Mit dem Prozess gegen Slobodan Milosevic vor dem Tribunal in Den Haag hat die NATO eines ihrer Kriegsziele gegen die Bundesrepublik Jugoslawien erreicht. Für die Allianz stand es schon vor dem Kosovo-Krieg fest: Milosevic habe sich durch systematische Vertreibung der Kosovo-Albaner und vor allem durch Massaker an der Bevölkerung des Völkermordes schuldig gemacht. Nur durch eine "humanitäre Intervention" könne der Völkermord beendet und darüber hinaus die Voraussetzung
geschaffen werden, damit die Schuldigen gefasst und zur Abschreckung
anderer Diktatoren ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Die Bewertung
von Milosevics Auslieferung an den Haager Gerichtshof als "einen großen
Erfolg für die internationalen Bemühungen um Gerechtigkeit" durch Kanzler
Schröder liegt in der Logik der offiziellen Begründung der "humanitären
Intervention". So haben die Regierungen der NATO-Staaten für den
Kosovo-Krieg mit der Wiederherstellung der "Gerechtigkeit" nachträglich
einen weiteren moralischen Rechtfertigungsgrund. Dieser Deutung eines der
folgenreichsten Kriege in der jüngsten Geschichte kann in der Tat eine
gewisse Faszination nicht abgesprochen werden. Auf den ersten Blick
scheint die Argumentation schlüssig, zumal unbestreitbare Fakten, auf die
es für eine ehrliche Bewertung der Kriegsereignisse letztlich ankommt, mit
zunehmendem zeitlichen Abstand dem kollektiven Kurzzeitgedächtnis zum
Opfer fallen.
Nicht nur moralisch illegitim -
auch gänzlich überflüssig
Trägt man aber diesen Fakten
Rechnung und lässt die ganze Wahrheit Revue passieren, so wird eine
Schlussfolgerung zwingend, die der NATO-Version diametral entgegensteht.
Die Umstände, die den Sturz Milosevic erzwungen und nun zu dessen
Auslieferung nach Den Haag geführt haben, liefern eigentlich den Beweis,
dass der NATO-Krieg nicht nur moralisch illegitim, sondern auch gänzlich
überflüssig war. Schließlich hat nicht der Krieg, sondern das Versprechen
von Wirtschaftshilfe für den Sturz Milosevics und dessen Auslieferung den
entscheidenden Ausschlag gegeben. Mit den anderthalb Milliarden Euro
Wirtschaftshilfe - einem Bruchteil der auf zirka 100 Milliarden Dollar
geschätzten Kriegskosten -, den die Geberstaaten jetzt der serbischen
Regierung für den Wiederaufbau der zerstörten Industrie zur Verfügung
stellen wollen, hätte - gekoppelt an freie Wahlen - schon 1998 die soziale
und machtpolitische Grundlage des Milosevic-Systems zerbrechen und aller
Wahrscheinlichkeit nach die Gewalteskalation im Kosovo verhindert werden
können. Seit die Bundesrepublik Jugoslawien zu zerfallen begann, forderten
Pazifisten einen Marshall-Plan und andere kriegvorbeugende Maßnahmen für
den gesamten Balkan - vergebens. Nun gibt ihnen die NATO nachträglich und
freilich unbeabsichtigt Recht. Damit wird der Beweis geliefert, dass es
möglich ist, Diktatoren - nicht zuletzt jene, die sich nationalistische
Ideologien zulegen - viel konsequenter mit nichtmilitärischen Mitteln in
die Isolation zu treiben. Im Gegensatz dazu werden sie durch einen, als
Angriff auf die nationale Souveränität empfundenen Interventionskrieg eher
gestärkt. Noch schlimmer ist, dass ihre Verbrechen gegen Minderheiten im
Bewusstsein der Mehrheit moralisch sogar als legitim erscheinen.
Tatsächlich gelang es Milosevic, angesichts des sich anbahnenden
NATO-Intervention Ende 1998 und erst recht nach Kriegsbeginn im März 1999,
den serbischen Nationalismus zu schüren, ein rechtfertigendes Klima für
Verbrechen an den Kosovo-Albanern zu schaffen und die serbische Opposition
mit dem Vorwand der Vaterlandsverteidigung in die Enge zu treiben und so
das Ende seines Unrechtssystems sogar hinauszuschieben. So gesehen ist die
NATO für die Verlängerung von Milosevics Herrschaft und dessen Verbrechen
an den Kosovo-Albanern moralisch und auch rechtlich zumindest indirekt
mitverantwortlich. Die Genugtuung der NATO-Regierungen über den "Erfolg um
die Gerechtigkeit" ist nach dem äußerst einfachen Muster gestrickt, das
auf Vergesslichkeit und Geschichtsklitterung angelegt ist.
Es wäre
zweifellos humaner, politisch vernünftiger und hinsichtlich des
Ressourceneinsatzes auch rationaler gewesen, die jetzt in Aussicht
gestellten Wirtschaftshilfen im Vorfeld der Zuspitzung von
Gewaltkonflikten in die Eindämmung von Konflikten und die Verhinderung von
neuen Konflikten zu investieren.
Nicht nur
Serben, Kroaten und Albaner - auch die NATO sollte vor das Tribunal
Mir aber geht es jetzt nicht um nutzlose Schuldzuweisung, sondern
um die Zukunft und um die Lehren aus der Vergangenheit für die
Staatengemeinschaft, die mehr ist als nur die Gemeinschaft der
NATO-Staaten. Es geht um die Glaubwürdigkeit und die weltweite Akzeptanz
des internationalen Kriegsverbrechertribunals vor allem bei Völkern in den
von Unrechtssystemen regierten Staaten. Die Auslieferung Milosevics, die
allzu voreilig als ein Sieg für die UNO und die Menschenrechte gefeiert
wird, ist ein wichtiger Schritt. Die eigentliche Bewährungsprobe des
Gerichtshofs steht ihm allerdings noch bevor. Er hat der
Weltöffentlichkeit glaubwürdig den Nachweis zu liefern, dass er nicht dazu
da ist, nur die Feinde der NATO abzuurteilen, sondern das Völkerrecht, die
Menschenrechte und die Menschenwürde zu schützen. Die begangenen
Verbrechen auf dem Balkan bieten dem Gerichtshof dazu höchst aktuelle und
wichtige Gelegenheit. Er müsste auch die kroatischen Nationalisten wegen
ihrer Gräueltaten an den Serben in der Kraijna (was jetzt offenbar
geschieht) und die UÇK-Führung wegen der Verbrechen an der serbischen
Minderheit im Kosovo zur Rechenschaft ziehen. Selbst die demokratisch
legitimierten Regierungsverantwortlichen der NATO müssten vor das
Kriegsverbrechertribunal, sofern ihre Mitverantwortung für Aggression und
Kriegsverbrechen hinreichend belegt ist. Erst wenn es dem Gerichtshof
gelungen ist, den Ruf eines von den Interessen der Großmächte unabhängigen
UN-Gremiums zu erwerben, wird auch für den diktatorisch beherrschten
Staaten eine neue Perspektive eröffnet, mit mehr Mut und Hoffnung gegen
das eigene Unrechtssystem aufzubegehren.
Die Versuchung der
NATO-Regierungen ist sicherlich groß, den Prozess gegen Milosevic in Den
Haag als Triumph der Demokratie über die Diktatur zur Ablenkung von der
eigenen Mitverantwortung an den Verhältnissen auf dem Balkan zu
instrumentalisieren. Andererseits bietet dieser Prozess jedoch für sie und
besonders für die Bundesrepublik Deutschland eine neue Chance, die
Umstände, die zur Entscheidung für den schlechtesten aller möglichen Wege
zur Konflikteindämmung in Jugoslawien geführt haben, kritisch
aufzuarbeiten und aus möglichen Fehlentwicklungen richtige Lehren für die
Zukunft zu ziehen. Verfügt aber unsere Demokratie zu dieser, zugegeben
anspruchsvollen Aufgabe, über die nötige Phantasie und schöpferische
Kraft?
Mohssen Massarrat (geboren 1942
in Teheran) ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher am Fachbereich
Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück. In zahlreichen
Publikationen hat er sich unter anderem mit den Auswirkungen einer
globalisierten Ökonomie auf die Staaten Asiens, Afrikas und
Lateinamerikas, mit der Entwicklung des Welterdölmarktes sowie den
Konsequenzen der ökologischen Steuerreform der rot-grünen Bundesregierung
beschäftigt. Als bevorzugtes Forschungsgebiet des Gelehrten gelten auch
der Nahe und Mittlere Osten.
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