POLITISIERUNG  DER  RELIGION

Sicherheitspolitik im Zeichen des islamischen Fundamentalismus

von Bassam Tibi

Mit dem Verschwinden der zweigeteilten Welt des Kalten Krieges und mit dem Ende der Bipolarität trat der ersehnte Weltfrieden nicht ein. Neue Konflikte und neue Kräfte - vor allem Fundamentalismus und Ethnizität - machten sich bemerkbar. Benötigt die Weltpolitik angesichts der eingetretenen Veränderungen ein neues Sicherheitskonzept? Obwohl wir es heute mit einer anderen Weltpolitik zu tun haben, antworten nicht alle Politiker und Experten darauf mit einem klaren Ja; viele meinen, dass der Fundamentalismus eine vorübergehende, rein tagespolitische Angelegenheit sei. Indes haben alle aktuellen internationalen Konflikte in der Welt entweder mit Fundamentalismus oder Ethnizizät oder mit einer Mischung aus beiden, dem Ethno-Fundamentalismus, zu tun. Die Denkmuster der alten Sicherheitspolitik vemögen keine angemessenen Antworten auf diese neuen Herausforderungen zu geben.

Zwischen Fundamentalismus und Sicherheitspolitik besteht also ein Zusammenhang, bei dessen Beschreibung es indessen nicht um die Religion des Islam geht. Mit dem Islam als Religion kann man einen Dialog führen; der islamische Fundamentalismus hingegen ist ein Gegenstand der Sicherheitspolitik. Ist der Islam eine Weltreligion, deren Anhänger ein Fünftel der Weltbevölkerung (1,3 Milliarden Menschen) ausmachen, so handelt es sich beim islamischen Fundamentalismus um eine politische Bewegung, die die Religion für nichtreligiöse Belange instrumentalisiert und missbraucht.

Ausgehend von der Unterscheidung von Islam und Islamismus und der Definition des letzteren als religiösem Fundamentalismus und von der Überzeugung, dass die fundamentalistischen Bewegungen die Welt- und die Sicherheitspolitik angehen, sollen im folgenden vier Gedankengänge mit entsprechend zugespitzten Thesen entwickelt werden.

Islam als Religion

Die erste These besagt, dass der Islam eine Religion und Zivilisation ist, aber kein geeigneter Gegenstand für die Sicherheitspolitik.

Der Islam hat mit Sicherheitspolitik nichts zu tun; er ist eine monotheistische Religion, die auf einer göttlichen Offenbarung beruht. Die Faktizität der islamischen Weltreligion und -zivilisation drückt sich auf der religiösen Ebene im Vorhandensein einer großen religiösen Vielfalt aus. Damit ist die Binnendifferenzierung im Islam in Sunna/Schi'a, verschiedene Konfessionen und unzählige Sekten gemeint. Auch kulturell zeichnet sich der Islam durch zahlreiche Spielarten aus. So ist der afrikanische Islam anders als der südostasiatische oder der Indo-Islam, ganz zu schweigen von seiner ursprünglichen, arabischen Spielart. Die religiöse und kulturelle Vielfalt im Islam drückt auch dem Fundamentalismus ihren Stempel auf.

Zur Illustration:
Allein in einem islamischen Land, in Indonesien, gibt es 300 verschiedene Lokalkulturen. Dennoch sind die lokalkulturell unterschiedlichen Spielarten des Islam einander keineswegs fremd, weil sämtliche Muslime eine im wesentlichen gemeinsame Weltsicht teilen. Dieser Tatbestand bildet die Grundlage für das Vorhandensein einer islamischen Zivilisation, deren Anschauungen allen Muslimen gemein sind. Dies macht jedoch aus dem Islam keinen Monolithen, geschweige denn eine sicherheitspolitisch relevante Größe. Der Dialog zwischen den Zivilisationen kann das Parallelprogramm zur Sicherheitspolitik sein, mit dem den Fundamentalisten das Handwerk gelegt wird.

Kurzum:
Die Beschäftigung mit dem Islam im Kontext der Sicherheitspolitik bezieht sich nicht auf einen angenommenen Monolithen, sondern auf politische Bewegungen, die sich religiös legitimieren und einerseits Ordnungsvorstellungen verfolgen, andererseits irregulären Krieg führen. Wenn sicherheitspolitische Experten leider ohne intime Kenntnis des Islam die fragwürdige These aufstellen, der als vermeintliche Handlungseinheit verstandene Islam sei eine Bedrohung für den Westen, dann gilt es mit genauen Analysen aufzuklären. Samuel P. Huntington z.B. erkennt zwar richtig, dass Kulturen und Zivilisationen eine zunehmend wichtige Rolle in der internationalen Politik spielen. Sein großes Problem besteht aber darin, zu glauben, dass Zivilisationen weltpolitische Konflikte austragen könnten. Huntington versucht, diese problematische Annahme durch den Begriff des "core state" (Kernstaats) zu verschleiern. Er unterstellt, dass Zivilisationen in der internationalen Politik von einem Kernstaat angeführt werden. In bezug auf den Islam entspricht dies nicht der Realität. Huntington muss in seinem Buch einräumen, dass es weder gegenwärtig noch in der Zukunft möglich sein wird, dass einer der 55 islamischen Staaten die gesamte islamische Zivilisation führen kann, bleibt aber in seiner Analyse des Zivilisationskonflikts der staatlichen Ebene verhaftet. Er beschränkt die sicherheitspolitischen Fragen auf islamische Staaten bzw. ihre Zivilisation; doch sind die Fundamentalisten irreguläre Krieger. Sie und nicht die Staaten sind der zentrale Gegenstand heutiger Sicherheitspolitik.
Ausgangsposition ist die Annahme, dass die Weltanschauungen der Zivilisationen heute eine größere Rolle in der Weltpolitik spielen als bisher. Unter Krieg wird hier, im Gegensatz zu Huntington, jedoch nicht eine militärische Auseinandersetzung zwischen Staaten verstanden. Die These lautet vielmehr, dass der Krieg der Zivilisationen ein Krieg der Weltanschauungen ist, bei dem es um die Anerkennung von Normen und Werten als Orientierung und somit als Ordnungsfaktor der Weltpolitik geht. Wertekonflikte haben nichts mit Armeen, sondern mit sozialen Konflikten zu tun, die sich aber nicht minder globalisieren können. Plädiert wird für den Kulturdialog als einer Friedensstrategie für das 21. Jahrhundert . Fundamentalisten dagegen politisieren die weltanschaulichen Differenzen zwischen den Zivilisationen und heizen damit die Konflikte an.
Die erste These beinhaltet folglich die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus und die Feststellung, dass die neue Sicherheitspolitik zwei Ebenen hat: einmal Wertekonflikte, die politische Auswirkungen haben, aber nicht mit militärischen Mitteln beigelegt werden können, und zweitens die Gewalt der Fundamentalisten. Es ist sehr wichtig, zwischen beiden Ebenen zu unterscheiden.

Fundamentalismus als Ideologie

Die zweite These besagt, dass der Fundamentalismus eine politische Ideologie ist - die Politisierung der Religion ist keine ausschließlich islamische Erscheinung.

Im Rahmen der sicherheitspolitischen Problematik des Fundamentalismus müssen zwei Differenzierungen vorgenommen werden: Danach gelangen erstens alle Fundamentalismen über die Politisierung der Religion zu Ordnungsvorstellungen, die neue Herausforderungen an die bestehenden Ordnungen stellen. Es bleibt zweitens nicht bei dieser weltanschaulichen Konfrontation; die Gewaltanwendung im Rahmen irregulärer Kriegshandlungen, sprich: des Terrorismus, ist eine Materialisierung der weltanschaulichen Konfliktpotenziale.

Die Politisierung von Religion durch die Fundamentalisten richtet sich gegen den säkularen Nationalstaat, und dies bringt einen weltanschaulichen Konflikt in Bezug auf Ordnungsvorstellungen zum Ausdruck. Mark Juergensmeyer spricht in diesem Zusammenhang von einer Konfrontation, die zu einem "New Cold War" führt. Wenn Fundamentalisten diesen weltanschaulichen Konflikt im Rahmen von irregulären Kriegshandlungen austragen, dann entsteht eine Verbindung zur zweiten, in der Zusammenfassung der ersten These genannten Ebene der aus der Politisierung der Religion resultierenden sicherheitspolitischen Problematik.

Zur zweiten These gehört die Erkenntnis, dass die Politisierung der Religion nicht ausschließlich den Islam betrifft. Es ist zu beklagen, dass bei dem Gedanken an den Fundamentalismus viele Europäer sogleich an den Islam denken, weil die westlichen Medien fast auschließlich von den Terrorakten islamischer Fundamentalisten berichten. Es sind nur wenige Berichte bekannt über die Zerstörung der Ayodhya-Moschee in Indien durch Hindu-Fundamentalisten oder ähnliche Terrorakte von Fundamentalisten anderer Religionen – z.B. jüdischer Siedler in den besetzten Gebieten Palästinas.
Keineswegs geht es hier um eine Verharmlosung der islamischen Fundamentalisten, wohl aber darum, auf den Zusammenhang von drei zentralen Fakten aufmerksam zu machen.

Erstens ist Fundamentalismus als eine Politisierung der Religion und somit der weltanschaulichen Differenzen zwischen den Zivilisationen eine globale Erscheinung, die in fast allen Weltreligionen anzutreffen ist. Alle seine Spielarten weisen eine gewisse "Familienähnlichkeit" auf. In der Regel ist der Fundamentalist - obgleich von einem dualen Charakter - mehr Homo politicus denn Homo religiosus. So gefährlich Fundamentalisten auch sein können, mit Armeen kann man sie nicht bekämpfen, weil sie in der überwältigenden Mehrheit eben nicht mit konventionellen militärischen Mitteln operieren. Der Umgang mit ihnen erfordert eine neue Sicherheitspolitik, die nicht mehr auf den Staat fixiert ist und das vorrangig militärische Denken überwindet.
Zweitens ist der Fundamentalismus in allen Religionen eine auf einer Gottesordnung basierende Weltanschauung. Die Mehrheit der Fundamentalisten kämpft politisch für dieses Ziel, nur eine Minderheit unter ihnen entscheidet sich für Gewalt und Terrorismus, um diese Ordnungsvorstellung zu realisieren. Somit ist es empirisch einfach falsch, Fundamentalismus mit Terrorismus gleichzusetzen. Daraus folgt: Gewalt ist nur ein Aspekt des Fundamentalismus; seine weltanschaulichen Ordnungsvorstellungen und die politisierten Wertekonflikte, die in diesem Zusammenhang stehen, sind weit wichtiger.
Drittens bevorzugen bestimmte Europäer in Bezug auf die Politisierung des Islam wohlmeinend den Begriff Islamismus, nicht variierend, sondern alternativ zum Terminus islamischer Fundamentalismus. Dahinter steht die Intention, dem Vorwurf der Verbreitung von Vorurteilen zu entgehen, die mit dem schon zum Klischee gewordenen Fundamentalismusbegriff verbunden sind. Damit vermehren sie aber ungewollt eher die Stereotype vom Islam. Denn mit der ausschließlichen Wahl der Bezeichnung "Islamismus" für dieses Phänomen beschränken sie die Politisierung der Religionen allein auf den Islam, womit sie den globalen Charakter dieser Erscheinung unterschlagen.

Fundamentalismus und Sicherheitspolitik

Die dritte These lautet, dass der Fundamentalismus als Gegenstand der neuen Sicherheitspolitik "new Frontiers of Security" erfordert.

Dies beinhaltet die Forderung, das traditionelle Verständnis militärisch dominierter Sicherheitspolitik zu überwinden. Dieser Auffassung liegt die Beobachtug zugrunde, dass nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem fast völligen Verschwinden von militärischen Auseinandersetzungen zwischen organisierten, institutionalisierten Armeen, d.h. von zwischenstaatlichen Kriegen, viele Zusammenhänge neu durchdacht werden müssen. Sicherheitsexperten haben die Berücksichtigung des Wandels gefordert und den bereits hervorgehobenen Bedarf nach einer neuen Sicherheitspolitik unterstrichen. Pionierarbeit haben hierbei Barry Buzan sowie später Martin van Creveld und Kalevi Holsti geleistet, die das Ende des Clausewitzschen Krieges als eine Auseinandersetzung zwischen institutionalisierten Armeen angekündigt haben. Nichtmilitärische Aspekte treten immer mehr in den Vordergrund und avancieren zu zentralen Gegenständen der Sicherheitspolitik. Nur in diesem Sinne ist auch der religiöse Fundamentalismus ein Gegenstand dieses erweiterten Begriffs von Sicherheitspolitik.

Wie etwa die Beispiele Algerien, Ägypten, Israel, Afghanistan und neuerdings Kosovo unter Beweis stellen, sind organisierte Armeen gegenüber den Terrorakten von gewalttätig agierenden Fundamentalisten oder ethnischen Nationalisten hilflos. Das Kosovo-Beispiel zeigt, dass die NATO mit ihren Waffenarsenalen die serbische Armee bezwingen, nicht aber die muslimischen Irregulären der UÇK bei ihren Racheakten an Christen unter Kontrolle bringen konnte.

Jedes sicherheitspolitische Konzept zur Bekämpfung des Fundamentalismus sollte sich davor hüten, die politischen Aktivisten der neuen Strömung mit dem Islam gleichzusetzen. Diese Unterscheidung ist besonders wichtig in bezug auf die Islam-Diaspora in Europa. Gelingt diese Unterscheidung zwischen der Religion des Islam und ihrem fundamentalistischen Missbrauch nicht, dann leistet man den Islamisten in ihrem Bemühen, die islamische Diasporagemeinde in ein Aktionsfeld für ihre politische Tätigkeit zu verwandeln, und ihrem Anspruch, Sprecher des Islam als solcher zu sein, einen großen Dienst. Die Logistik der islamischen Fundamentalisten im Westen ist zu einem wichtigen Bestandteil dieser Bewegung geworden.

Umgang mit dem Fundamentalismus

Die vierte These schließlich besagt, dass nur in Zusammenarbeit mit islamischen Ländern europäische Staaten lernen können, mit dem Phänomen des islamischen Fundamentalismus umzugehen.

Bei jeder Debatte über die neue Sicherheitspolitik muss bedacht werden, dass das Asylrecht zu einem Instrument von Fundamentalisten und Ethno-Nationalisten geworden ist, mit der Folge, dass diese Bewegungen ihre Logistik in Europa haben. Auf dem Antiterrorgipfel im ägyptischen Scharm el-Scheich im März 1996 haben islamische Staatschefs gegen den Versuch ihrer westlichen Amtskollegen, den Begriff "islamischer Terrorismus" in das Schlusskommuniqué einzufügen, argumentiert, dass der Islam den Terrorismus verabscheue und dieser deshalb kein islamisches Gesicht haben könne. Zugleich haben sie die Europäer aufgefordert, islamischen Fundamentalisten nicht im Namen des politischen Asyls Zuflucht zu gewähren. Ein französischer Beobachter der Szene prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der "democracy against itself".
In der Welt des Islam wird die inkonsistente europäische Politik der Verteufelung des Islam durch seine Gleichsetzung mit Fundamentalismus und Terrorismus parallel zum "Gewährenlassen der Fundamentalisten" auf europäischem Boden als Heuchelei wahrgenommen. Auch hat man dort nicht vergessen, dass ein Großteil der terroristisch aktiven Fundamentalisten während des Afghanistan-Krieges vom amerikanischen Geheimdienst CIA ausgebildet worden ist. Während man beispielsweise in den Vereinigten Staaten von der "islamischen Gefahr" redete, unterstützten die Amerikaner in den Anfängen dieses Krieges über den pakistanischen Geheimdienst die radikalsten und intolerantesten aller islamischen Fundamentalisten, die Taliban. Diese haben sich gegenüber den USA genauso verselbstständigt, wie vor ihnen die "arabischen Afghanen".
In der Tat sind islamische Fundamentalisten eine Gefahr für die Demokratie im Westen und speziell für Europa, nicht so sehr durch den Terrorismus, sondern vielmehr durch den Missbrauch der Islam-Diaspora und die Verhinderung der Integration der Muslime. Hierdurch können Kulturghettos entstehen, die auf lange Sicht Quellen sozialer Konflikte sein werden. Aus diesem Grund besteht dringender Handlungsbedarf von seiten der politischen Entscheidungsträger. Wird dieser Bedarf nicht erfüllt, muss man sich in Westeuropa bald auf bosnische Verhältnisse gefasst machen. Hierüber zu informieren ist Aufklärung und keine Panikmache.

Als Beispiel für die sicherheitspolitische Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen westlichen und islamischen Ländern zur Bekämpfung des Terrorismus der Islamisten soll hier der Plan islamistischer Terrororganisationen, auf einem Großkongress in London 1996 eine "Islamische Internationale" zu gründen, angeführt werden. Erst der intensive Druck Ägyptens sowie anderer arabischer Länder hat die britische Regierung damals bewogen, diesen Kongress zu verbieten.

Fazit

In dem bisher Gesagten wurde der Versuch unternommen, die sicherheitspolitischen Konsequenzen der Politisierung der Religion aufzuzeigen sowie ein Bild ihrer verschiedenen Erscheinungsformen im internationalen Kontext zu vermitteln. Abschließend sollen vier in diesen Rahmen einzuordnende Problembereiche angesprochen und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden.

Erstens:
Die in der Regel nicht sozialwissenschaftlich, sondern philologisch ausgebildeten westlichen Islamkundler weisen mit Recht auf die Vielfalt im Islam hin. Daraus ziehen sie jedoch die falsche Schlussfolgerung, generalisierende Urteile nicht zuzulassen. Das mag in der Philologie richtig sein, nicht aber in Politik und Gesellschaft - in diesen Bereichen ist es eindeutig falsch, so zu argumentieren. Auf der Basis von Sachkenntnis ist Generalisierung bis zu einem bestimmten Grad möglich und sogar erforderlich, andernfalls setzte man sich der Gefahr aus, das wahre Problem nicht zu erkennen. Die Welt des Islam ist sehr vielfältig, aber die Vielfalt gehört zu einem Gesamtspektrum, das islamische Zivilisation genannt werden soll. Entsprechend ist auch der Islamismus vielfältig und doch ein einheitliches Phänomen. Hinzu kommt, dass man mit Philologie weder das Phänomen des Fundamentalismus noch seine sicherheitspolitische Dimension verstehen kann. Darin liegen die Grenzen der westlichen Islamwissenschaft.

Zweitens:
Der Fundamentalismus resultiert sowohl aus einer Sinnkrise wie einer strukturellen Krise, zu der ganz wesentlich die materielle Verelendung der Bevölkerung in weiten Teilen der Welt gehört. In diesem Umfeld wirkt der Fundamentalismus als eine Heilsideologie, die ein besseres Leben in Aussicht stellt, indem sie glorreiche Versprechen macht. Die Terroristen sind eine Minderheit unter den Fundamentalisten; dabei handelt es sich zumeist um Jugendliche ohne Perspektive, die in den Sumpf des Untergrundterrorismus geraten und dabei glauben, im Namen und Interesse des Islam zu handeln. Als Laien, die mit islamischen Lehren wenig vertraut sind, verkennen sie, dass sie mit ihrem Handeln alle islamischen Normen und Werte verletzen.

Drittens:
Es ist nobel und sehr begrüßenswert, über Vorurteile und das "Feindbild Islam" aufzuklären und gegen die damit verbundenen Klischees vorzugehen, doch sollte man auch reale Konflikte sowie deren Ursachen untersuchen. Die Auseinandersetzung mit der Migration von Muslimen nach Europa und den Konfliktpotenzialen, die mit ihr verbunden sind sowie die Aufklärung über den Missbrauch des Asylrechts durch islamische Fundamentalisten steht nicht im Widerspruch dazu, den Dialog mit anderen Kulturen anzustreben und Islam-Feindbilder zu bekämpfen. Beide Felder werden bedauerlicherweise oft miteinander verwechselt.

Viertens:
In Europa ist es wichtig, eine aufgeklärte Version des Islam in der Tradition des "offenen Islam" der mittelalterlichen Blütezeit des islamischen Rationalismus unter den muslimischen Migranten zu verbreiten. Dieser Euro-Islam, gepaart mit einer Politik der Integration, ist das beste Mittel gegen die Ausbreitung des Islamismus in der europäischen Islam-Diaspora. Muslime als Mitbürger sind bessere Partner als Muslime, die zum Gegenstand einer Sicherheitspolitik gemacht werden müssen. Es ist deshalb kein Widerspruch, gegen die Logistik islamischer Fundamentalisten in Europa vorzugehen bzw. über die totalitären Ordnungsvorstellungen der Islamisten aufzuklären und gleichzeitig Muslime als Bürger zu integrieren. Für Europa wird es eine heikle Aufgabe bleiben, die innenpolitischen und weltpolitischen Vernetzungen des islamischen Fundamentalismus voneinander zu trennen.


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