Juden im Mittelalter: Taufe oder Tod

von Walter Saller (GEO EPOCHE Nr. 20 - 11/05)

(mit einer Nachbemerkung von N. Dikigoros)

Im 11. Jahrhundert sind Speyer, Worms und Mainz geistige und wirtschaftliche Zentren der Juden Mitteleuropas. Doch als der Papst zum Kreuzzug aufruft, stellt schon bald ein aufgehetzter Mob die Juden vor die Wahl: Taufe oder Tod

Ihr Gott ist der Schöpfer der Welt und der Herr der Geschichte. Er ist transzendent und unfassbar. Aber sie besitzen Gottes Wort: die Tora. Und Sein Wort, Sein Gesetz beherrscht auch das Leben der Juden am Rhein. Nach Schätzungen heutiger Forscher hat Mainz im frühen 11. Jahrhundert mindestens 6000 bis 7000 Einwohner, darunter etwa 600 oder 700 Juden. Als Fernkaufleute haben die Mainzer Juden über ihre Glaubensbrüder im islamischen Teil Spaniens, in Sizilien, in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten Zugang zu den großen Handelsrouten des Orients - zur Seidenstraße nach Indien und China und zur Weihrauchstraße, die vom Mittelmeer nach Südarabien führt.

Juden als Kaufleute und Händler

So versorgen die jüdischen Kaufleute das Rheinland mit den Luxuswaren des Orients. Mit Perlen, Seide und Brokat, mit Weihrauch und exotischen Gewürzen. Doch längst nicht alle Juden sind Händler; manche stehen etwa als Lehrer oder Schreiber im Dienste ihrer Gemeinde, andere arbeiten als Arzt oder Viehdoktor. Wieder andere sind Gehilfen reicher Kaufleute, koschere Schlachter, Winzer oder Bäcker - oder sie üben in Städten, wo sie nicht durch Verbote gehindert werden, ein anderes Handwerk aus.Viele der jüdischen Händler zu Mainz sind wohlhabend. Manche sogar so reich, dass sie in der Art von Bankiers Geld gegen Zinsen zur Finanzierung aufwendiger kirchlicher und weltlicher Bauten zur Verfügung stellen.

Hohes Bildungsniveau

Im Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit der christlichen Bevölkerung können fast alle Juden, Männer wie Frauen, lesen und schreiben. Einige beherrschen überdies mehrere Sprachen.Vom Mainzer Erzbischof, dem Herrn ihrer Stadt, sind die Juden als Gemeinde anerkannt. Ihr Viertel liegt im Herzen der Ortschaft, mitten zwischen Kirchen, Klöstern und Märkten. Es trägt den Namen "Unter den Juden". An den rechten Türpfosten der jüdischen Häuser sind kleine Kapseln mit winzigen Pergamentrollen angebracht - beschrieben mit Versen aus dem fünften Buch des Moses. "Und du sollst sie auf deines Hauses Pfosten schreiben und an die Tore."

Eine Stadt in der Stadt

Im Judenviertel mit seinen kleinen Häusern stehen die Synagoge, die Jeschiwa des Rabbi Gerschom ben Jehuda und das Wohnheim für Talmudstudenten. Es gibt ein kaltes Tauchbad zur rituellen Reinigung und ein Warmbad für die körperliche Hygiene. Dazu ein Hospital, das Schlachthaus zum Schächten der Tiere, die Bäckerei und das Tanzhaus für Familienfeiern und Feste der Gemeinde. Das jüdische Viertel zu Mainz ist praktisch eine Stadt in der Stadt. Selbstverwaltet von einem Ratsgremium, das meist aus zwölf Mitgliedern besteht und in der Regel von allen jüdischen Männern gewählt wird. Den Vorsitzenden der Gemeinde bestimmen die zwölf Ratsvertreter aus ihrer Mitte - ebenso die Richter, welche über die innerjüdischen Rechtsfälle zu entscheiden haben. Darüber hinaus ist das Gremium verantwortlich für das Entrichten der Steuern an die christliche Obrigkeit von Mainz.

Zwischen Juden und Christen herrscht reger Austausch

Im 11. Jahrhundert müssen Juden keine diskriminierende Kleidung tragen. Sie sind weder besonderen Handelsbeschränkungen unterworfen, noch ist es ihnen verboten, Grund und Boden zu erwerben. Und zwischen Juden und Christen gibt es über viele Jahre zahllose Kontakte. Christen kaufen die Waren des Orients bei Juden. Juden Dinge des täglichen Bedarfs bei Christen. In jüdischen Haushalten arbeiten christliche Diener, jüdische Ärzte kurieren Christen, und auf den Straßen gehören Juden zum alltäglichen Bild - zumindest in den drei Bischofsstädten Mainz, Speyer und Worms.

Doch sind sie praktisch rechtlos jeder fürstlichen Willkür ausgesetzt. So ordnet König Heinrich II. im Jahre 1012 an, diejenigen Mainzer Juden zu vertreiben, die sich nicht taufen lassen wollen. Den Vertriebenen wird zwar bald die Rückkehr gestattet. Aber manche Mitglieder der jüdischen Gemeinde haben sich dem massiven Druck des Monarchen gefügt und die Taufe auf sich genommen. Darunter sogar ein Sohn von Rabbi Gerschom ben Jehuda. Solche Akte der Willkür führen den Juden eindringlich vor Augen, dass sie einer kleinen und nur geduldeten Minderheit angehören, der gelegentlich offener Hass entgegenschlägt. Woher rührt dieser Hass? Und was befeuert ihn?

Die Juden verkörpern das Fremde schlechthin

Ist es die christliche Vulgärpropaganda, die behauptet, die Juden - alle Juden - seien die Mörder Gottes? Oder mehr die beharrliche Weigerung der Juden, Jesus Christus als Messias und Gottes Sohn anzuerkennen? Ist es ihre unerschütterliche Gewissheit, das von Gott auserwählte Volk zu sein? Die Tatsache, dass sie in manchen ihrer polemischen Schriften Christus als "gehängten Bastard" bezeichnen, die Kirche als "Haus der Unreinheit" und die Taufe als "Beschmutzung"? Oder einfach der Umstand, dass viele von ihnen reicher sind als die meisten der Christen und auch gebildeter? All dies mag den Hass mancher Christen zwar entzünden - doch wie ein Sturm das Feuer facht den Hass vermutlich vor allem die Tatsache an, dass die Juden in der geschlossenen Welt der Christen das Fremde schlechthin verkörpern. Das Unbekannte. Das Bedrohliche.

Die Juden beten angeblich zu einem anderen Gott als die Christen, einem älteren Gott, dessen Namen sie niemals aussprechen. Sie haben eine andere Zeitrechnung und leben bereits am Ende ihres fünften Jahrtausends. Ihr Jahr, das im Herbst beginnt, berechnen sie nach den Mondphasen und dem Lauf der Sonne zugleich. Und ihre Monate tragen archaische babylonische Namen wie Tischri, Siwan, Kislew oder Tammuz.Sie feiern auch andere Feste als die Christen. Jom Kippur, Sukkot, Chanukka, Passa. Unbeirrbar heiligen sie den Sabbat und nicht den Sonntag. Sie meiden vielerlei Nahrung der Christen, schächten ihr Schlachtvieh und trennen ihre Küche nach Milch und Fleisch. Sie schreiben auch in einer anderen Schrift - und das von rechts nach links.

Wahrscheinlich empfinden im 11. Jahrhundert selbst gebildete Christen die Juden nicht zuletzt deshalb als fremd und als bedrohlich, weil sich deren Religion, ihr Geist und ihre Ideen in Zeichen äußern, welche die Christen nicht zu entziffern vermögen.

Der Hass keimt auf

Die Juden werden zunächst wohl gelegentlich verspottet, verlästert und verleumdet: Sie stinken angeblich, sind, so erzählt man, falsch, treulos, hässlich, verschlagen, hinterhältig oder geldgierig.

Vielleicht raunen sich manche Christen im 11. Jahrhundert auch schon zu, dass die Juden ihre Brunnen vergiften würden. (Andere Schauerfabeln, dass etwa die Juden Christenkinder schächten würden, um ihr Blut für barbarische Riten zu verwenden, und dass sie Hostien schänden, werden dagegen erst in den folgenden Jahrhunderten erfunden.)

So leben die Juden von Mainz als Fremde im Rhythmus ihrer religiösen Feste. Ausdauernd und an allen Tagen beten sie. Sie beten am Morgen. Sie beten am Nachmittag. Sie beten am Abend. Und die "Amida", die aus 18 Lobpreisungen und Bitten besteht, sprechen sie stehend und in Richtung Jerusalem. Denn dort erhebt sich mitten in der Stadt Har ha-Bajit. Der Berg des Gotteshauses.

Der Tempelberg ist der zentrale Ort der jüdischen Erinnerung. Deshalb sehnen sich auch die Juden von Mainz nach Jerusalem, dem Symbol ihrer heilvollen Vergangenheit und zukünftigen Erlösung.

Die Grabeskirche wird zerstört

Ausgerechnet im fernen Jerusalem spielen sich im 11. Jahrhundert dramatische Ereignisse ab. Im September des Jahres 1009 wird die Grabeskirche auf Befehl des Kalifen al-Hakim geplündert und mitsamt dem Felsengrab Christi zerstört. Al-Hakim, ein strenggläubiger Muslim, residiert in Kairo und stammt aus der schiitischen Dynastie der Fatimiden, die nicht nur am Nil herrschen, sondern auch in Palästina und in Syrien.

Der Kalif hat den Christen in seinem Reich alle öffentlichen Prozessionen und das öffentliche Begehen ihrer religiösen Feste untersagt und ihnen das Läuten von Glocken und das Zeigen von Kreuzen verboten. Darüber hinaus sollen die Christen von nun an besondere Gürtel tragen und schwarze Turbane oder Kopftücher, damit man sie jederzeit erkenne unter den Muslimen. Und bereits im Jahr zuvor hat der Kalif damit begonnen, Kirchen, Klöster und auch Synagogen zu zerstören und zu plündern.

Weshalb provoziert der Kalif jetzt auf diese unerhörte Weise die Christen? Die lateinischen in Rom ebenso wie die griechischen zu Byzanz und die koptischen in seinem eigenen Reich. Historiker haben auf diese Frage bis heute keine befriedigende Antwort gefunden. Lange Zeit galt ihnen al-Hakim als "verrückter Kalif". Für muslimische Chronisten ist er ein Ketzer. Denn in Kairo entsteht eine Sekte, die in al-Hakim eine Inkarnation Gottes sieht. Christliche Autoren beschreiben ihn als fürchterlichen Tyrannen und bösartigen Verfolger. Andererseits sind unter den höchsten Beamten seines Hofstaates manche Christen - etwa sein Kanzleichef (der das Dekret zur Zerstörung der Grabeskirche ausgefertigt hat). Zudem stellt der Kalif die Plünderung von Gotteshäusern bald wieder ein und gibt geraubtes Kirchengut an die Gemeinden zurück.

Das Kreuz muss dem Halbmond weichen

Aber die Demütigung durch die Muslime sitzt tief im Bewusstsein der Christen. Und die Nachricht über die Zerstörung ihrer heiligsten Kirche gelangt mit heimkehrenden Pilgern aus Jerusalem und durch jüdische Fernkaufleute zu den Christen am Rhein. Zweifellos ausgeschmückt mit Gräuelgeschichten.

Zudem stoßen um diese Zeit arabische Stämme entlang der Südküste des Mittelmeers vehement nach Westen vor. Dabei arabisieren sie Nordafrika. Das Kreuz muss dem Halbmond weichen, die lateinischen Dialekte der Christen der Sprache des Propheten. Von den um das Jahr 1000 bezeugten 47 nordafrikanischen Bistümern sind um die Mitte des 11. Jahrhunderts nur noch fünf geblieben.

Etwa gleichzeitig mit der arabischen Expansion am Südrand des Mittelmeers erhebt sich auch im Osten ein gewaltiger Sturm. Kriegerische Nomaden stürmen in Richtung Kleinasien heran: Türken, angeführt von der Sippe der Seldschuken. Die Turkvölker haben bereits ganz Zentralasien erobert und in den 30er Jahren des 11. Jahrhunderts auch den Osten Persiens.

Unaufhaltsam drängen die Türken nach Westen vor. Im August 1071 besiegt das Heer der Türken die Truppen des byzantinischen Kaisers. Nun ist das christlich-orthodoxe Kleinasien offen für die türkische Eroberung. Und 1077 erobern die Seldschuken Jerusalem.

Ein Gefühl der Bedrohung

Die lateinischen Christen sind nicht unmittelbar gefährdet durch die Kriege und Machtkämpfe im Orient. Aber die Gerüchte und Nachrichten über die niedergerissene Grabeskirche, über drangsalierte Glaubensbrüder und den Ansturm von Türken und Arabern erzeugen in Europa ein Gefühl der kollektiven Bedrohung. Der Ohnmacht und der Verwundbarkeit.

Die psychologische Wirkung dieser Empfindung muss gewaltig sein. Und das veränderte Christusbild, das im Verlauf des 11. Jahrhunderts in Europa entsteht, spiegelt dies eindringlich. Denn jetzt rückt unter den römischen Christen der Mensch gewordene Gottessohn in den Vordergrund. Der von den Heiden Verfolgte, der Gemarterte, der Gekreuzigte. Für das Martyrium und den Tod Christi aber werden nun radikaler als jemals zuvor die Juden verantwortlich gemacht.

Die Idee der Kreuzzüge wird geboren

So entsteht - aus Angst vor den Muslimen und aus Hass auf die Juden - die Idee der Kreuzzüge. Urban II., dessen Pontifikat 1088 beginnt, ist ihr Mentor. Für den Papst, der aus dem französischen Châtillon-sur-Marne stammt, ist der Kreuzzug nach Jerusalem und zur Befreiung der heiligsten Stätten des Christentums ein Heiliger Krieg. Und diese Vorstellung trägt er unter die lateinischen Christen. In den Gottesdiensten werden nun verstärkt Ritter, die das Christentum gegen die Ungläubigen verteidigen sollen, einbezogen in die Gebete. Schwerter werden geweiht.

Doch wie nehmen die Juden im Reich die Ereignisse im Orient wahr? Den wachsenden Hass ihrer Nachbarn bemerken sie wohl. Viel bedrückender für sie sind wahrscheinlich aber die Nachrichten aus Orléans und anderen französischen Städten, die sich jetzt mehren: Dort werden Glaubensbrüder, welche die Taufe verweigerten, vom christlichen Pöbel bedrängt, vertrieben oder ermordet. Aber in akuter Gefahr wähnen sich die Juden am Rhein offenbar nicht.

Das Unheil nimmt seinen Lauf

Am 15. Nisan 4856, dem 10. April 1096, feiern die Mainzer Juden das Passafest. Nach den Vorschriften der Tora haben sie jegliches chamez - alle gesäuerten Lebensmittel - aus ihren Häusern zu entfernen und sie am Tag vor Passa zu einem symbolischen Preis an ihre nichtjüdischen Nachbarn zu verkaufen oder zu verbrennen. Acht Tage dauert das Fest in der Diaspora. Kurz vor dieser Zeit, in die auch das Osterfest der Christen fällt, brechen die ersten Kreuzfahrerhaufen in Frankreich auf. Bewaffnet mit Stöcken und Sicheln.

Am 10. April, dem Beginn des Passafests, zieht Peter von Amiens mit großem Gefolge in Trier ein. Wie schon zuvor in Metz und anderen Orten erpressen die Christen Geld und Lebensmittel von der jüdischen Gemeinde. Und wie überall auf ihrem Weg schließen sich ihnen wohl auch hier Bettler, Tagelöhner und vielleicht sogar Handwerksgesellen an. Es sind schon weit mehr als 10000: arm, ungebildet, abergläubisch die meisten, verhetzt, brutal und blindwütig viele.

Und dann, am 3. Mai 1096, steht ein Heer dieser selbst ernannten Kreuzfahrer vor Speyer. Ihr Anführer ist wahrscheinlich Vicomte Wilhelm von Mélun. Sie wollen zwar nach Jerusalem. Aber Palästina ist weit. Und der Weg in die Heilige Stadt, wo sie den Muslimen das Grab Jesu entreißen wollen, noch lang und beschwerlich.

Ein Chronist berichtet

"Als sie nun auf ihrem Zug durch die Städte kamen, in denen Juden wohnten", schreibt Salomo bar Simeon aus Mainz über diese Kreuzfahrer, "sprachen sie: ,Sehet, wir ziehen den weiten Weg, um die Grabstätte aufzusuchen und uns an den Ismaeliten zu rächen. Und siehe, hier wohnen unter uns die Juden, deren Väter Christus unverschuldet umgebracht und gekreuzigt haben! So lasset zuerst an ihnen uns Rache nehmen und sie austilgen unter den Völkern, dass der Name Israel nicht mehr erwähnt werde. Oder sie sollen unseresgleichen werden und zu unserem Glauben sich bekennen.'" Salomo bar Simeon, ein jüdischer Chronist, verfasst seinen Bericht im Jahr 1140. Wahrscheinlich hat er mehrere schriftliche Quellen von Zeitzeugen, die er chronologisch ordnet und durch mündliche Überlieferungen ergänzt.

"Am Sabbat, den 8. Ijjar", fährt Salomo bar Simeon fort in seiner Chronik, "überfielen die Feinde die Gemeinde Speyer und erschlugen elf heilige Personen. Diese waren die Ersten, die ihren Schöpfer heiligten, da sie sich nicht taufen lassen wollten. Die Übrigen wurden, ohne ihren Glauben wechseln zu müssen, von dem Bischof gerettet."Tatsächlich ordnet Bischof Johann I. von Speyer am 3. Mai die Verteidigung der jüdischen Gemeinde seiner Stadt an. Wohl deshalb sind nur elf Opfer zu beklagen. Doch der Bischof will für seine Hilfe bezahlt werden: mit jüdischem Geld. Die Kreuzfahrer ziehen weiter den Rhein entlang. Nach Norden - obwohl der Weg nach Jerusalem in die entgegengesetzte Richtung führt.

Statt sich taufen zu lassen, töten viele Juden sich selbst

Unter den Toten von Speyer, berichtet Salomo bar Simeon, sei auch eine Frau gewesen, "die sich zur Heiligung des göttlichen Namens selbst schlachtete". "Kiddusch ha-Schem" nennen die Juden die Heiligung des göttlichen Namens. Und nach ihrer Tradition muss sich ein strenggläubiger Jude, der vor die Wahl Tod oder Taufe gestellt ist, von seinen Bedrängern töten lassen. Die Selbsttötung dieser Frau aber ist weit mehr, als der Glaube vorschreibt. Doch viele werden ihrem Vorbild folgen. So sterben unzählige Juden des Mittelalters ganz ähnlich wie die frühen Märtyrer der Christen.

Es gibt aber auch andere als religiöse Gründe, weshalb sich so viele Juden der Taufe verweigern. Denn was ist ein getaufter Jude? Doch nichts anderes als ein von allen verachteter Christ ohne Gemeinde, ohne Broterwerb und auch ohne Familie. Und für die Christen bleibt er immer ein halber, beargwöhnter Jude.

Die Wormser Juden werden massakriert

Am Sonntag, dem 18. Mai, stürmen die Kreuzfahrerhorden das jüdische Viertel zu Worms. Es ist der 23. Ijjar des jüdischen Kalenders, und die Gemeinde hat sich in zwei Lager geteilt. "Die einen waren in ihren Häusern geblieben", schreibt Salomo bar Simeon. "Die anderen waren zum Bischof geflüchtet." Bischof Albrand von Worms gewährt jenen Juden, die ihn um Hilfe bitten, Asyl in seinem Palast. Die Gemeinde außerhalb der Mauern aber wird sogleich von den Kreuzfahrern angegriffen. Denn die meisten der Juden verweigern die Taufe. Kiddusch ha-Schem. Sie werden erstochen, zerhackt, zu Tode geprügelt oder sterben durch eigene Hand. Danach rauft sich der Mob der Kreuzfahrer vermutlich mit dem Pöbel von Worms um die Beute: die Häuser der Juden, in denen sie wohl nichts als gewaltige Schatullen sehen. Schatztruhen, angefüllt mit Handelsware.

Eine Woche währt das Asyl der Kirche. Dann stürmt der Pöbel den Palast. Taufe oder Tod heißt jetzt auch für die Schützlinge des Bischofs die Alternative. Und wieder wählen die meisten Kiddusch ha-Schem. "Die Feinde zogen sie aus und schleiften und warfen sie umher", schreibt Salomo bar Simeon. "Sie ließen keinen von ihnen übrig, außer einigen, die sie zur Taufe gezwungen hatten. Bei 800 betrug die Zahl der Erschlagenen. Sie alle wurden nackt zu Grabe gebracht."

Die Mainzer Juden sind in Aufruhr

Nur ein kurzes Stück Fluss und kaum 50 Kilometer trennen Worms von Mainz. Die Kunde vom Blutbad unter den Wormser Juden gelangt vermutlich rasch nach Norden, wo bereits seit Tagen die judenfeindliche Stimmung wächst. Erzbischof Ruthard II. herrscht über die Stadt, in deren Mitte die größte, angesehenste und reichste Judengemeinde des Rheinlandes und möglicherweise der gesamten aschkenasischen Welt liegt. Mehr als 1000 jüdische Männer, Frauen, Kinder leben in Mainz.

Mainz wird belagert

"Es war am Neumondstag des Monats Siwan", berichtet Salomo bar Simeon, "da kam der Graf Emicho, der Feind aller Juden - mögen seine Gebeine in einer eisernen Mühle zermalt werden -, mit einem großen Heere und lagerte nebst dem Pöbel außerhalb der Stadt in Zelten. Denn die Tore der Stadt waren vor ihm verschlossen."

Am 25. Mai 1096 vereinigen sich vor Mainz die Horden des Vicomte Wilhelm von Mélun mit den Leuten des Grafen Emicho - eines Adeligen, der wahrscheinlich in der Nähe der Bischofsstadt ansässig ist. Und sie sind im Fieber des Massenwahns, erregt von der Aussicht auf den freigegebenen Mord und auf die Beute. Zwei Tage lagern sie vor Mainz.

"Es war am dritten Tag im Siwan. Um die Mittagszeit, da kam Emicho, der Bösewicht und Judenfeind, mit seinem ganzen Heer vor das Tor. Und die Städter öffneten ihm das Tor. Da sprachen die Feinde des Ewigen: ,Sehet, sie haben uns das Tor geöffnet. Jetzt lasset uns das Blut des Gekreuzigten rächen!'" Der 3. Siwan fällt in diesem Jahr auf den 27. Mai. Wer den Befehl gibt, die Stadttore schließlich zu öffnen, ist nicht bekannt. Aber mutmaßlich wird er gegen den Willen des Erzbischofs erteilt. Männer mit Stöcken, Sicheln, Spießen und Schwertern stürmen die Stadt.

Die jüdische Gemeinde sitzt in der Falle

"Als die Söhne des heiligen Bundes jenes Heer so unzählig wie der Sand am Ufer des Meeres sahen, blieben sie dennoch ihrem Schöpfer getreu. Sie legten Panzer an und umgürteten sich mit Kriegswaffen. Rabbi Kalonymos bar Meschullam stand an der Spitze." Und so verteidigen die Mainzer Juden die Eingangstore der Bischofsresidenz.

"Aber unsere Sünden verursachten, dass die Feinde siegten und die Tore einnahmen. Die Leute des Bischofs flohen zuerst. Auch der Bischof selbst floh aus seiner Kirche, denn auch ihn wollten sie töten. Die Feinde drangen in den Hof. Und es war ein Tag der Dunkelheit. Mögen Finsternis und Todesschatten ihn ablösen. Möge Gott in der Höhe nicht nach ihm fragen."

"Der Vater wurde geschlachtet von seinem Sohne, der Bruder von seiner Schwester, die Frau von ihrer Tochter, der Nachbar von seinem Nachbarn, der Bräutigam von seiner Braut. Einer schlachtete, der andere wurde geschlachtet, bis Blut zu Blut zusammenfloss und sich vermischte das Blut der Männer mit dem der Frauen."

Am 3. Siwan 4856 wird die jüdische Gemeinde zu Mainz nahezu vollständig ausgelöscht. Zwei Tage später zündet ein zwangsgetaufter Überlebender des Mainzer Blutbades erst sein Haus, dann die Synagoge und schließlich sich selbst an. Kiddusch ha-Schem. Bald brennt es überall im jüdischen Viertel.

Taufe oder Tod

In diesem Jahr morden die Streiter Christi die Juden in vielen weiteren Städten - so in Köln, Neuss und Xanten, in Regensburg und Prag. Und auch in Trier. Dort stellen aus Lothringen nachrückende Kreuzfahrer Juden vor die Wahl: Taufe oder Tod.

Noch heute wird in der jüdischen Liturgie der Opfer dieser Bluttaten von Speyer, Worms und Mainz gedacht, die in die jüdischen Annalen als "Gezerot Tatnu" ("die Verfolgungen des Jahres 4856") eingegangen sind.


Nachbemerkung: Ein einseitiger, in höchstem Maße unsachlicher Artikel, den Dikigoros seinen Lesern jedoch nicht vorenthalten wollte, zumal er beispielhaft ist für die Art und Weise, mit der die Geschichte der Juden in Europa heutzutage verzerrt dargestellt wird. Bereits die reißerische Überschrift - die wohl suggerieren soll, daß bereits im Mittelalter alle Juden entweder zwangsgetauft oder getötet worden seien - fordert zu einer simplen Gegenfrage heraus: Wie kommt es dann, daß in der Neuzeit wieder Millionen Juden in Europa lebten? Sind die nachträglich eingewandert, obwohl sie dort doch so schrecklich verfolgt wurden? In einigen Ländern mag es so gewesen sein - aber gerade in Deutschland nicht. Es trifft auch nicht zu, daß "der" Mob in Deutschland die Juden generell verfolgt hätte - im Gegenteil: Selbst die christlichen Bischöfe - und die Stadtoberen sowieso - bemühten sich nach Kräften, sie vor der radikelen Minderheit ihrer Feinde zu schützen, bei der es sich übrigens meist um Ausländer auf der Durchreise ("Kreuzfahrer") handelte, die gerne ein wenig marodieren wollten und sich wohl an die Juden eher trauten als an die einheimischen Christen. Die Zahl der von ihnen getöten Juden war freilich - auch nach jüdischen Quellen - in der Regel nur zweistellig, in einem einzigen Fall dreistellig. Eine vierstellige Zahl von Juden brachte sich dagegen selber um, und zwar aus Aberglaube: Nach jüdischer Tradition war just im Jahre 4856 - also 1096 nach christlicher Zeitrechnung - mit einer von zwei Alternativen zu rechnen: entweder der Ankunft des Messias, oder aber mit dem Weltuntergang, der "Shoa". (Ja, nicht nur die Germanen stellten sich diesen als "Ragnarök", als großes Feuer vor :-) Und da der Messias offenbar nicht kam, gingen sie davon aus, daß der Weltuntergang fällig wäre und daß es Jahwe wohl gefällig wäre, sich selber zu töten bzw. einander. Sallers Artikel überträgt in unzulässiger Weise das Verhalten der ausländischen - meist belgischen - Kreuzfahrer auf das der deutschen Bevölkerung, und er versucht dann noch, dieses auf "das" Mittelalter" und "die" Christen zu verallgemeinern. So wird also heute Geschichts-"Wissenschaft" gemacht!


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