DER OSMANISCHE VOLKSKÖRPER

Militanter Nationalismus als Staatstugend

von Torsten Pawlich (Freitag: Die Ost-
West-Wochenzeitung, 13.04.2001)

Bis heute leugnet die Türkei offiziell den Massenmord an Hunderttausenden Armeniern während des Ersten Weltkrieges

Die in Deutschland erscheinende türkische Tageszeitung Hürriyet (Freiheit) versuchte kürzlich mit einem Frage- und Antwortspiel ein Kapitel türkischer Geschichte aufzuarbeiten. In der großformatigen Zeitung war eine ganze Seite - betitelt Zehn Fragen, zehn Antworten - in deutscher Sprache dem Thema Armenische Ansprüche und Tatsachen gewidmet. Ganz dem nationalistischen Anspruch ihrer Kopfzeile, "die Türkei den Türken" verpflichtet, vertrat das Blatt seine Lesart des Massenmordes an Armeniern während des Ersten Weltkrieges.

Der Beginn der Massaker von 1915 - durch die Verhaftung von Armeniern in Istanbul symbolisch auf den 24. April festgesetzt - wird in der Republik Armenien bis heute als staatlicher Trauertag begangen. In den Fragen und Antworten von Hürriyet wird das zur Farce degradiert. Die Zeitung meint: "Zu einem solchen Massaker ist es nie gekommen, weder an diesem Tag noch zu einem anderen Zeitpunkt des Krieges. Es wurde darauf geachtet, dass die Armenier sanft behandelt wurden, wobei sie im Allgemeinen nach Syrien und Palästina verbracht wurden, wenn sie aus Südanatolien stammten, und in den Irak, wenn sie aus dem Norden kamen. Auf diese Weise wurden bis Ende 1917 etwa 700.000 Armenier verbracht, wobei es gewiss zu einigen Todesfällen kam, waren doch die Gebiete, die sie passierten, Schauplatz großangelegter Militäraktionen und Bandenaktivitäten ..."

Optisch verstärkt wird die Leugnung der Verbrechen noch durch die Bebilderung der Fragen und Antworten mit Gewaltfotos und deren Unterschriften. Einem gemäldegleichen "Angriff der Armenier auf eine Moschee 1895" sind "Armenische Massaker an Türken von 1915" zur Seite gestellt. Die unterschwellige Botschaft dieser Komposition ist eindeutig und erschreckt durch ihre simple Suggestion: Die Deportation der armenischen Staatsangehörigen sei eine Notwendigkeit zur Konsolidierung der osmanischen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg gewesen. Man habe die Armenier wegen ihrer Gewalttätigkeit aus dem osmanischen Volkskörper heraustrennen müssen.

Wer den Massenmord an der armenischen Bevölkerung vor mehr als 85 Jahren als historische Tatsache anerkennt, kann nach wie vor unter schweren Druck des türkischen Staates und seiner Lobbyisten geraten. Frankreich, Griechenland und Russland sagen inzwischen trotz vehementer Reaktionen aus Ankara: Es gab diesen Genozid. Die USA hingegen ziehen es vor, eine eindeutige Position zu vermeiden. Zu Gunsten von Wirtschafts- und Militärbeziehungen mit dem NATO-Partner Türkei entschied sich die Clinton-Administration noch im Herbst 2000 gegen eine im Repräsentantenhaus diskutierte Anerkennung des Völkermords. Wohlgemerkt, es handelt sich um die Deutung von Ereignissen, die mehr als ein dreiviertel Jahrhundert zurückliegen.

Als im April 1998 Mihran Dabag, der Direktor des Bochumer Institutes für Diaspora- und Genozidforschung, auf einem Seminar im Berliner Haus der Wannsee-Konferenz die geschichtlichen Umstände des damaligen Geschehens beschrieb, sprach er vor allem über die Jungtürken-Bewegung, deren Ziel in der militärischen "Turkisierung" armenisch besiedelter Gebiete bestand. Im Widerspruch zur offiziellen türkischen Geschichtsschreibung charakterisierte er die Jungtürken als Strömung mit "einem völkischen Rasse-Konzept", der ein Großreich von Thrakien bis Mittelasien vorschwebte. Diese nationalistischen "Reformkräfte" des Osmanischen Reiches wurden wenig später zu einer Basis der kemalistischen Philosophie. Das Fundament der Trennung von Staat und Religion der modernen Türkei wie deren scharf akzentuierter Nationalismus waren maßgeblich den Jungtürken zu verdanken. Sie forcierten die Entwicklung von der ethnischen Vielfalt des "Osmanismus" hin zu einem einseitigen Nationalismus im Staatsgebiet der jetzigen Türkei.

Während des ersten Balkankrieges im Januar 1913 hatten die Jungtürken endgültig die Macht im Osmanischen Reich ergriffen. Der Innenminister und spätere Großwesir Mehmed Talaat Pascha und jungtürkische Militärs wie der Sultansadjutant Ismail Enver Pascha strebten aktiv nach der Regeneration eines mächtigen Imperiums. Der Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte war die logische Konsequenz - der Massenmord an den Armeniern galt als Akt der blutigen "Stabilisierung" des Reiches.

Bis heute sind die Beziehungen der Türkei zum Nachbarstaat Armenien alles andere als normal. Gegenseitige diplomatische Abstinenz und geschlossene Grenzen dokumentieren, welches Konfliktpotenzial noch immer vorhanden ist. Dabei agiert die türkische Außenpolitik starr und dogmatisch. Nur ein Indiz dafür ist die Parteinahme zugunsten Aserbaidschans im Karabach-Konflikt. Auch dafür existieren geschichtliche Wurzeln, denn kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges waren 1918 Truppen des Nuri Pascha - eines Verwandten von Enver Pascha - durch Karabach marschiert und hatten Elend, Verwüstung und Schrecken hinterlassen.

Was es bedeuten kann, sich dieser Last der Erinnerung entledigen zu wollen, konnte der türkische Staat im Jahre 1973 erfahren. Bis dahin war in der eigenen wie der westlichen Öffentlichkeit kaum über den Genozid an den Armeniern diskutiert worden. Dies änderte sich abrupt mit dem Attentat eines 78-jährigen Armeniers auf zwei türkische Diplomaten in Los Angeles. Als Überlebender der osmanischen Geschichte wollte er offiziellen Vertretern der Türkei ihre Schuld vor Augen halten. Eine Welle von Anschlägen auf türkische Einrichtungen folgte weltweit. Die Enkel der Überlebenden bildeten "Rachebrigaden", deren Motivation aus dem einmal erlittenem Unrecht rührte. Neue, nicht nur türkische Opfer waren die Folge. Diese Periode dient in der Türkei bis heute dazu, um vom Fortbestand des "armenischen Terrorismus" zu sprechen. Nur ein erschreckendes Beispiel sind die Fotos und nationalistischen Kommentare zum Ermeni Sorunu, dem sogenannten "Armenien-Problem", auf den Webseiten des türkischen Generalstabs.


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