Kurt R. Spillmann (Hrsg.): Zeitgeschichtliche Hintergründe aktueller Konflikte V - Vorlesung für Hörer aller Abteilungen - Sommersemester 1995. Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, No. 37, Zürich 1995.


Hans Werner Tobler

Das Verhältnis Mexiko - USA: Zwischen Konflikt und Kooperation

Mexiko ist heute ein Staat, der vor allem wegen seiner vielfältigen inneren Konflikte Schlagzeilen macht. Seit dem überraschenden Indio-Aufstand in Chiapas anfangs Januar 1994, der ein starkes internationales Medien-Echo ausgelöst hat, ist das Land nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die militärischen und, mehr noch, die politisch-propagandistischen Aktivitäten der zapatistischen Befreiungsarmee im äussersten Süden des Landes, aber auch die schwere innenpolitische Krise, die Mexiko im Wahljahr 1994 erfasste und die im Mord an zwei führenden Politikern - dem offiziellen Präsidentschaftskandidaten des Partido Revolucionario Institucional (PRI), Colosio, und dem Generalsekretär der Regierungspartei, Ruíz Masieu - gipfelte, haben eine innere Zerrissenheit dieses Staates aufgedeckt, der 1993 - im Zeichen der Euphorie über den bevorstehenden Beitritt Mexikos zur NAFTA - im Begriffe schien, endgültig den Schritt von der Dritten in die Erste Welt zu vollziehen. Die im Dezember des vergangenen Jahres erfolgte Abwertung des damals überbewerteten mexikanischen Peso gegenüber dem Dollar konnte nicht in eine kontrollierte Neufestsetzung der Währungsparitäten überführt werden; der Peso verlor innerhalb weniger Wochen fast die Hälfte seines Aussenwertes, was eigentliche Panikreaktionen auf den amerikanischen Finanzmärkten auslöste, in seinen längerfristigen Auswirkungen aber vor allem für Mexiko eine gewaltige wirtschaftliche - und damit auch gesellschaftliche - Hypothek bedeuten dürfte.

Sucht man nach den Ursachen dieser - zumindest für die seit Anfang der neunziger Jahre allzu optimistischen ausländischen Beobachter und mexikanischen Regierungspolitiker - so überraschend ausgebrochenen Krise, so wird man sie in jenen seit langem nicht behobenen strukturellen Defiziten zu orten haben, die letztlich eine Erblast der immer mehr erstarrten "institutionalisierten Revolution" darstellen. Im politischen Bereich ist eine tiefgehende Systemkrise im Zusammenhang mit der seit den frühen dreissiger Jahren dominierenden Regierungs- beziehungsweise eigentlichen Staatspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) unübersehbar. Im Bereich der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklung hat zwar seit Jahrzehnten zweifellos eine "Modernisierung" stattgefunden, die allerdings grundlegende Probleme der gesellschaftlichen Polarisierung und der Marginalisierung breiter Bevölkerungsgruppen nicht hat überwinden können. Beide Krisenherde - der politische und der wirtschaftlich-gesellschaftliche - sind im Krisenjahr 1994 aufgebrochen und rufen nicht nur nach einem kurzfristigen crisis management, sondern nach langfristig tragfähigen Lösungen.

Auf diese aktuellen Konflikte will ich allerdings in meinem Referat nicht näher eingehen. Vielmehr möchte ich als Historiker eine Perspektive anlegen, die weiter in die Vergangenheit zurückreicht und die vor allem einen - für die mexikanische Entwicklung allerdings zentralen - Bereich thematisiert, nämlich das Verhältnis Mexikos zu seinem nördlichen Nachbarn, den USA. Es ist augenfällig, dass dieses Verhältnis vor allem für den schwächeren der beiden Partner, also Mexiko, immer von grundlegender Bedeutung gewesen ist.

Auch für die USA hatte Mexiko seit dem 19. Jahrhundert immer eine besondere Bedeutung; der Nachbar an der Südgrenze war und ist nicht nur ein - in den letzten Jahrzehnten zunehmend wichtiger - Wirtschaftspartner der USA, auch über die Millionen von in den USA ansässigen Mexiko-Amerikanern und sich dort temporär aufhaltenden mexikanischen Fremdarbeitern, die braceros, sind die beiden Staaten miteinander auf vielfältige Art und Weise verflochten. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten sind allerdings weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart unproblematisch gewesen, vielmehr basieren sie auf einer Mischung von Konflikten und Kooperation, die im folgenden etwas näher darzustellen ist.

Betrachtet man das Verhältnis zwischen Mexiko und seinem nördlichen Nachbarn in einer langfristigen historischen Perspektive, so stellt man fest, dass es anfänglich vor allem durch heftige Konflikte, etwa seit dem Zweiten Weltkrieg aber zunehmend durch eine sich verstärkende Kooperation gekennzeichnet war.

Die ersten grossen Konflikte zwischen den beiden Staaten, die im späten 18. beziehungsweise frühen 19. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit von ihren ehemaligen kolonialen Mutterländern Grossbritannien und Spanien erkämpft beziehungsweise erhalten hatten, setzten bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Das damalige Nordmexiko, also die Gebiete nördlich des Río Grande, gehörten - als Erbe des kolonialen Neuspanien - zwar zum Hoheitsgebiet der jungen mexikanischen Republik; es handelte sich dabei aber um relativ schwach besiedelte, von der fernen Hauptstadt México administrativ nur sehr lose kontrollierte Gebiete, die bald in den Einflussbereich und anschliessend unter die Herrschaft der dynamischen USA geraten sollten, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschickten, ihr Territorium rasch nach Südwesten, über den Mississippi hinaus, auszudehnen. Zunächst spaltete sich Texas, zunehmend von angelsächsischen Viehzüchtern und Baumwollpflanzern besiedelt, aus dem mexikanischen Staatsverband ab. Die später erfolgte nordamerikanische Annexion von Texas im Jahre 1845 bereitete den Boden für den mexikanisch-amerikanischen Krieg von 1846/48 vor, der nach der mexikanischen Niederlage schliesslich zum Verlust von Kalifornien und New Mexico an die USA führte.

So schmerzhaft diese territorialen Einbussen für Mexiko auch waren, den Kern seiner staatlichen Existenz betraf die Abtretung seiner schwach besiedelten nördlichen Provinzen an die USA - übrigens gegen eine Entschädigung von 15 Millionen US$! - nicht. Mexiko war damals vielmehr durch seine chronische politische Instabilität und eine jahrzehntelange wirtschaftliche Stagnation gelähmt, aus denen es sich erst nach blutigen Bürgerkriegen, dem Sieg der Reformbewegung in den 1850er Jahren und der Abschüttelung der von einem französischen Expeditionskorps gestützten Fremdherrschaft unter dem habsburgischen Kaiser Maximilian in den 1860er Jahren befreien konnte.

Unter der Herrschaft des Generals Porfirio Díaz (1876-1911) gelang es, einen modernen Staatsapparat aufzubauen, das mexikanische Staatsterritorium der effektiven Kontrolle der Hauptstadt zu unterwerfen und die Voraussetzungen für die infrastrukturelle Modernisierung des Landes (Eisenbahnbau, Telegrafenverbindungen), damit auch für ein markantes wirtschaftliches Wachstum zu schaffen. Unter der Herrschaft von Díaz entstand also im späten 19. Jahrhundert das moderne Mexiko, dessen Verhältnis zu den USA nun etwas genauer zu beleuchten ist.

Die Problematik der Beziehungen zwischen den beiden so ungleichen Nachbarstaaten - hinsichtlich ihrer militärischen Stärke, ihrer wirtschaftlichen Dynamik und ihres politisch-gesellschaftlichen Systems - kommt überaus deutlich zum Ausdruck in dem Porfirio Díaz zugeschriebenen berühmten Ausspruch: "Pobre México, tan lejos de Díos y tan cerca de Estados Unidos!" ("Armes Mexiko, so fern von Gott und so nah den Vereinigten Staaten!"). In der Tat gab es ja um und nach der Jahrhundertwende in den USA einflussreiche Gruppen, die gegenüber Mexiko einen offen annexionistischen Kurs verfolgten, auch wenn es ihnen nicht gelang, die offizielle amerikanische Lateinamerikapolitik zu bestimmen, die ja zentral auf Wirtschaftskontrolle und nicht auf politisch-militärische Herrschaft ausgerichtet war, eine Expansionsstrategie also, wie sie in der sogenannten open door-policy ihren Niederschlag fand. Auch die mexikanische Regierung erkannte, dass intensive Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit den USA durchaus einen Schutz vor imperialistischen Abenteuern des nördlichen Nachbarn darstellen konnten; entsprechend widersetzte sie sich seit den 1880er Jahren einem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit den USA nicht mehr und begann, nordamerikanischen Geschäftsleuten günstige Investitionsbedingungen in Mexiko anzubieten. Die Jahrzehnte zwischen den 1880er Jahren und dem Ausbruch der mexikanischen Revolution von 1910/11 standen denn auch ganz im Zeichen eines immer stärkeren Eindringens nordamerikanischen Kapitals und einer zunehmenden Orientierung der mexikanischen Aussenhandelsströme auf die USA.

Anders als im übrigen Lateinamerika vor und nach der Jahrhundertwende, wo eindeutig britische Wirtschaftsinteressen dominierten, war Mexiko schon vor der Revolution zu einer Domäne des nordamerikanischen Kapitals geworden. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, also zu einer Zeit, da die USA noch ein Netto-Schuldner-Land waren, kontrollierten sie bereits fast 40% der gesamten ausländischen Investitionen in Mexiko; im Bereich der Eisenbahnen, des Bergbaus und der Landwirtschaft kam nordamerikanischen Unternehmen und Privatleuten eine beherrschende Stellung zu. Auf Mexiko entfiel damals auch fast die Hälfte der gesamten amerikanischen Auslandsinvestitionen.

Die Abhängigkeit Mexikos vom nördlichen Nachbarn, dem Coloso del Norte, war also bereits anfangs des 20. Jahrhunderts ausserordentlich ausgeprägt, und es erstaunt deshalb nicht, dass die mexikanische Regierung nach der Jahrhundertwende versuchte, durch die spezielle Förderung europäischer - vorab britischer - Wirtschaftsinteressen ein Gegengewicht zum übermächtigen nordamerikanischen Einfluss aufzubauen, eine Strategie, die längerfristig allerdings nicht von Erfolg gekrönt war. Ausschlaggebend für das Scheitern dieser Strategie waren sowohl globale als auch regionale Entwicklungen; einerseits der Erste Weltkrieg, der - auf Kosten der Europäer - eine Verlagerung des weltwirtschaftlichen Gravitationszentrums nach den USA brachte, andererseits die mexikanische Revolution. Mit dem Ausbruch der Revolution in Mexiko im Jahr 1910 setzte eine drei Jahrzehnte dauernde Entwicklung zwischen Mexiko und den USA ein, die vorwiegend von Konflikten geprägt war.

Auf die komplizierten Voraussetzungen, Verlaufsformen und Auswirkungen der mexikanischen Revolution, des ersten grossen politischen und sozialen Umbruchs in Lateinamerika im 20. Jahrhundert, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden;(1) lediglich jene Faktoren, die für das Verhältnis zwischen Mexiko und den USA von besonderer Bedeutung waren, seien hier kurz angedeutet.

Allgemein kann man drei Ursachenbündel für den Ausbruch der mexikanischen Revolution festhalten, die auch in späteren lateinamerikanischen Revolutions- und Reformbewegungen eine zentrale Rolle spielen sollten: der Kampf gegen die kolonial geprägte (und neokolonial, das heisst im 19. und frühen 20. Jahrhundert verfestigte) oligarchische Gesellschaftsstruktur, das undemokratische politische Regime und zunehmende Wirtschaftsbeherrschung von aussen.

Im Falle Mexikos richtete sich die hauptsächlich von Gruppen der Mittelschicht und politisch marginalisierten Exponenten der nordmexikanischen Oberschicht getragene politische Protestbewegung gegen das erstarrte politische System der Díaz-Diktatur und die sehr eingeschränkte Basis politischer Partizipation. Die gesellschaftlichen Reformforderungen kristallisierten sich in der kleinbäuerlichen Aufstandsbewegung, die sich gegen die immer stärkere Ausdehnung des Grossgrundbesitzes auf Kosten kleinbäuerlichen Landes wandte; Emiliano Zapata war der wichtigste Führer dieser agrarrevolutionären Strömung und Symbol der kleinbäuerlichen Reformaspirationen, ein Umstand, der ihn mehr als 70 Jahre später zum Namensgeber der Aufstandsbewegung in Chiapas werden liess. Die im Lauf der Revolution zunehmenden nationalistischen Strömungen richteten sich schliesslich gegen die ausländische Wirtschaftsbeherrschung des Landes und sollten das Verhältnis zu den USA bis etwa 1940 in besonderem Masse belasten.

Während die Revolution für die aufständischen Mexikaner einen politischen, gesellschaftlichen und nationalen Emanzipationskampf darstellte, erschien sie aus der Sicht der Nordamerikaner vor allem als eine gefährliche - weil möglicherweise auf ganz Lateinamerika ausstrahlende - Herausforderung ihrer grundlegenden aussenpolitischen und aussenwirtschaftlichen Strategie der open door-policy, wie sie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem gegenüber dem nördlichen Lateinamerika und China Anwendung fand. Diese Strategie setzte aus nordamerikanischer Sicht in Mexiko geordnete politische Verhältnisse und vor allem eine stabile Regierung voraus, welche die internationalen Spielregeln der open door-policy anerkannte, also insbesondere den Schutz ausländischen Eigentums garantierte. Die heftigen Bürgerkriege in Mexiko, die von 1910 bis 1916 dauerten und von häufigen Regierungswechseln begleitet waren, stellten für die USA die Grundlagen einer stabilen und berechenbaren "konstitutionellen Ordnung" in Frage, unter welcher ihrer Ansicht nach "legitime Geschäftstätigkeit blühen und die Türen dem Handel offen stehen würden."(2)

Die USA versuchten deshalb, von Anfang an aktiv Einfluss auf den Verlauf der Revolution in ihrem südlichen Nachbarland zu nehmen. Zunächst schienen sie die bürgerlich-moderat ausgerichtete Aufstandsbewegung unter Francisco I. Madero gegen Díaz zumindest nicht zu behindern, da sie sich von Madero eine Korrektur von Díaz' ausgesprochen probritischer Politik erhofften. Als sich Madero aber - nach seiner Wahl zum ersten Revolutionspräsidenten 1911 - als zunehmend schwacher Präsident erwies, der die aus der Revolution hervorgegangenen Volksbewegungen nur mit Mühe kontrollieren konnte, übernahm im Februar 1913 der nordamerikanische Botschafter Henry Lane Wilson eine aktive Rolle beim blutigen Sturz von Madero und beim Versuch, das Ancien Régime unter dem porfiristischen General Victoriano Huerta wieder herzustellen. Auch Huerta näherte sich allerdings rasch britischen Wirtschaftsinteressen an, die damals - vor allem im Bereich der Erdölförderung - in scharfer Konkurrenz mit nordamerikanischen Unternehmen standen. Als Huertas Regime zudem immer diktatorischere Züge annahm, intervenierten die USA im April 1914 erstmals militärisch in Mexiko, indem sie die wichtige Hafenstadt Veracruz besetzten, ein Schritt, der sich allerdings als kontraproduktiv erwies, da er eine nationalistische Aufwallung in Mexiko bewirkte und so Huertas Position kurzfristig sogar stärkte. Die USA verbündeten sich daraufhin mit der nordmexikanischen Revolutionsbewegung, die gegen Huerta kämpfte, in der Hoffnung, so einer ihnen freundlich gesinnten Regierung in den Sattel zu verhelfen. Tatsächlich gelang es dieser nördlichen Revolutionsbewegung, die mit der südlichen Bauernbewegung unter Emiliano Zapata verbündet war, im Sommer 1914 Huerta zu stürzen, aber die von den USA angestrebte politische Stabilisierung Mexikos unter einer proamerikanischen Regierung scheiterte erneut.

Die mexikanische Revolutionsentwicklung, welche nun die tiefgreifenden politischen, wirtschaftlich-sozialen und soziokulturellen Gegensätze zwischen den verschiedenen Landesteilen und zwischen den ehemals verbündeten Revolutionsbewegungen offen ausbrechen liess, hatte nämlich inzwischen eine solche Eigendynamik angenommen, dass sie von den USA weder politisch noch militärisch wirksam beeinflusst werden konnte. Mexiko stürzte 1915/16 in einen neuen Bürgerkrieg, diesmal zwischen den ehemals verbündeten Revolutionslagern, die sich einerseits um die aufständische Bauernbewegung unter Zapata und die mit ihr verbündeten Truppen Pancho Villas, andererseits um die hauptsächlich von nordmexikanischen Revolutionsgenerälen aus der Mittelschicht geführten Revolutionsbewegungen herum gruppierten. In dieser Auseinandersetzung zwischen dem stärker sozialradikalen ersten und dem stärker auf politische Reformen ausgerichteten, gemässigteren zweiten Revolutionsflügel setzte sich schliesslich 1916 letzterer durch, der nun erstmals seit 1911 wieder eine einigermassen stabile Regierung zu bilden vermochte.

Diese Regierung, bis 1920 unter der Führung des nordmexikanischen Grundbesitzers Venustiano Carranza, war seit 1916 der Gegenspieler der US-Regierung. Carranza vertrat zwar kein sozialradikales Reformprogramm und insbesondere keine tiefgreifende Agrarreform, wie sie die aufständischen Bauern gefordert hatten, er war andererseits aber ein ausgesprochener Exponent jener nationalistischen Strömungen, die sich im Verlauf der Revolution immer stärker herausgebildet hatten, und insofern ein unbequemer, schwer zu beeinflussender Partner der US-Regierung. Schon 1916 wäre es beinahe zu einem offenen Krieg zwischen den USA und Mexiko gekommen, als erstere - im Gefolge eines Angriffs des Revolutionsführers Pancho Villa, eines Gegners Carranzas, auf die nordamerikanische Grenzstadt Columbus - ein Expeditionskorps unter dem Kommando von General Pershing nach Mexiko entsandte, das tief in das Territorium des südlichen Nachbarlandes eindrang. Diese "Strafexpedition" zur Verfolgung von "Villas Banditen" erreichte ihr Ziel allerdings nicht. Das schwerfällige, 6'000 Mann umfassende und mit Artillerie ausgerüstete amerikanische Expeditionskorps erwies sich als völlig ungeeignet zur Verfolgung der hochmobilen villistischen Verbände; im Gegenteil, Villa profitierte von der starken antiamerikanischen Stimmung, welche die Pershing-Expedition in Nordmexiko auslöste. Dass der offene Krieg zwischen beiden Staaten vermieden werden konnte, lag vor allem an der Entwicklung, die damals der Erste Weltkrieg nahm und die einen Kriegseintritt der USA auf Seiten der Entente-Mächte immer wahrscheinlicher werden liess. Unter diesen Umständen waren die USA an einer raschen Beseitigung des Konfliktherdes an ihrer Südgrenze interessiert und zogen ihr Expeditionskorps anfangs 1917 schliesslich zurück.

Der Verlauf des Ersten Weltkriegs hat noch in einem umfassenderen Sinne Auswirkungen auf die Entwicklung in Mexiko und auf das Verhältnis zwischen Mexiko und den USA gezeitigt. Als nach Kriegsbeginn die britisch-amerikanische Rivalität um wirtschaftliche Ressourcen in Mexiko in den Hintergrund und der grundsätzliche Gegensatz zwischen Deutschland und den Westmächten in den Vordergrund trat, wurde Mexiko zu einem "geheimen Kriegsschauplatz" der Grossmächte, die - wie im Falle der russischen Revolution von 1917 oder des arabischen Befreiungskampfes gegen die Türkei - den Kriegsgegner auch durch Ausnützung revolutionärer oder antikolonialistischer Konstellationen zu treffen suchten. Was Mexiko betrifft, so wurde der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung mit dem abenteuerlichen Bündnisangebot Deutschlands an Mexiko erreicht, wie es in der "Zimmermann-Depesche" von 1917 seinen Niederschlag fand, das Mexiko zu einem Angriffskrieg auf die USA veranlassen wollte, das von Carranza aber angesichts des für Mexiko selbstmörderischen Charakters dieser Offerte zurückgewiesen wurde. Auch im Falle Mexikos zeigt sich somit, wie Friedrich Katz betont hat, die im frühen 20. Jahrhundert ganz allgemein zu beobachtende Wechselwirkung von internationalem Konflikt und nationaler Revolution, die Tatsache also, dass "lokale Konflikte ebenso für globale Zwecke wie globale Konflikte für lokale Zwecke ausgenützt werden können."(3)

Auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs blieben die starken Spannungen zwischen Mexiko und den USA bestehen; Hauptgrund dafür war die nationalistische Politik der neuen Revolutionsregierung, die sich vor allem in Form eines wirtschaftlichen Nationalismus mit dem Ziel der Rückgewinnung der nationalen Kontrolle beziehungsweise Souveränität über die mexikanische Volkswirtschaft ausdrückte. Strategische Bedeutung kam dabei der nationalen Kontrolle über die Bodenschätze zu, die gemäss Artikel 27 der neuen Verfassung von 1917 in das "direkte Eigentum der Nation" überführt wurden. Den bisherigen Eigentümern wurde zwar ein Konzessionsrecht zugestanden, sie waren damit aber rechtlich der hoheitlichen Kontrolle durch den mexikanischen Staat unterworfen. Dies hatte vor allem im Erdölsektor grosse Bedeutung, wo ja die nordamerikanischen und britischen Ölgesellschaften eine dominierende Stellung innehatten. Obwohl sich die Regierung Carranza auf eine erhöhte Besteuerung der Ölgesellschaften beschränkte, wurde schon diese Politik von den ausländischen Unternehmen als "konfiskatorisch" bezeichnet und mit vielfältigem Widerstand beantwortet. Die amerikanischen Ölinteressenten versuchten 1919 gar den Boden für eine neue nordamerikanische Militärintervention in Mexiko vorzubereiten, drangen damit allerdings - trotz namhafter Unterstützung aus dem Lager der oppositionellen Republikaner - nicht durch. Dennoch sollte die Erdölkontroverse zum gravierendsten Problem im Verhältnis zwischen Mexiko und den USA bis zur Nationalisierung der ausländischen Ölunternehmen im Jahre 1938 werden.

Wie angedeutet, resultieren die Konflikte zwischen Mexiko und den USA im Jahrzehnt der revolutionären Bürgerkriege zwischen 1910 und 1920 vor allem aus der Tatsache, dass Mexiko in diesen Jahren des gewaltsamen inneren Umbruchs, der politischen Instabilität und des Aufkommens virulent nationalistischer Strömungen aus der Sicht der USA die zentralen Grundlagen der nordamerikanischen open door-Strategie in Frage stellte. Tatsächlich wurde aber nordamerikanisches Eigentum - im Gegensatz zu jenem schwächerer Ausländerkolonien wie zum Beispiel der Spanier - in diesen Jahren kaum, oder dann lediglich kurzfristig, tangiert; und die nordamerikanischen Ölunternehmen erlebten gerade in diesen Jahren sogar einen eigentlichen Boom. Aber die unkontrollierbaren Entwicklungen in Mexiko erschienen den USA als eine derart grundsätzliche Bedrohung ihrer längerfristigen Interessen, dass sie alle verfügbaren Mittel - vom politisch-diplomatischen Druck über temporäre Handels- und Wirtschaftsboykotte bis hin zu militärischer Intervention - einsetzten, um die Entwicklung in Mexiko in ihrem Sinne zu kontrollieren und zu stabilisieren, ohne grossen Erfolg allerdings, wie wir gesehen haben.

In den zwei Jahrzehnten zwischen 1920 und 1940, in welchen sich in Mexiko das spätrevolutionäre Regime konsolidierte, veränderten sich der Charakter und die Intensität der Konflikte zwischen den beiden Staaten, da die USA nun zunehmend von militärischen Interventionsdrohungen und wirtschaftlichen Boykottmassnahmen Abstand nahmen. Zwar übten die USA zwischen 1920 und 1923 nochmals starken politischen und wirtschaftlichen Druck auf Mexiko aus, die Anwendung der nationalistischen Verfassungsbestimmungen von 1917, welche Öl- und Bergbauunternehmen sowie den Grossgrundbesitz bedrohten, gegenüber nordamerikanischen Eigentümern ausser Kraft zu setzen. Nachdem Mexiko 1923 in dieser Hinsicht gegenüber den USA zwar nicht de iure, wohl aber de facto erhebliche Konzessionen machte, entkrampfte sich das Verhältnis zwischen den beiden Staaten allerdings merklich. Die amerikanischen Ölgesellschaften bekämpften zwar nach wie vor die mexikanische Gesetzgebung und leisteten allen Versuchen des mexikanischen Staates, eine höhere Besteuerung der Ölwirtschaft durchzusetzen, hartnäckigen Widerstand; aber diese intransigente Position war bereits in den zwanziger Jahren nicht mehr typisch für die Haltung der in Mexiko engagierten amerikanischen Wirtschaftsinteressen insgesamt oder der US-Regierung.

Das "International Committee of Bankers on Mexico" zum Beispiel, das die Interessen der ausländischen, vorab auch europäischen Inhaber mexikanischer Staatsschuldtitel vertrat und dessen Politik massgeblich von nordamerikanischen Privatbanken wie zum Beispiel J.P. Morgan & Cie. bestimmt wurde, nahm gegenüber der mexikanischen Regierung eine viel flexiblere Haltung ein als die amerikanischen Ölgesellschaften. Einem ihrer führenden Exponenten, dem Bankier Dwight Morrow, später amerikanischer Botschafter in Mexiko, gelang es gar, Ende der zwanziger, anfangs der dreissiger Jahre eine freundschaftliche Beziehung zum mexikanischen Präsidenten Plutarco Elías Calles herzustellen und so massgeblichen Einfluss auf eine Korrektur der mexikanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik in Richtung auf einen konservativ-orthodoxeren Kurs zu nehmen.

Ungeachtet der auch in den zwanziger Jahren nach aussen vertretenen nationalistischen Politik der mexikanischen Regierung bedeutete dies in der Praxis keineswegs eine Eindämmung des ausländischen Wirtschaftseinflusses. Im Gegenteil: Im Gleichschritt mit der allgemeinen Entwicklung in Lateinamerika wuchsen auch in Mexiko bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in den dreissiger Jahren die Auslandsinvestitionen weiter an. Noch stärker als vor der Revolution dominierte dabei nordamerikanisches Kapital, das nun nicht mehr nur in den traditionellen Investitionsbereichen Bergbau, Erdölförderung, Landwirtschaft und public utilities angelegt wurde, sondern auch in neue Wirtschaftszweige wie den Handel und die verarbeitende Industrie - dort unter anderem durch die Gründung von Tochterfirmen und Montagewerken grosser nordamerikanischer Konzerne - vorstiess.

Nicht nur diese Entwicklung zeugte von einer Entkrampfung des mexikanisch-amerikanischen Verhältnisses, auch die Tatsache, dass die US-Regierung zwischen 1924 und 1929 während dreier grosser Armeerebellionen gegen die mexikanische Regierung diese unterstützte und den Aufständischen weder materielle noch politische Hilfe zukommen liess, macht deutlich, dass Mexiko und die USA einen modus vivendi gefunden hatten, der für beide Seiten akzeptabel war.

Hinzu kam, dass die temporäre oder permanente, legale oder illegale Auswanderung mexikanischer Arbeitskräfte in die USA letztlich ebenfalls den Interessen beider Seiten entsprach. Diese Auswanderung hatte schon im 19. Jahrhundert eingesetzt. Bei Ausbruch der Revolution 1910 hielten sich bereits mehr als 200'000 Mexikaner in den USA, vor allem im Südwesten, auf. Während der Revolution und in den zwanziger Jahren hielt die Auswanderung an und verstärkte sich noch, so dass 1926 die Zahl der in den USA ansässigen Mexikaner bereits auf etwa 1 Million geschätzt wurde. Während die USA vor allem an billigen Arbeitskräften interessiert waren, die zum grossen Teil als schlecht entlöhnte Landarbeiter in der boomenden kalifornischen Landwirtschaft beschäftigt wurden, wirkte die Auswanderung für Mexiko als eine Art Sicherheitsventil, da das Land nicht in der Lage war, in ausreichendem Masse produktive Arbeitsplätze für seine gesamte arbeitsfähige Bevölkerung bereitzustellen.

In den dreissiger Jahren prägten zwei gegenläufige Trends das Verhältnis zwischen Mexiko und den USA. Einerseits machten sich in den USA bereits in den zwanziger Jahren Tendenzen bemerkbar, die den Übergang von einer härteren zu einer sanfteren Linie aussenwirtschaftlicher Expansion andeuteten. In den dreissiger Jahren, unter der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts, erhielt diese neue Lateinamerikapolitik die Bezeichnung good neighbor-policy, also Politik der guten Nachbarschaft mit Lateinamerika. Der sozialreformerischen Ausrichtung des New Deal in der nordamerikanischen Innenpolitik entsprach seitens der USA eine neue Haltung gegenüber den lateinamerikanischen Nachbarn, welche eine verstärkte Berücksichtigung von deren eigenen Interessen in Aussicht stellte. Gegenüber Mexiko wurde dieser neue Kurs vor allem durch den von Roosevelt ernannten amerikanischen Botschafter Josephus Daniels vertreten, der die mexikanisch-amerikanischen Beziehungen nicht nur aus der Perspektive nordamerikanischer Interessen, sondern auch aus der Sicht berechtigter Anliegen Mexikos betrachtete.

Kam es so zu einer weiteren Entspannung im Verhältnis zwischen den USA und Mexiko, so belasteten andererseits vor allem zwei Entwicklungen in den dreissiger Jahren die zwischenstaatlichen Beziehungen. Zum einen begannen die USA unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise und stark steigender Arbeitslosigkeit im eigenen Land einen Grossteil der in den USA beschäftigten Mexikaner in ihr Heimatland abzuschieben, was in Mexiko die sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise weiter verschärfte. Andererseits kam es 1938 zur Nationalisierung der ausländischen Ölgesellschaften, welche das Verhältnis zwischen beiden Staaten einer harten Belastungsprobe unterwarf.

Als Hintergrund der Nationalisierung ist der in der Mitte der dreissiger Jahre eingetretene markante Kurswechsel der mexikanischen Revolution unter dem neuen Präsidenten Lázaro Cárdenas zu sehen. Mit Cárdenas kam damals jener Flügel der Revolutionsführung an die Macht, der sich stärker als die sozialkonservativeren Regierungen der zwanziger und frühen dreissiger Jahre mit den sozialreformerischen Zielen der Revolution identifizierte; zudem war der mexikanische Staat gegenüber den zwanziger Jahren wesentlich gefestigter und Cárdenas hatte bis 1938 auch seine innenpolitische Machtstellung konsolidieren können. Einerseits wurde in der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre in Mexiko eine tiefgreifende Agrarreform durchgeführt, andererseits machten sich nun wieder stärker wirtschaftsnationalistische Strömungen bemerkbar, die sich naturgemäss vor allem gegen die bedeutendste und am wenigsten kooperationswillige Bastion des Auslandskapitals, die praktisch vollständig von nordamerikanischen und britischen Gesellschaften dominierte Ölwirtschaft, richteten. Nicht nur innenpolitisch war 1938 ein günstiger Zeitpunkt für eine Nationalisierung der Ölwirtschaft, auch aussenpolitisch hatte sich der Spielraum für die Durchsetzung wirtschaftsnationalistischer Massnahmen beträchtlich erweitert. Dies nicht nur als Folge von Roosevelts good neighbor-policy, sondern vor allem auch im Zusammenhang mit der Zuspitzung der internationalen Krise im Gefolge der immer expansiveren Politik Japans in Ostasien und Deutschlands in Europa; unmittelbar vor der Nationalisierung waren die japanischen Invasoren in Shanghai und Nanking einmarschiert und hatte Hitler den "Anschluss" Österreichs an das "Dritte Reich" erzwungen. Cárdenas war sich durchaus darüber im klaren, dass die USA in dieser Situation, da sie sich mit Nachdruck um eine Intensivierung der inneramerikanischen Beziehungen bemühten, kaum einen offenen Bruch mit Mexiko oder gar eine bewaffnete Intervention riskieren würden.

In der Tat beschränkte sich die Reaktion der amerikanischen Regierung auf politischen Protest und die Forderung nach angemessener Entschädigung. Die enteigneten amerikanischen Gesellschaften antworteten zwar mit einem Boykott des mexikanischen Öls auf dem von ihnen kontrollierten Weltmarkt, eine militärische Intervention der USA stand dagegen nicht mehr zur Debatte.

Die Nationalisierung der amerikanischen Ölgesellschaften bedeutete einen letzten Höhepunkt im spannungs- und konfliktreichen Verhältnis zwischen den beiden Staaten in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Der bald darauf ausbrechende Zweite Weltkrieg und die insgesamt erfolgreichen Anstrengungen der USA, eine westliche Hemisphärenallianz gegen die Achsenmächte und Japan herzustellen, führten zu einer nachhaltigen Neuorientierung der Beziehungen auf Regierungsebene zwischen den USA und Mexiko, die zwar nicht frei von gelegentlichen kleineren Konflikten, im wesentlichen aber vor allem durch eine zunehmende Kooperation auf den verschiedensten Gebieten geprägt gewesen sind.

Dazu jetzt noch einige - notgedrungen skizzenhafte! - Ausführungen. Der Zweite Weltkrieg hat die Beziehungen zwischen den beiden Staaten insofern neu gestaltet, als nun eine enge Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet eingeleitet wurde. Grosse Bedeutung hatte auch das 1942 abgeschlossene Abkommen (bracero-Programm), das die amerikanischen Grenzen erneut für mexikanische Arbeitskräfte öffnete, welche angesichts der kriegsbedingten Anstrengungen und des Ausfalls der in die Armee eingezogenen Amerikaner in den USA dringend benötigt wurden. Die gemeinsame Kriegspartnerschaft mit den USA gegen die Japaner - die Mexikaner stellten ein kleines Luftwaffengeschwader, das auf amerikanischer Seite zum Einsatz kam - schuf das psychologische Klima zur Anerkennung der nordamerikanischen Führungsrolle und liess in Mexiko die traditionellen nationalistischen Aversionen in den Hintergrund treten.

Im wesentlichen hatte diese Konstellation auch nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand. Mitverantwortlich dafür war, dass die mexikanische Revolution nach 1940 gegenüber der sozialradikalen Phase unter Cárdenas nun einen grundsätzlich neuen, wesentlich konservativeren Kurs einschlug. Man kann sagen, dass die eigentliche Revolutionsphase 1940 abgeschlossen war; Mexiko trat nun in die Phase der sogenannten "institutionalisierten Revolution" ein, eine Selbstcharakterisierung des Regimes, dessen sprachlogischer Fragwürdigkeit durchaus tiefergreifende und reale Widersprüche entsprachen. Bis in die jüngere Vergangenheit - wenn auch in den letzten Jahren mit deutlich nachlassender Emphase und zunehmend geringerer Glaubwürdigkeit - hat sich die politische Führungsschicht zwar zum revolutionären Erbe und der damit verbundenen Verpflichtung zu sozialem Ausgleich und nationaler Selbstbestimmung bekannt, in der Praxis hat das PRI-Regime allerdings einen Kurs verfolgt, der zentral auf rasches wirtschaftliches Wachstum ausgerichtet war, auch wenn dieses, wie im übrigen Lateinamerika, mit einer sich verschärfenden sozialen Polarisierung verbunden war. Mexiko hat diesen Weg bis in die sechziger Jahre recht erfolgreich beschritten, im Rahmen des sogenannten milagro mexicano, dessen wirtschaftlicher Erfolg nicht zuletzt auf das besondere, aus der Revolution hervorgegangene, semikorporatistische und bis in die jüngste Vergangenheit erstaunlich stabile politische System zurückzuführen ist. Im Rahmen dieser Entwicklung bildete sich in Mexiko neben der traditionellen, vom Regime zumindest formal unabhängigen Wirtschaftselite eine neue Führungsschicht heraus, die über die Kontrolle der PRI, des Staates und des bis in die achtziger Jahre bedeutenden parastaatlichen Wirtschaftssektors die Geschicke des Landes massgeblich bestimmte und - mit zunehmenden Schwierigkeiten allerdings - weiter bestimmt. Diese neue mexikanische Elite erkannte sehr genau die Bedeutung intakter Beziehungen zu den USA als wesentliche Grundlage für die von ihr angestrebte und durchgesetzte wirtschaftliche Modernisierungsstrategie. Mexiko entwickelte sich seit dem Zweiten Weltkrieg, um es mit dem deutschen Politologen Manfred Mols auszudrücken, im "Sicherheitsschatten" der USA, wobei dieser Begriff nicht nur oder gar vorrangig die militärische Dimension meint, sondern sich vor allem auf die intensive wirtschaftliche Verflechtung beider Seiten oder die für Mexiko zentrale Bedeutung der USA als Destination für Millionen von mexikanischen Arbeitsemigranten bezieht.(4)

Die grundsätzliche Anerkennung dieser eindeutigen Abhängigkeit Mexikos von den USA und ihres Nutzens für die politisch-gesellschaftliche Stabilität südlich des Rio Grande seitens der mexikanischen Elite verhinderte allerdings nicht, dass Mexiko - unter Berufung auf seine nationale Souveränität - immer wieder eine von den aussenpolitischen Interessen der USA unabhängige und diesen zum Teil entgegengesetzte Aussenpolitik betrieb. Beispiele dafür waren etwa die - von den USA zumindest formal unabhängige - Kubapolitik anfangs der sechziger Jahre, die Haltung gegenüber der Allende-Regierung in Chile in den siebziger Jahren, die besondere Verfechtung von Anliegen der "Dritten Welt" unter Präsident Echeverría oder die mexikanische Zentralamerikapolitik in den siebziger und achtziger Jahren.

Diese - zum Teil demonstrative - Absetzung von Positionen der nordamerikanischen Lateinamerikapolitik vermag allerdings, ebensowenig wie die bis in die achtziger Jahre verfolgte Politik der Kontrolle von Auslandsinvestitionen, des Technologietransfers, der Eindämmung der Kapitalflucht und so weiter, zu verdecken, dass die Abhängigkeit Mexikos von den USA in den letzten Jahrzehnten immer stärker geworden ist. Dies äussert sich nicht nur in den seit dem Zweiten Weltkrieg erneut stark angewachsenen Auslandsinvestitionen, von denen bereits in den siebziger Jahren wieder ungefähr drei Viertel auf die USA entfielen, oder in der nach wie vor überaus ausgeprägten Aussenhandelsabhängigkeit Mexikos vom nördlichen Nachbarn; Ende der siebziger Jahre entfielen mehr als 70% der mexikanischen Exporte und annähernd 60% der Importe auf die USA. Die wohl wichtigste Dimension dieser wirtschaftlichen Abhängigkeit dürfte die ausländische, vorab nordamerikanische Finanzierung mexikanischer Wirtschafts- und Entwicklungsprojekte darstellen. Diese Problematik enthüllte ihre volle Brisanz, als Mexiko 1982 - nach einer vorangegangenen Phase beispielloser, durch die mexikanische Erdöleuphorie noch verstärkter Aussenverschuldung, hauptsächlich bei nordamerikanischen Banken - den Schuldendienst einstellen musste und damit eine internationale Finanzkrise auslöste. Ohne die Unterstützung durch die USA und die von den USA massgeblich beeinflussten internationalen Organisationen, wie etwa den IWF, hätte Mexiko diese Krise - zumindest was die Aufrechterhaltung seiner internationalen Kreditfähigkeit betraf - nicht bewältigen können. Hier zeigte sich besonders deutlich, was Manfred Mols allgemein formuliert hat, dass nämlich die USA bezüglich Mexikos "zur schlechthin entscheidenden Regimestütze überhaupt geworden" sind.(5)

Dass die Verschuldungskrise zum Auslöser einer tiefen Wirtschaftskrise in Mexiko in den achtziger Jahren mit einer gewaltigen sozialen Belastung vor allem der Unter- und Mittelschichten geworden ist, will ich hier nicht näher ausführen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass gerade in dieser Situation einer akuten sozialen Krise die Möglichkeit fortgesetzter Arbeitsemigration von Mexikanern in die USA (als ein wiederum externer Stabilisierungsfaktor) von grösster Bedeutung war. Allein die illegalen Grenzüberschreitungen von Mexikanern in die USA wurden in der Mitte der achtziger Jahre auf ungefähr eine Million pro Jahr geschätzt, was unter Berücksichtigung einer periodischen Rückwanderung immerhin einer jährlichen Netto-Auswanderung von etwa 300'000 bis 500'000 Mexikanern in die USA entsprach.

Damit verstärkte sich noch jene rasch wachsende Kolonie von Hispanics in den USA, deren Zahl Ende der achtziger Jahre bereits auf etwa 35 Millionen geschätzt wurde, und die vor allem im mexikanisch dominierten Südwesten der USA längst zur bedeutendsten ethnischen Minorität, in gewissen Orten und counties bereits zur Majorität geworden sind; eine Art friedlicher reconquista jener Gebiete, welche den Mexikanern um die Mitte des letzten Jahrhunderts von den USA entrissen wurden!

Um auf Mexiko zurückzukommen: Obwohl die PRI, also die Revolutionspartei, die politische Macht auf nationaler Ebene bis heute hat bewahren können, kann man seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eine sukzessive Abkehr von den revolutionären Legaten beobachten. Es macht den Anschein, dass sich auch in Mexiko der im frühen 20. Jahrhundert einsetzende Revolutionszyklus immer mehr seinem Ende zuneigt, wenn auch nicht in vergleichbar dramatischen Formen, wie dies zum Beispiel in der ehemaligen Sowjetunion der Fall war. Die Agrarreform, ein Eckstein der Revolutionsprogrammatik, wurde anfangs der neunziger Jahre offiziell beendet; das grossangelegte Privatisierungsprogramm, vor allem unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas, hat einen weiteren Kernbereich der revolutionären Entwicklungsstrategie, die enge Verflechtung von Staat und Wirtschaft, erschüttert; schliesslich ist die Struktur des von der PRI beherrschten, auf korporatistischer Kontrolle beruhenden politischen Systems, die eigentliche Basis des Regimes der "institutionalisierten Revolution", heute vielfältigen Erosionsprozessen und einer kritischen öffentlichen Diskussion ausgesetzt, wie dies bislang in dieser Intensität noch nie der Fall war.

Auch in den Beziehungen nach aussen hat sich seit den späten achtziger Jahren eine deutliche Abkehr von wirtschaftsnationalistischen Positionen, einem weiteren Legat der Revolution, ergeben. Die "Öffnung" der mexikanischen Wirtschaft setzte 1986 mit dem Beitritt zum GATT ein, womit der Zollschutz, hinter welchem sich die Import-Substitutions-Industrialisierung Mexikos vollzogen hatte, rasch abgebaut wurde. Ein noch weitergehender Schritt war schliesslich der 1993 vollzogene Beitritt Mexikos zum NAFTA, dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen, welcher nicht nur das Ende des Wirtschaftsnationalismus, sondern mehr noch, wie einleitend angedeutet, Mexikos Aufstieg aus der "Dritten" in die "Erste" Welt symbolisieren sollte.

Dieser Aufstieg ist bis heute nicht geglückt. Die wirtschaftliche Modernisierung hat - bei allen Erfolgen in Teilbereichen - die gesellschaftliche Polarisierung, die sich in den achtziger Jahren erneut akzentuiert hat, ebensowenig überwinden können wie die weitergehende Marginalisierung bedeutender, hauptsächlich ländlicher Bevölkerungsgruppen, die durch den spektakulären Aufstand in Chiapas auch wieder ins Bewusstsein jener Modernisierungsstrategen gerufen wurde, welche dieses unterschwellig natürlich schon vorher existierende Problem bereits abgeschrieben hatten. Auch die akute politische Systemkrise, das heisst die grossen Schwierigkeiten, das PRI-Regime durch eine wirklich demokratische Ordnung abzulösen, macht deutlich, dass die tieferliegenden strukturellen Probleme in der mexikanischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nicht durch einen einmaligen Kraftakt, wie die Öffnung der mexikanischen Wirtschaft oder den Beitritt zum NAFTA, zu beheben sind.

Um abschliessend nochmals das Verhältnis der beiden Staaten in historischer Perspektive aufzugreifen: Ich habe darauf hingewiesen, dass es sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts gewandelt hat: Die anfänglich virulenten Konflikte haben zunehmend einer Kooperation zwischen beiden Staaten Platz gemacht. Der Ausdruck Kooperation könnte allerdings zu sehr einen wirklich partnerschaftlichen Charakter dieser Beziehungen suggerieren. So sehr solche partnerschaftliche Elemente in den zwischenstaatlichen Beziehungen durchaus vorhanden sind, so unübersehbar ist natürlich die fundamentale Tatsache, dass die Beziehungen zwischen beiden Staaten nach wie vor einen ausgeprägt asymmetrischen Charakter aufweisen. Die USA sind - auf den verschiedensten Gebieten - der starke, Mexiko ist der schwache Partner. Auch wenn Mexiko für die USA eine besondere Bedeutung zukommt als einem der wichtigsten Handelspartner, im Hinblick auf die mexikanische Kolonie in den USA, oder - wie sich jüngst zeigte - im Zusammenhang mit der auf die USA ausstrahlenden Währungs- und Finanzkrise Mexikos - die umgekehrte Beziehung, also der Einfluss der USA auf Mexiko, ist, wie weiter oben angedeutet wurde, ungleich gewichtiger. Um es in einem etwas gewagten Bild auszudrücken: Dem von den USA ausgehenden Gravitationsfeld wird sich Mexiko auch in Zukunft nicht entziehen können.


Anmerkungen:

  1. Vgl. Tobler, H.W. Die mexikanische Revolution. Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch, 1876-1940. Frankfurt a.M., 1984.
  2. Smith, R.F. The United States and Revolutionary Nationalism in Mexico, 1916-1932. Chicago, 1972, S. 31.
  3. Katz, F. The Secret War in Mexico. Europe, the United States and the Mexican Revolution. Chicago, 1981, S. x.
  4. Mols, M. Mexiko im 20. Jahrhundert. Politisches System, Regierungsprozess und politische Partizipation. Paderborn, 1981.
  5. Mols, M. Op. cit. S. 163.


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