April 2001 • Nr. 4 • 56. Jahr • € 10 • H 2728

Ansprache des deutschen Bundespräsidenten, Johannes Rau, beim Bankett des indonesi-
schen Staatspräsidenten, Abdurrahman Wahid, am 19. Februar 2001 in Jakarta (gekürzt)

Betrifft: bilaterale Beziehungen – gegenseitige Achtung der Religionen – Vertiefung des Verständnisses.

(...)

Es ist ja kein Zufall, dass mich mein erster offizieller Besuch in Übersee in Ihr Land führt. Ich wäre froh darüber, wenn Sie das, statt vieler Worte, als ein Zeichen der tiefen Verbundenheit zwischen Indonesien und Deutschland verstehen könnten.

Die engen Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten und Völkern kennen wir ja alle. Wer aber weiß wohl, dass sie fast 500 Jahre zurückgehen, bis ins Jahr 1509, als ein gewisser Balthasar Sprenger im Auftrag eines Augsburger Handelshauses Asien bereiste und zum ersten Mal in deutscher Sprache von Malakka und von den Bandainseln berichtete? Was zog die Deutschen damals nach Indonesien? Sie kamen nicht als koloniale Eroberer:

Es waren Wissenschaftler, die Neugier trieb sie: Wer weiß heute noch, dass das physikalische Gesetz von der Erhaltung der Energie von dem Tübinger Robert Mayer entdeckt wurde – und zwar in Surabaya?

Es waren Missionare, die mit der Überzeugung kamen, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Ein nicht unbedeutender unter ihnen kam aus meiner Heimatstadt Wuppertal.

Es waren aber auch Kaufleute: Der Würzburger Franz von Siebold konnte im frühen 19. Jahrhundert den Teeanbau in Indonesien einführen; die Firma Siemens hat in Indonesien schon im Jahre 1855 – sieben Jahre nach ihrer Gründung – eine Vertretung eröffnet; Mercedes-Benz lieferte 1898 eins seiner ersten Autos nach Indonesien – es hatte die Bestellnummer 396.

Unsere Wirtschaftsbeziehungen sind also auf einem soliden Fundament. Und sie werden auch in den kommenden Jahrzehnten nicht an Intensität abnehmen. Dafür sorgen schon die menschlichen Bindungen, die sich mit dem Studium von 17 000 jungen Indonesiern in Deutschland entwickelt haben. Die haben nicht auf die Green-Card-Diskussion gewartet. Sie waren schon vorher da! Und selbst wenn man einen Blick auf die deutsche Geistesgeschichte wirft, dann scheint es da so etwas wie eine Wahlverwandtschaft zu geben:

Es gibt kaum einen wichtigen deutschen Schriftsteller, der vergangenen zwei Jahrhunderte, der nicht einen Bezug zu Indonesien in sein Werk aufgenommen hätte. Goethe machte sich sogar Gedanken über die Stadtplanung von Jakarta, dem damaligen Batavia.

Auch die politische Philosophie hat sich Anregungen aus der indonesischen Kultur geholt: Der Philosoph Ernst-Erich Haeckel hat Ende des 19. Jahrhunderts nach einem Besuch in Sumatra von der "segensreichen Folge des religiösen Friedens“ in Indonesien gesprochen, die "jeden freier denkenden Europäer angenehm berührt“. Er schreibt diesen Frieden "der Toleranz der verschiedenen nebeneinander bestehenden Konfessionen“ zu.

Wir brauchen diesen Geist der Toleranz auch heute noch. Mir scheint, dass es dieser Geist ist, der Ihrem Land in den vergangenen Jahren den Aufbruch zum demokratischen und rechtsstaatlichen Wandel gebracht hat. Ich wünsche Ihnen, Ihrer Region und der Welt, dass Indonesien als eines der bedeutendsten Länder der Erde auf diesem Weg weitergeht, der sich aus dem Geist der indonesischen Kultur neu entfaltet hat. Demokratie und Rechtsstaat brauchen, wenn sie lebensfähig sein wollen, die der Unterstützung aller politischen Kräfte und jedes Bürgers. Das gilt überall auf der Welt, im Orient und im Okzident, im Norden wie im Süden.

Dass die indonesische Verfassung keine Religion zur Staatsreligion erklärt, sondern alle Religionen unter staatlichen Schutz stellt, ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg dieses Weges. Ich vertraue darauf, dass sie sich auch beim Schutz der Kirchen bewährt, die in jüngerer Zeit Ziele von Angriffen geworden sind. Dass junge Moslems versucht haben, Kirchen zu schützen und dass ein junger Moslem dabei sein eigenes Leben geopfert hat, ist für mich das größte Zeichen der Hoffnung in dieser Zeit. Ich wünsche mir, dass in gleicher Weise auch Christen sich für den Schutz von Moscheen und Tempeln anderer Religionsgemeinschaften einsetzen. Die Kultur der gegenseitigen Achtung der Religionen brauchen wir heute weltweit mehr denn je. Bewahren Sie Ihre Tradition. In vielen Regionen der Erde muss sie erst noch entwickelt werden, und zwar dringend: Das Zusammenrücken der heutigen Gesellschaften durch die modernen technischen Möglichkeiten hat ja nicht nur materielle Vorteile für viele gebracht. Oft hat es auch eine elementare Angst vor der Begegnung mit dem Fremden verstärkt.

Die Toleranzfähigkeit ist auch in unserem Land, in Deutschland, zu einer zentralen gesellschaftlichen Frage geworden. Das Zusammentreffen christlicher und muslimischer Traditionen ist ja neu und ungewohnt. Wir wollen von den Erfahrungen anderer Länder lernen.

Ich bin Ihnen, Herr Präsident, deshalb dankbar, dass Sie sich mit mir an einer gemeinsamen Schirmherrschaft von inzwischen dreizehn Staatsoberhäuptern beteiligt haben, die es sich zum Ziel gesetzt hat, länderübergreifend Forschungsprojekte zur Vertiefung des Verständnisses zwischen den westlichen und den muslimischen Kulturen zu fördern.

Dass dieses Thema in Ihrem Lande sozusagen zuhause ist, ist ebenfalls ein Grund dafür, dass mir daran lag, zu meinem ersten Überseebesuch gerade nach Indonesien zu kommen. Ich freue mich deshalb auf das Rundgespräch, das wir morgen mit deutschen und indonesischen Experten zu diesem Thema führen werden. Ich freue mich darauf, in Jogjakarta die Denkmäler alter indonesischer Kultur besuchen zu können und Gespräche mit den Vertretern des modernen Islam zu führen. In Sumatra werde ich eine christliche Gemeinde der Batakkirche besuchen.

Ich wünsche mir, dass mit diesem Besuch deutlich wird, und dass es auch deutlich wird in meinem eigenen Land: Das Zusammenleben von Kulturen und Religionen ist möglich, ja, es ist selbstverständlich. Es ist fruchtbar, und es bereichert.

Offenheit und Toleranz zeichnet große Kulturen aus.

Offenheit und Toleranz löst und vermeidet Konflikte.

Offenheit und Toleranz fördert das geistige und materielle Wohlergehen der Menschen und der Völker.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, es ist die schwierige Aufgabe der Politik, einen Wandel möglich zu machen, der positive Kräfte freimacht für die Entwicklung von Gesellschaft und Kultur. Nur der Erfolg bei diesem Bemühen wird auch die Position unserer Staaten im internationalen Konzert bestimmen. Ich wünsche mir, dass Indonesien in diesem Konzert auch in Zukunft deutlich zu hören ist. Es ist das viertgrößte Land dieser Erde und das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung. Indonesische Stimmen haben wachsendes Gewicht im islamischen Denken. Für mich wurde das in sehr persönlicher Weise deutlich, als ich mit Ihnen, Herr Präsident, in Davos zum ersten Mal zusammentraf. In Ihren Worten kam toleranter Islam zum Ausdruck. Deswegen verdient Indonesien im weltweiten Dialog der Kulturen besonderes Gehör.

Quelle: Bundespräsidialamt, Berlin


Lügen, Lügen, nichts als Lügen. Wie es anno 2001 in Wahrheit um "Offenheit und religiöse Toleranz" im islamischen Indonesien bestellt war und ist, kann man hier sehen, Anm. Dikigoros

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