/HEAD>

Spekulanten-Dämmerung: 1998 begann die gefährlichste Krise seit 1929

DIE FINANZBLASE WURDE GRÖßER

von Bruno Bandulet (Junge Freiheit vom 20.11.1998)

Was 1997 mit dem Zusammenbruch der südostasiatischen Währungen und Aktienmärkte begann, hat 1998 in immer größeren Wellen die ganze Welt erfaßt. Dies ist keine normale Korrektur der Aktienmärkte, sondern der Einsturz eines Kartenhauses, das über viele Jahre hinweg in einer Orgie der Spekulation aufgetürmt wurde.

Das jüngste Kapitel der Crash-Serie betraf einen der 4.000 bis 5.000 Hedge-Fonds, die meist in Steueroasen domiziliert sind und keineswegs Absicherungsgeschäfte betreiben, sondern mit großem Hebel und entsprechendem Risiko an sämtlichen Finanz- und Rohstoffmärkten spekulieren. Solche Hedge-Fonds sind den kleinen Anlegern verschlossen, sie arbeiten mit dem Geld reicher Leute. Abgesehen von den schwarzen Schafen der Branche, konnten diese Fonds seit langem überdurchschnittliche Renditen erzielen. Vieles, was sich in den vergangenen Jahren an den Märkten für Devisen, Aktien und Anleihen abgespielt hat, erklärt sich aus den Aktivitäten der Hedge-Fonds. Sie sorgen dafür, daß die Märkte einmal unter-, einmal überbewertet sind; denn nur nicht-effiziente Märkte mit "falschen" Preisen bieten ideale Gewinnchancen.

Da die Hedge-Fonds unreguliert sind und keiner Pflicht zur umfassenden Berichterstattung unterliegen, bleiben ihre Engagements und ihr Vorgehen undurchsichtig. Als der amerikanische Long Term Capital Management Fund (LTCM) im September am Rande des Abgrundes stand, erfuhr man zum ersten Mal, mit welch unglaublicher Hebelwirkung hier gearbeitet wird. Daß spekulative Fonds fünf- oder zehnmal soviel bewegen, wie sie Kapital haben, war schon immer üblich. Der LTCM aber kontrollierte bei Eigenmitteln in Höhe von nur 2,2 Milliarden Dollar zeitweilig einen Wertpapierbestand von 125 Milliarden!

Das moralische Ansehen vieler Banken ist lädiert

Erste Reaktion des staunenden Beobachters: Das ist deren Problem, jeder möge so spekulieren, wie er Lust hat. Dann stellt sich aber sofort die Frage: Wer hat Fonds wie den LTCM finanziert? Antwort: die Banken. Dieselben Banken, die einem mittelständischen Betrieb bei ungenügender Sicherheit eine halbe Million verweigern, machten Abermilliarden locker, damit im großen Casino des Weltfinanzsystems die Kugel rollte. Nicht nur das: die Großbanken beteiligten sich auch noch selbst am LTCM; und nicht nur sie, sondern auch Notenbanken wie die italienische!

Seit der LTCM-Affäre ist das moralische Ansehen der Geschäftsbanken und der Notenbanken (jedenfalls teilweise) lädiert. Die Kurse der Bankaktien sind meist um die Hälfte zusammen gebrochen, teilweise bis auf ein Niveau, das zuletzt in den achtziger Jahren erreicht wurde. Tatsache ist: die Banken haben mit den Hedge-Fonds zusammengearbeitet, sie haben die Kredite vorgestreckt; niemand sonst. Während die Investitionen in die reale Wirtschaft vernachlässigt wurden, war immer genügend Geld da, um das große Rad zu drehen. Es war die Zeit einer grotesken Derivaten-Schwemme; künstlicher Finanzprodukte, die natürlich auch den kleinen Anlegern aufgeschwatzt wurden.

Das System ist korrumpiert. Es ist ein System der Finanzkapitalisten und Oligarchen, die sich gegenseitig in die Tasche wirtschaften. Die Gewinne fließen auf das eigene Konto, die Verluste werden notfalls sozialisiert, mit Hilfe der Notenbanken abgefangen oder auch dem Steuerzahler aufgebürdet. An dieser offenen Verschwörung zu Lasten des Gemeinwohls waren viele beteiligt: One-World-Organisationen wie der Internationale Währungsfonds, der in Asien völlig versagt und immer nur die falschen Rezepte verschrieben hat; die Banken, die den Entwicklungsländern überflüssige und fatale Kredite aufgedrängt haben; und die Zentralbanken, die dem Treiben nicht nur zusahen, sondern sich in den letzten Jahren sogar einbildeten, sie müßten nun auch ihre Profite maximieren, anstatt ihre Währungsreserven sicher und seriös zu verwalten.

Als der LTCM dann am 23. September von einem Konsortium amerikanischer und europäischer Banken gerettet wurde, stand der amerikanische Notenbankchef Allan Greenspan Pate. Da fragt man sich, wessen Interessen er und seine Bank eigentlich vertreten.

Möglich wurde der wahnsinnige Aufbau dieser internationalen Kreditpyramide nur durch die Lösung vom Gold im Sommer 1971, als Präsident Nixon das "Goldfenster" schloß. Bis dahin waren die Devisenreserven der Notenbanken jederzeit in Gold einlösbar. Die Notenbanken konnten Dollars präsentieren und dafür Gold verlangen. Seit 1971 hat das Papiergeld seinen Bezug zu einem realen Wert verloren. Es wurde beliebig vermehrbar. Die Spieler konnten sich reich rechnen. Die Finanzblase wurde größer und größer. Was in den letzten Wochen und Monaten passierte, war genau genommen noch keine "Flucht in die Qualität", sondern eine kopflose Absetzbewegung aus allen möglichen Finanzanlagen. Wer in diesem Sommer aus den Aktien in Anleihen wechselte, floh nicht in "Qualität", sondern in Papiere, die nur auf kurze oder mittlere Sicht dafür gut sind, Geld zu parken, deren Wert jedoch im Zuge der unvermeidlich kommenden Reflationierung zerstört werden wird.

Was wir derzeit erleben, ist eine Kreditkontraktion, eine Flucht in das Bargeld. Das hat konkret zur Folge, daß auch gute Firmen in Japan und anderswo von ihrer Bank keine Kredite mehr bekommen und deswegen nicht investieren können. Dieser Effekt - er hat Europa noch kaum erreicht - ist dabei, sich auf die gesamte Weltwirtschaft auszubreiten. Greenspan versuchte, mit der jüngsten Diskontsatzsenkung gegenzusteuern. Das Problem ist nur: um das Zusammenfallen der Finanzblase aufzuhalten, sind im Notfall immer größere Gelder notwendig. Wenn beispielsweise auf der Basis einer Geldmenge von tausend Milliarden zehnmal soviel an Krediten mobilisiert wurde und wenn dieser Hebel von zehn auf fünf reduziert wird, kann eine Notenbank eine solche Kreditkontraktion kaum ausgleichen. Sie müßte Tag und Nacht Geld drucken. Auch Zinssenkungen als solche können dann nicht verhindern, daß das Soufflé in sich zusammenfällt. Daß steigende Zinsen immer schlecht für die Börse sind und fallende immer gut, ist eine Legende. Auch der Jahrhundertcrash im Herbst 1929 wurde von der amerikanischen Federal Reserve mit ständigen Zinssenkungen begleitet. Es war vergeblich. Innerhalb von zwei Jahren sank der US-Diskontsatz von 6 auf 1,5% - aber die Aktien fielen und fielen. Nicht anders war es in den vergangenen Jahren in Japan. Umgekehrt war die Börsenhausse 1924 bis 1929 an der Wall Street von einer Verdopplung des Diskontsatzes begleitet. Wie groß die notwendige Dosis an Geldspritzen werden kann, zeigt der Fall Japan: im Oktober beschloß das Unterhaus, rund 640 Milliarden Mark in das marode Bankensystem zu pumpen. Japan belastet sich mit einer drückenden Staatsverschuldung, die nach menschlichem Ermessen nur durch eine spätere Inflation erträglich zu machen ist. Besonders nur durch eine spätere Inflation erträglich zu machen ist. Besonders wichtig: am Beginn der katastrophalen Entwicklung in Japan stand keineswegs ein Versagen der realen Wirtschaft, sondern die Überspekulation am Aktien- und Immobilienmarkt.

Südostasiens Kollaps war überflüssig

Das Tragische an dieser Entwicklung: sie war unnötig. Selbst der Kollaps in Südostasien war überflüssig. Wie die Financial Times am 21. September berichtete, beliefen sich in den 1990er Jahren die Kapitalzuflüsse in die Entwicklungsländer auf nicht mehr als zehn Prozent der inländischen Investionen. Davon ging die Hälfte in die offiziellen Währungsreserven. Mit anderer Worten: Diese Nationen haben sich ruiniert, weil sie Kredite in Fremdwährungen aufnahmen, die sie im Grunde nicht brauchten und die sie wegen des Kollapses ihrer eigenen Währungen 1997/98 nicht mehr bedienen konnten. Richtiger wäre es gewesen, sich langsamer, solider und aus eigener Kraft zu entwicklen. Aber dann wäre der Finanzindustrie ein blendendes Geschäft entgangen.

Die Entwicklungsländer fanden sich plötzlich in der Situation von Banken, von denen alle ihr Geld abheben wollen. Der Fluch des Systems ist Kurzfristigkeit und Kreditexzeß. Nicht die Globalisierung als solche! Auch im 19. Jahrhundert war die Welt in dem Sinne globalisiert, daß das Kapital frei über die Grenzen fließen konnte. Nur vollzog sich dies damals langfristig und ohne die fatale Hebelwirkung. Wie Wirtschaftshistoriker herausfanden, waren es nicht mehr als 5.000 britische und 20.000 wohlhabende kontinentaleuropäische Familien, die ihr Geld auf lange Sicht in Aktien und Anleihen der Entwicklungsländer steckten und damit beispielsweise Eisenbahnen in Amerika und Goldminen in Südafrika finanzierten. Ab und zu ging eine Mine oder ein Schuldner pleite, aber nie auf Kosten der Steuerzahler! Das damalige System hatte auch seine Krisen und Crashs, korrigierte sich aber von alleine. Und der Goldstandard garantierte, daß Geld und Kredit nicht beliebig vermehrt werden konnten. Auch in unserer Zeit müßte es profitabel sein, in Südamerika und Südostasien zu investieren - wenn der moderne Finanzkapitalismus, der im Grunde mit der Marktwirtschaft gebrochen hat, das System nicht mißbraucht und denaturiert hätte.

Die Krise ist nicht ausgestanden, sie wird wieder und wieder an anderen Stellen ausbrechen. Brasilien erlebt seit Wochen hohe Kapitalabflüsse. Selbst Argentinien, dessen Währung fest an den Dollar gekoppelt ist, wird sich nicht halten können. Auf der Tagung von Weltbank und IWF im Oktober konnten sich die Argentinier zwar neue Kredite sichern. Aber diese reichen gerade aus, um den Schuldendienst bis zum ersten Quartal 1999 leisten zu können. Es wäre besser gewesen, die Südamerikaner und die Asiaten hätten sich nie in die Abhängigkeit der internationalen Banken und Finanzorganisationen begeben und sich statt dessen langfristiges privates Kapital für rentable und vernünftige Projekte gesichert.

In den Stürmen, die 1998 durch das Weltfinanzsystem fegten, stand Europa wie eine Festung - abgesehen von den Aktienmärkten, die hierzulande sogar schneller als in New York fielen, weil die Akteure Bargeld brauchten. Die Politiker reden sich nun ein, die relative Ruhe in Europa sei dem wunderbaren Projekt Euro zu verdanken. Man hat offenbar bereits vergessen, daß die Bundesbank in ihrem berühmten Konvergenz-Bericht klipp und klar feststellte, daß die meisten Euro-Teilnehmer die Voraussetzungen für das Währungsexperiment nicht erfüllen konnten. Wahr ist nach wie vor, daß der Maastrichter Vertrag schwerste Mängel aufweist, daß der Euro noch völlig unerprobt ist und daß Europa nur deswegen bisher von der Krise halbwegs verschont blieb, weil die Verantwortung für die Stabilität des Finanzsystems in den Händen der Bundesbank lag. Im Januar 1999 muß diese Bundesbank die Verantwortung abgeben. Niemand weiß bisher, an wen. Die Aufgabenteilung zwischen Europäischer Zentralbank und nationalen Notenbanken ist keineswegs eindeutig geklärt. Aufgrund der dubiosen Konstruktion des Maastrichter Vertrages kann die EZB in Krisenzeiten nur schwer als "lender of last resort" tätig werden, und dazu wird die Einflußnahme sozialistischer Politiker in Bonn und Paris kommen. Die Zinskonvergenz in der EU, durch die italienische Staatsanleihen wunderbarerweise fast auf den Wert deutscher Bundesanleihen angehoben wurden, war pikanterweise den Spekulationsgeschäften der Hedge-Fonds zu verdanken. So ließ sich die heile Euro-Welt vorgaukeln.