Touristen, die in den Bezirk Ajmer im indischen Wüstenstaat Rajasthan reisen, könnten sich bald
mit rigiden Benimm-Regeln konfrontiert sehen. Der Distriktmagistrat hat ein
20-seitiges Heft herausgegeben, das Ausländer über die indischen Sitten belehrt:
Demnach sind Händchenhalten, Küsse und Umarmungen in der Öffentlichkeit tabu.
Sogar ein Abschiedskuss am Bahnhof oder Flughafen ist unziemlich. Besonders
Frauen werden ermahnt: Sie sollten nicht mit Fremden reden, nicht rauchen,
keinen Alkohol trinken - das gelte als Zeichen loser Moral.
Das Büchlein ist das jüngste Resultat einer
Moraldebatte, die das Gandhi-Land erhitzt. Auch andernorts machen Tugendwächter
gegen lose Sitten mobil, die nach ihrer Ansicht aus dem Westen nach Indien
schwappen. In Tamil Nadu verdonnerte die Polizei Besucher eines Pornokinos dazu,
auf der Straße Liegestütze zu machen. In Chennai wurden zwei Manager eines
Nobelhotels vorübergehend verhaftet, weil in der hoteleigenen Diskothek Paare
schmusten. Und in Pushkar im Distrikt Ajmer musste ein Pärchen aus Israel 1000
Rupien Geldstrafe zahlen, weil es sich nach einer hinduistischen
Hochzeits-Zeremonie geküsst hatte - nicht wissend, dass dies religiöse Gefühle
verletzt.
Hauptziel der Moralwächter ist die populäre tamilische
Schauspielerin Khushboo. Seit Wochen sieht sich die 35-Jährige einer
regelrechten Hexenjagd ausgesetzt. Demonstranten bewerfen sie mit Tomaten, Eiern
und - in Indien eine der schlimmsten Schmähungen - Schuhen, verbrennen Plakate
mit ihrem Konterfei und drohen gar mit Mord. Das Vergehen der Schönen: In einem
Interview hatte sie gesagt, Sex vor der Ehe sei Ordnung, wenn sich die Frau vor
Aids und ungewollter Schwangerschaft schützt - und gebildete Männer erwarteten
nicht, dass eine Frau jungfräulich in die Ehe gehe.
Für Westler mögen
solche Äußerungen vernünftig klingen, zumal in Indien die Zahl der
HIV-Infizierten alarmierend steigt. In Indien entfesselten sie jedoch einen
Aufruhr, der sich zur nationalen Moral- und Kulturdebatte ausweitete. Hindu-,
Studenten- und Frauenverbände warfen Khushboo vor, das Ansehen der tamilischen
Frauen beschmutzt zu haben und Sittenverfall das Wort zu reden. Der südindische
Schauspielerverband ging auf Distanz zu ihr, 19 Klagen wurden eingereicht und
der so genannte Hindu-Weltrat VHP will sogar eine indienweite Kampagne gegen die
Aktrice starten.
Als die indische Tennisspielerin Sania Mirza jüngst
Khushboo vorsichtig beisprang, wurde sie selbst derart angegriffen, dass sie
ihre Äußerungen wenig später dementierte - und vorehelichen Sex verurteilte. Die
19-Jährige ist bereits Opfer religiöser Moralhetzer. Statt stolz auf die junge
Muslimin zu sein, die als eine der wenigen Sportlerinnen Indiens in der Weltliga
mitmischt, belegte ein bis dato unbekannter muslimischer Geistlicher sie mit
einem Bannstrahl - weil sie beim Tennisplatz Miniröcke trägt.
Viele
Westler denken bei Indien an das Kamasutra, das freizügig sexuelle Stellungen
lehrt. Tatsächlich aber ist die indische Gesellschaft in vielen Teilen zutiefst
konservativ und prüde, Kontakt zwischen Männern und Frauen ist weiter verpönt.
Frauen müssen mit einer perfiden Doppelmoral leben: Einerseits sind
Schauspielerinnen in Posen und Fummeln zu sehen, die für westliche Augen vulgär
anmuten. Andererseits gilt es im Alltag schon als anstößig, wenn sie ihre
Oberarme zeigen. Frauen, die unverheiratet mit einem Mann zusammenleben, werden
als beschmutzt angesehen. Und einige Politiker äußern öffentlich die Ansicht,
dass Mädchen, die enge Jeans tragen, selbst Schuld seien, wenn sie vergewaltigt
werden.
Die konservativen Tugendbewahrer machen nicht zuletzt den verderbten Einfluss des Westens für die neuen Sitten verantwortlich. Einige Touristen benehmen sich tatsächlich beschämend daneben. So marschierte in Pushkar eine Finnin nach einem Bad im heiligen See nackt durch die Straßen zum Hotel. Doch der jüngste Aufruhr ist mehr - er ist auch ein Wertekampf zwischen dem neuen und alten Indien. Während die meisten Ehen weiter von den Eltern arrangiert werden, begehren Teile der Jugend in Metropolen wie Bombay und Delhi gegen die altvordere Moral auf. Jungen und Mädchen gehen zusammen in Bars, haben vorehelichen Sex, nur sagen darf man es nicht. Immerhin wagen sich inzwischen
einige Journalisten, Prominente und Politiker aus der Deckung, um Khushboo
beizustehen. Jeder habe das Recht, seine Meinung zu äußern, sagte Indiens
Finanzminister Chidambaram. "Versuche, dieses Recht zu beschneiden, können nicht akzeptiert werden."
Die Tourismusbranche übt Kritik an der Benimm-Bibel von Ajmer: Sie könnte Reisende abschrecken. Immerhin drohen für unziemliches Benehmen Geldstrafen oder sogar Gefängnis bis zu sechs Monaten.
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