DAS ENDE DER GROSSEN ILLUSION

Robert Kappel (Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung vom 02.03.2001)


DAS STIGMA "NICHT ENTWICKLUNGSFÄHIG"
Afrika und der Modernisierungsdruck des 21. Jahrhunderts

Die Präsidenten von IWF und Weltbank, Horst Köhler und James D. Wolfensohn, haben gerade Mali, Nigeria, Tansania, Kenia und Uganda bereist, um sich davon zu überzeugen, ob ein Junktim funktioniert - ob sich der Schuldenerlass für hochverschuldete arme Länder mit Programmen zur Bekämpfung von Armut verbinden lässt. Die Lage deutet eher auf das Gegenteil. Sie lässt wenig Hoffnung, der schwarze Kontinent könnte dank eigener Anstrengungen aus dem toten Winkel der Weltökonomie heraus finden.

Hartnäckig veröffentlichen Weltbank und IWF seit den siebziger Jahren Berichte über Afrikas Wirtschaftsaussichten. Die Anzahl der Studien und die entwaffnende Offenheit bei der Problemanalyse sind beeindruckend, handelt es sich doch oft um substanzielle Untersuchungen, die zugleich strategische Orientierungsangebote enthalten. Allerdings bergen sie ein gravierendes Manko: Ihre positiven Szenarien wecken immer wieder irrlichternde Hoffnungen. Afrikas Armut - so heißt es - könnte in absehbarer Zeit zu 30 - 50 Prozent überwunden werden, wenn es denn nur die "richtigen ökonomischen Reformen" gäbe.

Wunschdenken der Weltbank

Woher soll der Durchbruch im Wirtschaftswachstum kommen? Unbestritten ist, dass in Afrika viel versprechende Reformen in Angriff genommen wurden - dank struktureller Anpassungsprogramme ist die Inflation in den meisten Ländern deutlich zurück gegangen. Marktliberalisierung, die Öffnung des Außenhandels und die Abkehr von Marketingkommissionen haben zu niedrigeren Verbraucherpreisen geführt, administrative Preissetzung beendet und eine bessere Ressourcenverteilung ermöglicht. Wechselkurse wurden angepasst, so dass von daher keine negativen Wirkungen für die Wirtschafts- Entwicklung mehr zu erwarten sind. Ferner gibt es kleine Erfolge beim Wachstum des Bruttoinlandsproduktes. Die Schuldenkrise ist jedoch keineswegs überwunden.

In einer Weltbank-Studie aus dem Vorjahr taucht die Prognose auf: "Um die schlimmste Armut bis 2015 zu halbieren, bedarf es einer jährlichen Wachstumsrate von sieben Prozent und mehr sowie einer besseren Einkommensverteilung." Jeder seriöse Ökonom muss sieben Prozent für unrealistisch halten. Doch unterstellen wir, der Wunsch ginge in Erfüllung, die nachfolgende einfache Rechnung zeigt, wie lange es dauern würde, die Armut in Afrika zu beseitigen.

Eine Stabilisierung des Bevölkerungswachstums nach 35 Jahren voraus gesetzt, würde der Kontinent 50 Jahre brauchen, um das gegenwärtige jährliche Pro-Kopf-Einkommen von 500 Dollar auf 3.800 zu heben - dem derzeitigen Niveau von Mauritius. Die Elfenbeinküste mit einem momentanen Pro-Kopf- Einkommen von 800 Dollar würde dafür 32 Jahre benötigen. Bei der äußerst optimistischen Prognose vier Prozent BIP-Wachstum würden "Länder mit niedrigem Einkommen" (Low Income Countries /LICs) in 25 Jahren ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von 500, in 50 Jahren eines von 1.300 Dollar erreichen.

Legen wir den Global Economic Prospects (2000)-Bericht des IWF zugrunde, der ein BIP-Wachstum von 3,4 Prozent voraussagt, und unterstellen für Afrika ein durchschnittliches Bevölkerungswachstum pro Jahr von nur zwei Prozent, dann würde das Pro-Kopf-Einkommen jährlich lediglich um 1,4 Prozent steigen. Dies hieße, LICs mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von heute 200 Dollar bräuchten 50 Jahre, um auf 500 Dollar zu kommen.

Nach den Reports der Weltbank haben nur neun von 48 Staaten Afrikas ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 1.000 Dollar, und nur fünf (Gabun, die Seychellen, Botswana, Mauritius, Südafrika) verzeichnen mehr als 2.500 Dollar. Das heißt, selbst bei einem BIP-Wachstum von sieben Prozent und besserer Ressourcenverteilung würden in 15 Jahren mindestens 250 Millionen Afrikaner immer noch in Armut leben, denn bei einem vierprozentigen Wachstum würde die Armut in den meisten Ländern nur gering sinken - bei einer Rate von drei Prozent ließe sich gar kein Effekt mehr erzielen.

Da während der vergangenen Jahre aber nur wenige Staaten ein Wachstum von mehr als drei Prozent verbuchen konnten, bedeutet das: Dauert dieser Trend an, wird sich die Armutsrate in Afrika sogar noch erhöhen.

Konfektionen und Kategorien

Zugleich verläuft jedoch die Entwicklung auf dem Schwarzen Kontinent merklich differenzierter. Anhand ökonomischer (BIP-Wachstum, Pro-Kopf-Einkommen, Investitionen, Produktivität) und sozialer Indikatoren (Einkommensverteilung, stabile Institutionen) lassen sich fünf Ländergruppen ausmachen:

Aufstrebende Ökonomien sind nur Mauritius und die Seychellen mit den Voraussetzungen für ein starkes Wirtschaftswachstum. [In diesen beiden Ländern wurden die südasiatischen Einwanderer, die einst überall in Afrika den die Wirtschaft tragenden Mittelstand bildeten, noch nicht von den Schwarzen enteigenet und/oder vertrieben; man kann sie deshalb nicht ohne weiteres mit dem Rest von "Schwarz-Afrika" vergleichen, Anm. Dikigoros.]

Potenzielle Reformstaaten wären Botswana, Südafrika, Namibia, Lesotho, Äquatorial-Guinea, Gabun, Ghana und die Kapverden. Botswana, das in den vorherigen Jahrzehnten das höchste BIP-Wachstum zu verzeichnen hatte, sieht aufgrund hoher Sterblichkeitsraten infolge von AIDS schwierigen Zeiten entgegen. Südafrikas Transformationsprozess erscheint sehr kompliziert, da die Einkommens- Verteilung bisher extrem ungleich geblieben und die Gesellschaft noch immer gespalten ist. Die Konflikte auf dem Arbeitsmarkt verschärfen sich trotz einer akzeptablen Wirtschaftspolitik weiter. In- und ausländische Investoren sprechen bezogen auf Südafrika von einem "instabilen Klima".

Ghana galt jahrelang als Paradebeispiel für strukturelle Reformen, doch die ökonomische Lage ist heute prekär. Agrarerzeugnisse dominieren die Exporte, der Preisverfall führt zu wirtschaftlicher Stagnation, zumal es versäumt wurde, die Produktionsbasis in Boomzeiten zu diversifizieren. Die Produktivität des industriellen Sektor ist extrem niedrig.

Für einen Durchbruch im Kampf gegen Armut, hohes Bevölkerungswachstum und niedrige Investitionsraten brauchte diese Staatengruppe Wachstumsraten von sechs bis acht Prozent über einen längeren Zeitraum hinweg. Dies dürfte besonders für Länder schwierig sein, die einseitig von Ölexporteinnahmen abhängig sind.

Stagnierende LICs mit geringen Entwicklungschancen - zu dieser Gruppe gehören vor allem Uganda, Kongo (Brazzaville) und die Elfenbeinküste, deren Potenzial oft überschätzt wird und die Züge von Kriegsökonomien aufweisen.

Stagnierende LICs ohne langfristige Entwicklungschancen: Die meisten dieser Länder werden weiter in einer Wachstumsfalle - dem Teufelskreis von Armut und bewaffneten Konflikten - verharren. Auch Nigeria gehört dank seines 20-jährigen politischen und ökonomischen Niedergangs in diese Kategorie, ansonsten Burkina Faso, Mali, Ruanda, Kenia, Tansania, Kamerun, Angola.

Länder ohne Perspektive - unter anderem müssen dazu kriegsgeschüttelte Staaten wie Sierra Leone, Liberia, Guinea-Bissau, Äthiopien, Burundi und Kongo (Kinshasa) gerechnet werden, die immer wieder im Chaos versinken.

Die Staaten der letzten drei Gruppen stellen etwa vier Fünftel aller Länder des subsaharischen Afrikas dar und haben besonders unter disfunktionalen staatlichen Institutionen zu leiden. Aber gerade politische Stabilität, sichere Eigentumsregelungen und ein auf Entwicklung fixierter Staat sind im Sinne der oben angedeuteten Wachstumsoptionen unverzichtbar.

Der geringe Entwicklungsgrad des Humankapitals [Anm.: Ist das nicht eine tolle neue Wortschöpfung? Nun weiß Dikigoros endlich, als was Wirtschafts-Wissenschaftler die Menschen in erster Linie betrachten: als Kapital auf zwei Beinen - danke, Herr Professor, man lernt doch nie aus!] verkompliziert die Lage zusätzlich - in den Städten ist ein dramatisch beschleunigter Urbanisierungsprozess durch ein Anwachsen des informellen Sektors geprägt. Damit besteht die Gefahr, dass fehlende makroökonomische Stabilität, eine bestehende Renten-Mentalität sowie die disfunktionalen Aspekte einer informellen Ökonomie das Wirtschaftsleben weiter durchdringen.

Auffallend ist weiter die geringe vertikale Ausrichtung der Produktion in vielen afrikanischen Wirtschaften. Industriegüterexporte kommen in der Regel aus Ländern der Gruppe A und B oder aus Staaten mit einem politisch motivierten Importsubstitutionsregime. Auf Länder der Gruppen C, D und E, in denen der Export von Rohstoffen und Agrarprodukten vorherrscht, trifft das nicht zu. Für Abhilfe könnten Investitionen aus dem heimischen Kapitalstock sorgen, doch dafür ist die Sparquote zu gering. Die Investitionstätigkeit hängt demzufolge am Import von Kapital, das zu großen Teilen aus Entwicklungshilfe stammt. Ohnehin würde in den meisten Ländern selbst eine Verdopplung der Investitionsrate nicht zu dem für die Armutsbekämpfung notwendigen Wachstum führen. Viele der LICs existierten nach wie vor in einer extremen Abhängigkeit von Entwicklungshilfe. Ausländische Direkt- und Portfolioinvestitionen oder Bankkredite sind die Ausnahme. Oft fließen die nicht rückzahlbaren Transfers als Rente in die Taschen der neo-patrimonialen Eliten.

Geld für strukturelle Stabilität

Die Fähigkeit afrikanischer Gesellschaften, mit Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fertig zu werden, hat sich eher verringert als vergrößert. Die Genese sozialer Institutionen ist dem Tempo der modernen Welt nicht gewachsen. Stattdessen lässt sich angesichts des Modernisierungsdrucks ein Verlust sozialer Kohäsion beobachten. Offenbar müssen viele Länder als "strukturell nicht entwicklungsfähig" eingestuft werden.

Ein Memorandum für einen Neuen Start in der deutschen Afrika-Politik, das Ende 2000 von Afrikaexperten vorgestellt wurde, entwickelt Vorschläge, wie die hier beschriebenen Entwicklungen in Rechnung gestellt werden können. Es plädiert für ein "Konzept der strukturellen Stabilität" für die Länder der Gruppen C, D und E, indem Entwicklungshilfe künftig einer "dauerhafte(n) Stärkung der fragilen und instabilen sozialen und politischen Institutionen und Normen" gewidmet wird. Das heißt, verfügbare Gelder viel dezidierter den Institutionen der Zivilgesellschaft und des Staates zugute kommen zu lassen. Sie müssen Vorrang haben und so gestärkt werden, dass sich konstruktive, gewaltfreie Mechanismen zu Beilegung akuter Interessenkonflikte entwickeln und die Konfliktpotenziale insgesamt entschärft werden.


Robert Kappel ist Professor am Institut für Afrikanistik der Universität Leipzig und Herausgeber des 1999 in Hamburg erschienenen Buches Afrikas Wirtschaftsperspektiven.


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