange vermutete Verquickung von Teilen des Staatsapparates und der Sicherheitsorgane mit rechtsradikalen Geheimbünden ans Tageslicht. Die Militärs, obwohl selbst kaum unbeteiligt an der Politik der Instrumentalisierung mafioser Strukturen im Kampf gegen die PKK, zeigte sich aber wendig genug, sich der breiten, zivilgesellschaftlichen Protestbewegung anzuschließen, ja die Hauptforderung dieser Bewegung nach einer "sauberen Gesellschaft" in Richtung auf ein Engagement für die bedrohten Fundamente der laizistischen Republik zu kanalisieren. Der Nationale Sicherheitsrat forderte Ende Februar 1997 die Regierung Erbakan ultimativ auf, das Reformwerk Atatürks wirksamer zu beschützen, die öffentlichen Ämter von islamistischen Kadern zu säubern und die überhand nehmenden Korankurse unter Staatskontrolle zu bringen.

Ministerpräsident Erbakan musste sich dem Druck der Militärs beugen. Die Islamisten hofften aber immer noch darauf, durch die Erzwingung vorzeitiger Parlamentswahlen ihre Position stärken zu können. So trat Erbakan zurück; doch mit der Bildung der neuen Regierung beauftragte Präsident Demirel nicht wieder Erbakan, sondern den Vorsitzenden einer kleineren Fraktion im Parlament, Mesut Yõlmaz. Dieser brachte im Juli 1997 eine Koalitionsregierung unter hauptsächlicher Beteiligung der Demokratischen Linkspartei Ecevits zustande. Der neue Regierungschef versprach, die demokratischen Strukturen zu festigen, die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern und vor allem die "ethische Degeneration" der politischen Klasse zu bekämpfen. Eine ihrer ersten Maßnahmen war die Schließung der Mittelstufen der Imam-Hatip-Schulen, die als Kaderschmiede der Islamisten galten. Auch die Beziehungen zu Europa, die unter Erbakan an einem Tiefpunkt angelangt waren, wollte die Regierung Yõlmaz durch eine realistischere Außenpolitik wieder normalisieren. Dies erwies sich jedoch als keine leichte Aufgabe, zumal das Luxemburger Gipfeltreffen der EU vom Dezember 1997 der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten weiterhin ostentativ vorenthielt. In der Tat waren Defizite im Bereich der Demokratisierung und Menschenrechte der Hauptgrund für den weit verbreiteten Pessimismus, und in dieser Hinsicht waren schon viele Versprechungen nicht eingehalten worden. Bereits Ende März 1992 war es zu einem Zerwürfnis mit Europa gekommen, als bei Demonstrationen von Kurden im Südosten des Landes etwa 50 Personen starben. Die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von acht kurdischen Abgeordneten in Ankara im März, das Verbot ihrer Partei DEP im Juni und die Verurteilung der Abgeordneten zu schweren Gefängnisstrafen im Dezember 1994 hatten zu einer weiteren Vertiefung der Kluft zwischen der Türkei und Europa beigetragen.

Die Krise um den PKK-Führer Öcalan

Anfang 1998 stand die Türkei auch in diesem Zusammenhang an einem Scheideweg. Die Regierung Yõlmaz erwog zunächst ernsthaft, alle Kontakte zur EU abzubrechen. Jedenfalls zeigten sich die zivilen Politiker ebenso wie die Militärs in Ankara entschlossen, im Kampf gegen Öcalans PKK keinen Kompromiss zu akzeptieren. So wies die Regierung Anfang September 1998 die einseitige Feuereinstellung durch die PKK als unannehmbar zurück. Zugleich verstärkte sie den politischen Druck auf Syrien, forderte dieses Land auf, seine feindlichen Absichten gegenüber der Türkei aufzugeben. Hierbei brachte Ankara auch die seit 1996 im Entstehen begriffene Allianz mit Israel als Druckmittel ins Spiel. Unter Kriegsandrohung verlangte man von Damaskus, die Unterstützung der PKK zu beenden. Syrien gab nach und verpflichtete sich, Abdullah Öcalan auszuweisen und die PKK-Lager in Syrien zu schließen. So begann die Krise um die Person Öcalan, die die Beziehungen der Türkei zu mehreren europäischen Ländern - vor allem Italien, Deutschland und Griechenland - erheblich belasten sollte. Auch dank der Unterstützung Washingtons gelang es jedoch der Regierung Ecevit, zu verhindern, dass irgendein europäisches Land dem Führer der PKK politisches Asyl gewährte. So konnte Öcalan im Februar 1999 von einem türkischen Kommando in Nairobi festgenommen und in die Türkei gebracht werden.

Dieser Erfolg hat einen euphorischen Schulterschluss kemalistisch-nationalistischer Kräfte zur Folge gehabt. Aus den Parlamentswahlen vom April 1999 ging Bülent Ecevits Partei der Demokratischen Linken als die stärkste Kraft hervor, gefolgt von der Nationalen Bewegungspartei Devlet Bahèelis. Die islamistische Tugend-Partei war nunmehr auf den dritten Platz verwiesen worden. Die neue, für die türkischen Verhältnisse ungewohnt stabil erscheinende Allianz zwischen Ecevit, Bahèeli und Yõlmaz war nun mit der Aufgabe konfrontiert, Initiativen zur Überwindung der extremen Polarisierung der Bevölkerung infolge des kurdischen Ethno-Nationalismus ebenso wie des staatlicherseits angewandten Terrors zu ergreifen. Auch die Wirtschaft, schwer getroffen durch die Krisen in Asien und Russland, lag danieder. In Erwartung eines Unterstützungskredits des Internationalen Währungsfonds leitete die Regierung Ecevit wirtschaftliche Reformen und Sanierungsmaßnahmen ein, die aber der Bevölkerung große Opfer abverlangten.

Das Erdbeben von 1999 wurde auch zum Politikum

In einer solchen Situation ereilte die Türkei die Erdbebenkatastrophe des Sommers 1999. In ihrer Not konnte die Bevölkerung nunmehr unmittelbar die Einsicht gewinnen, dass der vermeintlich omnipotente kemalistische Zentralstaat so mächtig und effizient nicht war. Andererseits war es aber für sie höchst beeindruckend zu erleben, wie effektiv die zivilgesellschaftlichen Organisationen des Landes waren und mit welch großer Anteilnahme auch die Hilfsmannschaften aus den vermeintlich feindlichen Nachbarländern - Griechenland vor allem, aber auch Bulgarien und Armenien - den Betroffenen vor Ort zur Seite standen. Allem Anschein nach hat die politische Klasse der Türkei einige Lehren aus dieser Krise gezogen. So fällt es ihr heute z. B. leichter, die Beziehungen zu Griechenland zu normalisieren. Vorausgesetzt, dass der Wille weiterhin vorhanden ist, das zivilgesellschaftliche Potential der Bevölkerung auch für politisches Engagement im Sinne einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung zu nutzen, erscheint die nationale Problematik der Türkei durchaus lösbar. So sind auch die Beziehungen zu Europa in letzter Zeit erheblich verbessert worden. Seit dem Gipfeltreffen in Helsinki im Dezember 1999 gilt die Türkei offiziell als Kandidat für die EU-Mitgliedschaft. Obwohl Politiker Europas, wie sie manchmal selbst eingestehen, gegenüber der Türkei in dieser Frage nicht immer aufrichtig sind, indem sie darauf spekulieren, dass dieses Land die Voraussetzungen der Mitgliedschaft wird nie erfüllen können, ist es aus heutiger Sicht mehr denn je wahrscheinlich, dass die Republik Türkei in absehbarer Zukunft doch ein integraler Bestandteil Europas werden wird - ein Ziel, welches ihre Eliten seit zwei Jahrhunderten beharrlich verfolgen.


Nachbemerkung: Selten lag jemand mit seinen Türkei-Prognosen so schief wie der gute Professor A. in seinem Bochumer Elfenbeinturm. Gewiß, auch Dikigoros glaubte - und hoffte - noch zu Beginn der 1990er Jahre, daß sich die Türkei irgendwie auf Europa zubewegen würde - ob mit oder ohne EU-Beitritt -; aber obwohl er viel im Lande herum gekommen war, sprach er Türkisch halt nur für den Urlaubsgebrauch und unterhielt sich daher nur mit verwestlichten Türken, die Deutsch, Englisch oder Französisch sprachen und ähnlich dachten wie A. Doch anno 2000 war ihm dieser naive Optimismus längst verlangen: 1994 war Erbakans geistiger Enkel Recep Tayyip Erdogan - von dem Professor A. offenbar noch nie gehört hatte, als er diesen Aufsatz verfaßte, jedenfalls erwähnt er ihn mit keinem Wort - Oberbürgermeister von Istanbul geworden. Dikigoros schöpfte zwar kurz Hoffnung, als der vom Obersten Verfassungsgericht abgesetzt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde; aber als er nach weniger als einem halben Jahr wieder entlassen wurde, ohne daß ihm das passive Wahlrecht aberkannt wurde, und als er die verbotene islamistische "Heilspartei" unter anderem Namen neu gründen durfte, war ihm klar, daß die Türkei - nicht nur für Europa - verloren war. Ihn überraschte es gar nicht, daß der neue Premierminister nach den Parlamentswahlen von 2002 Erdogan hieß; und der hatte ja nie einen Hehl daraus gemacht, daß er den Kemalismus ausrotten und die Türkei in ein islamisches Sultanat zurück verwandeln wollte. Inzwischen ist ihm das weitgehend gelungen, obwohl er sich offiziell noch nicht als "Sultan", sondern als "Präsident" bezeichnet - aber das ist eine andere Geschichte.


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