DAS STIGMA "NICHT ENTWICKLUNGSFÄHIG"
Afrika und der Modernisierungsdruck des 21. Jahrhunderts
Die Präsidenten von IWF und Weltbank, Horst Köhler und James D. Wolfensohn, haben gerade Mali, Nigeria, Tansania, Kenia und Uganda bereist, um sich davon zu überzeugen, ob ein Junktim funktioniert - ob sich der Schuldenerlass für hochverschuldete arme Länder mit Programmen zur Bekämpfung von Armut verbinden lässt. Die Lage deutet eher auf das Gegenteil. Sie lässt wenig Hoffnung, der schwarze Kontinent könnte dank eigener Anstrengungen aus dem toten Winkel der Weltökonomie heraus finden.
Hartnäckig veröffentlichen Weltbank und IWF seit den siebziger Jahren Berichte über Afrikas
Wirtschaftsaussichten. Die Anzahl der Studien und die entwaffnende Offenheit bei der
Problemanalyse sind beeindruckend, handelt es sich doch oft um substanzielle Untersuchungen,
die zugleich strategische Orientierungsangebote enthalten. Allerdings bergen sie ein gravierendes
Manko: Ihre positiven Szenarien wecken immer wieder irrlichternde Hoffnungen. Afrikas Armut - so
heißt es - könnte in absehbarer Zeit zu 30 - 50 Prozent überwunden werden, wenn es denn nur die
"richtigen ökonomischen Reformen" gäbe.
Wunschdenken der Weltbank
Woher soll der Durchbruch im Wirtschaftswachstum kommen? Unbestritten ist, dass in Afrika viel
versprechende Reformen in Angriff genommen wurden - dank struktureller Anpassungsprogramme ist
die Inflation in den meisten Ländern deutlich zurück gegangen. Marktliberalisierung, die Öffnung
des Außenhandels und die Abkehr von Marketingkommissionen haben zu niedrigeren Verbraucherpreisen
geführt, administrative Preissetzung beendet und eine bessere Ressourcenverteilung ermöglicht.
Wechselkurse wurden angepasst, so dass von daher keine negativen Wirkungen für die Wirtschafts-
Entwicklung mehr zu erwarten sind. Ferner gibt es kleine Erfolge beim Wachstum des
Bruttoinlandsproduktes. Die Schuldenkrise ist jedoch keineswegs überwunden.
In einer Weltbank-Studie aus dem Vorjahr taucht die Prognose auf: "Um die schlimmste Armut bis
2015 zu halbieren, bedarf es einer jährlichen Wachstumsrate von sieben Prozent und mehr sowie
einer besseren Einkommensverteilung." Jeder seriöse Ökonom muss sieben Prozent für unrealistisch
halten. Doch unterstellen wir, der Wunsch ginge in Erfüllung, die nachfolgende einfache Rechnung
zeigt, wie lange es dauern würde, die Armut in Afrika zu beseitigen.
Eine Stabilisierung des Bevölkerungswachstums nach 35 Jahren voraus gesetzt, würde der Kontinent
50 Jahre brauchen, um das gegenwärtige jährliche Pro-Kopf-Einkommen von 500 Dollar auf 3.800 zu
heben - dem derzeitigen Niveau von Mauritius. Die Elfenbeinküste mit einem momentanen Pro-Kopf-
Einkommen von 800 Dollar würde dafür 32 Jahre benötigen. Bei der äußerst optimistischen Prognose
vier Prozent BIP-Wachstum würden "Länder mit niedrigem Einkommen" (Low Income Countries
/LICs) in 25 Jahren ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von 500, in 50 Jahren eines von 1.300
Dollar erreichen.
Legen wir den Global Economic Prospects (2000)-Bericht des IWF zugrunde, der ein
BIP-Wachstum von 3,4 Prozent voraussagt, und unterstellen für Afrika ein durchschnittliches
Bevölkerungswachstum pro Jahr von nur zwei Prozent, dann würde das Pro-Kopf-Einkommen jährlich
lediglich um 1,4 Prozent steigen. Dies hieße, LICs mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von
heute 200 Dollar bräuchten 50 Jahre, um auf 500 Dollar zu kommen.
Nach den Reports der Weltbank haben nur neun von 48 Staaten Afrikas ein Pro-Kopf-Einkommen von
mehr als 1.000 Dollar, und nur fünf (Gabun, die Seychellen, Botswana, Mauritius, Südafrika)
verzeichnen mehr als 2.500 Dollar. Das heißt, selbst bei einem BIP-Wachstum von sieben Prozent
und besserer Ressourcenverteilung würden in 15 Jahren mindestens 250 Millionen Afrikaner immer
noch in Armut leben, denn bei einem vierprozentigen Wachstum würde die Armut in den meisten
Ländern nur gering sinken - bei einer Rate von drei Prozent ließe sich gar kein Effekt mehr
erzielen.
Da während der vergangenen Jahre aber nur wenige Staaten ein Wachstum von mehr als drei Prozent
verbuchen konnten, bedeutet das: Dauert dieser Trend an, wird sich die Armutsrate in Afrika
sogar noch erhöhen.
Konfektionen und Kategorien
Zugleich verläuft jedoch die Entwicklung auf dem Schwarzen Kontinent merklich
differenzierter. Anhand ökonomischer (BIP-Wachstum, Pro-Kopf-Einkommen, Investitionen,
Produktivität) und sozialer Indikatoren (Einkommensverteilung, stabile Institutionen)
lassen sich fünf Ländergruppen ausmachen:
Aufstrebende Ökonomien sind nur Mauritius und die Seychellen mit den Voraussetzungen für
ein starkes Wirtschaftswachstum. [In diesen beiden Ländern wurden die südasiatischen
Einwanderer, die einst überall in Afrika den die Wirtschaft tragenden Mittelstand bildeten,
noch nicht von den Schwarzen enteigenet und/oder vertrieben; man kann sie deshalb nicht ohne
weiteres mit dem Rest von "Schwarz-Afrika" vergleichen, Anm. Dikigoros.]
Potenzielle Reformstaaten wären Botswana, Südafrika, Namibia, Lesotho, Äquatorial-Guinea, Gabun,
Ghana und die Kapverden. Botswana, das in den vorherigen Jahrzehnten das höchste BIP-Wachstum zu
verzeichnen hatte, sieht aufgrund hoher Sterblichkeitsraten infolge von AIDS schwierigen Zeiten
entgegen. Südafrikas Transformationsprozess erscheint sehr kompliziert, da die Einkommens-
Verteilung bisher extrem ungleich geblieben und die Gesellschaft noch immer gespalten ist. Die
Konflikte auf dem Arbeitsmarkt verschärfen sich trotz einer akzeptablen Wirtschaftspolitik
weiter. In- und ausländische Investoren sprechen bezogen auf Südafrika von einem "instabilen
Klima".
Ghana galt jahrelang als Paradebeispiel für strukturelle Reformen, doch die ökonomische Lage ist
heute prekär. Agrarerzeugnisse dominieren die Exporte, der Preisverfall führt zu wirtschaftlicher
Stagnation, zumal es versäumt wurde, die Produktionsbasis in Boomzeiten zu diversifizieren. Die
Produktivität des industriellen Sektor ist extrem niedrig.
Für einen Durchbruch im Kampf gegen Armut, hohes Bevölkerungswachstum und niedrige
Investitionsraten brauchte diese Staatengruppe Wachstumsraten von sechs bis acht Prozent über
einen längeren Zeitraum hinweg. Dies dürfte besonders für Länder schwierig sein, die einseitig
von Ölexporteinnahmen abhängig sind.
Stagnierende LICs mit geringen Entwicklungschancen - zu dieser Gruppe gehören vor allem Uganda,
Kongo (Brazzaville) und die Elfenbeinküste, deren Potenzial oft überschätzt wird und die Züge
von Kriegsökonomien aufweisen.
Stagnierende LICs ohne langfristige Entwicklungschancen: Die meisten dieser Länder werden weiter
in einer Wachstumsfalle - dem Teufelskreis von Armut und bewaffneten Konflikten - verharren.
Auch Nigeria gehört dank seines 20-jährigen politischen und ökonomischen Niedergangs in diese
Kategorie, ansonsten Burkina Faso, Mali, Ruanda, Kenia, Tansania, Kamerun, Angola.
Länder ohne Perspektive - unter anderem müssen dazu kriegsgeschüttelte Staaten wie Sierra Leone,
Liberia, Guinea-Bissau, Äthiopien, Burundi und Kongo (Kinshasa) gerechnet werden, die immer
wieder im Chaos versinken.
Die Staaten der letzten drei Gruppen stellen etwa vier Fünftel aller Länder des subsaharischen
Afrikas dar und haben besonders unter disfunktionalen staatlichen Institutionen zu leiden. Aber
gerade politische Stabilität, sichere Eigentumsregelungen und ein auf Entwicklung fixierter
Staat sind im Sinne der oben angedeuteten Wachstumsoptionen unverzichtbar.
Der geringe Entwicklungsgrad des Humankapitals [Anm.: Ist das nicht eine tolle neue
Wortschöpfung? Nun weiß Dikigoros endlich, als was Wirtschafts-Wissenschaftler
die Menschen in erster Linie betrachten: als Kapital auf zwei Beinen - danke, Herr Professor,
man lernt doch nie aus!] verkompliziert die Lage zusätzlich - in den Städten ist ein
dramatisch beschleunigter Urbanisierungsprozess durch ein Anwachsen des informellen Sektors
geprägt. Damit besteht die Gefahr, dass fehlende makroökonomische Stabilität, eine bestehende
Renten-Mentalität sowie die disfunktionalen Aspekte einer informellen Ökonomie das
Wirtschaftsleben weiter durchdringen.
Auffallend ist weiter die geringe vertikale Ausrichtung der Produktion in vielen afrikanischen
Wirtschaften. Industriegüterexporte kommen in der Regel aus Ländern der Gruppe A und B oder
aus Staaten mit einem politisch motivierten Importsubstitutionsregime. Auf Länder der Gruppen C,
D und E, in denen der Export von Rohstoffen und Agrarprodukten vorherrscht, trifft das nicht zu.
Für Abhilfe könnten Investitionen aus dem heimischen Kapitalstock sorgen, doch dafür ist die
Sparquote zu gering. Die Investitionstätigkeit hängt demzufolge am Import von Kapital, das zu
großen Teilen aus Entwicklungshilfe stammt. Ohnehin würde in den meisten Ländern selbst eine
Verdopplung der Investitionsrate nicht zu dem für die Armutsbekämpfung notwendigen Wachstum
führen. Viele der LICs existierten nach wie vor in einer extremen Abhängigkeit von
Entwicklungshilfe. Ausländische Direkt- und Portfolioinvestitionen oder Bankkredite sind die
Ausnahme. Oft fließen die nicht rückzahlbaren Transfers als Rente in die Taschen der
neo-patrimonialen Eliten.
Geld für strukturelle Stabilität
Die Fähigkeit afrikanischer Gesellschaften, mit Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fertig
zu werden, hat sich eher verringert als vergrößert. Die Genese sozialer Institutionen ist dem
Tempo der modernen Welt nicht gewachsen. Stattdessen lässt sich angesichts des
Modernisierungsdrucks ein Verlust sozialer Kohäsion beobachten. Offenbar müssen viele Länder
als "strukturell nicht entwicklungsfähig" eingestuft werden.
Ein Memorandum für einen Neuen Start in der deutschen Afrika-Politik, das Ende 2000
von Afrikaexperten vorgestellt wurde, entwickelt Vorschläge, wie die hier beschriebenen
Entwicklungen in Rechnung gestellt werden können. Es plädiert für ein "Konzept der strukturellen
Stabilität" für die Länder der Gruppen C, D und E, indem Entwicklungshilfe künftig einer
"dauerhafte(n) Stärkung der fragilen und instabilen sozialen und politischen Institutionen und
Normen" gewidmet wird. Das heißt, verfügbare Gelder viel dezidierter den Institutionen der
Zivilgesellschaft und des Staates zugute kommen zu lassen. Sie müssen Vorrang haben und so
gestärkt werden, dass sich konstruktive, gewaltfreie Mechanismen zu Beilegung akuter
Interessenkonflikte entwickeln und die Konfliktpotenziale insgesamt entschärft werden.
Robert Kappel ist Professor am Institut für Afrikanistik der Universität Leipzig und Herausgeber des 1999 in Hamburg erschienenen Buches Afrikas Wirtschaftsperspektiven.
zurück zu Wer liebt noch Südwest?
heim zu Reisen durch edie Vergangenheit