Ganz Tatoun träumt von Italien . . .

von Karim El-Gwhary (Generalanzeiger Bonn, 30.1.2010)

(mit einigen Anmerkungen von Nikolas Dikigoros)

Einfache Boote im Mittelmeer, überfüllt mit illegalen Flüchtlingen auf der Suche nch Arbeit in Europa. Wo haben sie gelebt, bevor sie ins Ungewisse aufbrauchen? Zum Beispiel in der ägyptischen Oase Fayoum. Dort macht sich fast die gesamte Jugend auf den Weg nach Mailand

Zwei junge Mädchen auf Eseln zwischen Palmen. Gemächlich reiten sie dahin, schwatzen und kichern. Ein paar Fellachen, wie die ägyptischen Bauern genannt werden, schuften auf einem Zuckerrohrfeld. Im Hintergrund knattert eine Dieselpumpe, die das kostbare Nass vom Bewässerungskanal auf die Felder leitet. In dem grau-gelben Wüstensand rund um die ägyptische Oase El-Fayoum, gut 100 km südwestlich von Kairo, strahlt das Grün besonders intensiv. Europa ist weit weg - und doch so nah.

"Alle Jugendlichen hier wandern nach Europa aus. Da wäre ich ja schön blöd, wenn ich meine Söhne nicht reisen lassen würde", sagt der Bauer Saad Aqad. Seine vier Söhne arbeiten alle in der italienischen Metropole Mailand. Nasr, der älteste, hat gerade Urlaub von einer Arbeit auf dem Bau und geht dem Vater bei der Landarbeit ein wenig zur Hand. Regelmäßig schickt er Geld nach Hause. Der am Feldrand geparkte neue Toyota [nicht etwa ein Fiat, Anm. Dikigoros] und das nagelneue Haus zeugen vom in Italien gewonnenen neuen Status der Familie. "Wenn wir Jugendliche nicht nach Europa auswandern könnten, würden wir uns hier gegenseitig auffressen", erklärt Nasr. In Fayou gebe es weder Arbeit noch Zukunft.

In der nahe gelegenen Kleinstadt Tatoun wollen so gut wie alle nach Italien. Von den 40.000 Einwohnern, so schätzt die ägyptische Menschenrechts-Organisation EOHR, leben 6.000 inzwischen in Italien. "Für viele ist es die einzige Möglichkeit, ökonomisch und sozial aufzusteigen", beschreibt der EOHR-Chef in Kairo, Hafez abu Saada, das Hauptmotiv. Nach landesweiten Schätzungen leben fast eine halbe Million illegale ägyptische Einwanderer in Europa, 90.000 davon in Italien. [Der Rest - also weitaus mehr - in England, Frankreich und der BRD, Anm. Dikigoros] Tatouns Hauptstraße heißt denn auch "Mailänder Straße" - trotz des typisch ägyptischen Flairs mit ramponierten chinesischen Motorrädern zwischen den Eselskarren auf der nicht asphaltierten Straße.

Die Symbole des neuen europäischen Reichtums sind schnell ausgemacht: Neben schäbigen niedrigen Häusern ragen wenig ländlich wirkende Hochhäuser in den Himmel, alle gebaut von dem Geld, das in Italien verdient wurde. Jeder erkennt sofort, wer es in Europa geschafft hat. Auch die brandneuen Villen im lombardischen Stil am Ortsrand wirken wie Fremdkörper mit ihren spitzen Dächern und gewölbten Ziegeln. Dabei regnet es in Fayoum doch so gut wie nie.

Stempel statt Bildung

Die einen gehen und schicken Geld, die anderen bleiben und haben keins. Diese Zweiklassengesellschaft regt den Bäcker Ahmad auf: "Wenn man als junger Mann heiraten will, dann fordern die Eltern der Braut ein hohes Brautgeld, das sich kaum einer leisten kann. Nur mit einem Aufenthaltsstempel für Italien im Pass bist du ein guter Bräutigam", klagt er. Dieser Stempel zähle in Ägypten inzwischen mehr als jedes Abschlusszeugnis, als jede gute Ausbildung.

Italien ist das große Lebensziel, und das hat auch das Leben in Tatoun verändert. In den 1990er Jahren waren viele junge Erwachsene zum Arbeiten in die arabischen Golfstaaten gereist und hatten nicht nur Geld, sondern auch die dort vorherrschenden islamisch-erzkonservativen Wertvorstellungen mit zurückgebracht. Fayoum war zu einer Hochburg der Islamisten geworden. Heute kommen sie aus Italien mit ganz anderen Wertvorstellungen zurück, erklärt Hafez Abu Saada von EOHR. Noch sei es zu früh zu beurteilen, wie sich das auf die Gesellschaft Fayoums auswirken wird. "Viele bringen aus Europa ein neues Denken mit", bestätigt Ahmad, der Bäcker. "Manche unserer jungen Frauen, die ihren Männern nachgezogen sind, kommen ohne Kopftuch zurück oder nehmen es ab, sobald sie die Oase verlassen." [Fürwahr eine schlimme Aufweichung der Moral, Anm. Dikigoros]

Sony kommt beim Bäcker vorbei, Ein Ägypter mit einer abenteuerlichen Migrationsgeschichte. Sony? Wie die japanische Firma? Er nickt. Seine Mutter suchte den Namen aus, weil sie sich immer ein Fernsehgerät dieser Marke gewünscht hatte. Sony ist viermal illegal nach Europa gereist - und dreimal gescheitert. Beim ersten Mal wäre er auf dem Weg nach Malta beinahe ertrunken. Beim zweiten Mal schaffte er es zum verabredeten Treffpunkt, einer kleinen Absteige, die tatsächlich "Hotel Ali Baba" hieß. Von dort wurde er auf einem Boot nach Sizilien verfrachtet. Aber dann brachte die italienische Küstenwache die ganze Gruppe auf, und das bedeutete den Rücktransport nach Ägypten.

Doch Sony gab nicht auf. Er versuchte es im Winter über die menschenverlassene Landgrenze zwischen Syrien und Libanon. Magdi, einer seiner besten Freunde, kam dabei ums Leben. "Wir hatten keine Ahnung, wie kalt es auf den schneebedeckten Bergen zwischen beiden Ländern sein kann". Magdi starb auf einem schneeverwehten Bergpfad. Sony blieb mit seinem Freund allein - bis zu dessen Tod. Die anderen waren auf Drängen der Menschenschmuggler weitergegangen.

Sein Glück: Einer der Schmuggler kehrte zu ihm zurück. "Sie desinfizieren ihre Schmuggelpfade, sie können es sich nicht leisten, dort Leichen offen zurück zu lassen.", schildert Sony. Der Mann habe ihn mitgenommen, in ein Haus in Junieh an der libanesischen Küste. Dort wurde er mit anderen Europa-Aspiranten für mehrere Tage "gelagert", so der Schmugglerjargon. Eine schlimme Zeit, an die Sony sich nicht gern erinnert. Die Migranten werden mit wenig Essen in abgelegenen Häusern weggesperrt, bis die Schmuggler sich mit den Besitzern der Fischerboote über die Weiterfahrt einige geworden sind. Diesmal ging es nach Zypern, und diesmal machte die libanesische Küstenwache der Reise ein Ende. Sony wurde einen Monat wegen illegalen Grenzübertritts eingesperrt, bevor er in wieder in sein Heimatland abgeschoben wurde.

Keine Arbeit, keine Hoffnung

Aber eines Tages saß Sony endlich - via Malta und Sizilien - im Zug nach Mailand. Dort hat er dann richtig viel Geld verdient. In den Diensten der Mafia, sagt er, aber mehr will ernicht verraten. Als die italienischen Behörden nach ihm fahndeten, floh er aus Italien zurück in die Oase. Ein wenig von seinem Reichtum scheint er gerettet zu haben: Er fährt mit einem monströse Geländewagen umher. "Die Auswanderung ist wie eine Krankheit, die die Oase befallen hat", reflektiert Sony heute. Aber in dieser verarmten Gegend gebe es nur drei Möglichkeiten, meint er: andere zu bestehlen, sich umzubringen, oder sich nach Europa durchzuschlagen.

Hamada Saad, ein 16-jähriger Schüler, hat Sony mit glänzenden Augen zugehört. Nichts schreckt ihn ab. "Sobald ich die Möglichkeit habe auszureisen, werde ich das tun, legal oder illegal, egal mit welchem Risiko." In der Oase könne man kein Geld verdienen. "Ich werde hier nur gedemütigt und habe keinerlei Rechte", fasst er seine Zukunftsperspektiven zusammen. An einem Tag könne er in Italien mehr verdienen als hier in einem ganzen Monat.

Der Bäcker Ahmad schüttelt den Kopf: "Von denen, die gescheitert sind, wird nicht geredet. Aber es gibt sie: Manche schlafen in Italien auf den Parkbänken, finden keinen Job und schicken kein Geld zurück. Ihre Familien zuhause bleiben auf den Schulden sitzen, die sie gemacht haben, um die Menschenschmuggler zu bezahlen. Der Schmuggel kostet immer zwischen 3.000 und 4.000 Euro, die Hälfte davon ist vor der Abreise zu bezahlen, die andere nach dem ersten Anruf aus Italien. Wenn der ausbleibt, wissen die Eltern, dass ihr Sohn nicht mehr lebt. Ahmad erzählt von einer Bekannten, die "verheiratet und doch nicht verheiratet" ist. Ein halbes Jahr nach der Hochzeit hatte sich ihr Ehemann per Boot auf den Weg nach Italien gemacht. Er hat nie angerufen und ist nie zurückgekommen. Ahmad berichtet noch von der Mutter, die ihren Sohn nicht ziehen lassen wollte, bevor er geheiratet und ihr einen Enkel geschenkt habe. Zuvor hatte sie bereits zwei Söhne im Meer verloren.

Die EOHR fordert ein Gesetz, das gegen die Menschenschmuggler vorgeht. Sie setzen bewusst seeuntüchtige Boote ein und das Leben der Flüchtlinge aufs Spiel. "Das gehört bestraft", findet Abu Saada. Laut aktueller Rechtslage könne gegen sie nur vorgegangen werden, weil sie für ihre "Vermittlerfirma" über keine Lizenz verfügen. Darauf steht lediglich eine Geldstrafe und ohnehin sei alles ohne unterschriebene Papiere schwer zu beweisen. Menschenschmuggelgeschäfte werden per Handschlag abgeschlossen. Das Hauptproblem, sagt Abu Saada, sei ohnehin kein rechtliches, sondern die Perspektivlosigkeit. Die meisten jungen Ägypter glaubten nicht, daß sie sich in ihrer Heimat ein einigermaßen würdiges Leben aufbauen können.

Vor kurzem kam ganz Tatoun zu einer Trauerfeier zusammen. Ein Dutzend Jugendliche aus dem Ort waren ertrunken, nachdem ihr Boot auf dem Weg ins gelobte Europa im Mittelmeer gekentert war. Ein Schicksalsschlag, durch den Fayoum und Tatoun für einen Tag sogar in die nationalen Schlagzeilen gerieten. Die Beerdigung war gerade vorbei, da ging einer der Väter, der soeben zwei seiner Söhne verloren hatte, schnutstracks zu einem der Schmuggler und vereinbarte den nächsten Deal: Der Mann bezahlte bar, damit auch sein dritter Sohn auf die Reise gehen kann. [Anm. Dikigoros: Na, wer so viel Geld - drei Jahresgehälter eines durchschnittlichen Ägypters - in die Migration seiner Söhne investiert, und zwar nicht auf Pump, sondern mal so eben lässig aus der Westentasche, um dessen Perspektiven kann es doch wohl so schlecht nicht bestellt sein. Es ist überall das gleiche mit den "Migranten": Nicht die Ärmsten der Armen kommen, die mit mehr oder weniger ehrlicher Arbeit zu etwas Geld kommen wollen, sondern die Kriminellen, die sich eh schon ein erkleckliches Vermögen ergaunert haben, wollen dieses noch vermehren. Und dieses Pack fischen unsere europäischen "Küstenwachen" noch auf, wenn es in Seenot gerät, und holen es zu uns herein!]


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