Prüderie im Land des Kamasutra

In Indien kämpfen Tugendwächter erbittert gegen moderne
Freizügigkeit / Benimm-Regeln verbieten Abschiedskuss

von Christine Möllhoff (FR, 14.12.2005)

Touristen, die in den Bezirk Ajmer im indischen Wüstenstaat Rajasthan reisen, könnten sich bald mit rigiden Benimm-Regeln konfrontiert sehen. Der Distriktmagistrat hat ein 20-seitiges Heft herausgegeben, das Ausländer über die indischen Sitten belehrt: Demnach sind Händchenhalten, Küsse und Umarmungen in der Öffentlichkeit tabu. Sogar ein Abschiedskuss am Bahnhof oder Flughafen ist unziemlich. Besonders Frauen werden ermahnt: Sie sollten nicht mit Fremden reden, nicht rauchen, keinen Alkohol trinken - das gelte als Zeichen loser Moral.

Straf-Übungen für Pornokinogäste

Das Büchlein ist das jüngste Resultat einer Moraldebatte, die das Gandhi-Land erhitzt. Auch andernorts machen Tugendwächter gegen lose Sitten mobil, die nach ihrer Ansicht aus dem Westen nach Indien schwappen. In Tamil Nadu verdonnerte die Polizei Besucher eines Pornokinos dazu, auf der Straße Liegestütze zu machen. In Chennai wurden zwei Manager eines Nobelhotels vorübergehend verhaftet, weil in der hoteleigenen Diskothek Paare schmusten. Und in Pushkar im Distrikt Ajmer musste ein Pärchen aus Israel 1000 Rupien Geldstrafe zahlen, weil es sich nach einer hinduistischen Hochzeits-Zeremonie geküsst hatte - nicht wissend, dass dies religiöse Gefühle verletzt.

Hauptziel der Moralwächter ist die populäre tamilische Schauspielerin Khushboo. Seit Wochen sieht sich die 35-Jährige einer regelrechten Hexenjagd ausgesetzt. Demonstranten bewerfen sie mit Tomaten, Eiern und - in Indien eine der schlimmsten Schmähungen - Schuhen, verbrennen Plakate mit ihrem Konterfei und drohen gar mit Mord. Das Vergehen der Schönen: In einem Interview hatte sie gesagt, Sex vor der Ehe sei Ordnung, wenn sich die Frau vor Aids und ungewollter Schwangerschaft schützt - und gebildete Männer erwarteten nicht, dass eine Frau jungfräulich in die Ehe gehe.

Für Westler mögen solche Äußerungen vernünftig klingen, zumal in Indien die Zahl der HIV-Infizierten alarmierend steigt. In Indien entfesselten sie jedoch einen Aufruhr, der sich zur nationalen Moral- und Kulturdebatte ausweitete. Hindu-, Studenten- und Frauenverbände warfen Khushboo vor, das Ansehen der tamilischen Frauen beschmutzt zu haben und Sittenverfall das Wort zu reden. Der südindische Schauspielerverband ging auf Distanz zu ihr, 19 Klagen wurden eingereicht und der so genannte Hindu-Weltrat VHP will sogar eine indienweite Kampagne gegen die Aktrice starten.

Als die indische Tennisspielerin Sania Mirza jüngst Khushboo vorsichtig beisprang, wurde sie selbst derart angegriffen, dass sie ihre Äußerungen wenig später dementierte - und vorehelichen Sex verurteilte. Die 19-Jährige ist bereits Opfer religiöser Moralhetzer. Statt stolz auf die junge Muslimin zu sein, die als eine der wenigen Sportlerinnen Indiens in der Weltliga mitmischt, belegte ein bis dato unbekannter muslimischer Geistlicher sie mit einem Bannstrahl - weil sie beim Tennisplatz Miniröcke trägt.

Viele Westler denken bei Indien an das Kamasutra, das freizügig sexuelle Stellungen lehrt. Tatsächlich aber ist die indische Gesellschaft in vielen Teilen zutiefst konservativ und prüde, Kontakt zwischen Männern und Frauen ist weiter verpönt. Frauen müssen mit einer perfiden Doppelmoral leben: Einerseits sind Schauspielerinnen in Posen und Fummeln zu sehen, die für westliche Augen vulgär anmuten. Andererseits gilt es im Alltag schon als anstößig, wenn sie ihre Oberarme zeigen. Frauen, die unverheiratet mit einem Mann zusammenleben, werden als beschmutzt angesehen. Und einige Politiker äußern öffentlich die Ansicht, dass Mädchen, die enge Jeans tragen, selbst Schuld seien, wenn sie vergewaltigt werden.

Gedankenlose Touristen

Die konservativen Tugendbewahrer machen nicht zuletzt den verderbten Einfluss des Westens für die neuen Sitten verantwortlich. Einige Touristen benehmen sich tatsächlich beschämend daneben. So marschierte in Pushkar eine Finnin nach einem Bad im heiligen See nackt durch die Straßen zum Hotel. Doch der jüngste Aufruhr ist mehr - er ist auch ein Wertekampf zwischen dem neuen und alten Indien. Während die meisten Ehen weiter von den Eltern arrangiert werden, begehren Teile der Jugend in Metropolen wie Bombay und Delhi gegen die altvordere Moral auf. Jungen und Mädchen gehen zusammen in Bars, haben vorehelichen Sex, nur sagen darf man es nicht. Immerhin wagen sich inzwischen einige Journalisten, Prominente und Politiker aus der Deckung, um Khushboo beizustehen. Jeder habe das Recht, seine Meinung zu äußern, sagte Indiens Finanzminister Chidambaram. "Versuche, dieses Recht zu beschneiden, können nicht akzeptiert werden."

Die Tourismusbranche übt Kritik an der Benimm-Bibel von Ajmer: Sie könnte Reisende abschrecken. Immerhin drohen für unziemliches Benehmen Geldstrafen oder sogar Gefängnis bis zu sechs Monaten.


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