Pioniere im wilden Osten

Das andere Deutschland: Eine Reise durch
die DDR zwischen Mauer und Auflösung

von Stephan Hamacher

Die Bahnreise von Hamburg nach Westberlin war beschwerlich genug: Fünf Stunden lang rauschte in brütender Hitze eine fremde und doch vertraute Landschaft vorbei. Ab und zu ein Halt, ein rotes Plakat mit der gelben Aufschrift: "Von der Sowjetunion zu lernen heißt Siegen zu lernen". Am Bahnsteig ein Soldat mit geschultertem Gewehr. Ich war zum ersten Mal in der DDR. Nicht wirklich, denn ich saß im Zug und ließ den Sozialismus mit Durchschnittstempo 56 Kilometern pro Stunde an mir vorbeirauschen.

Durst befahl mir den Slalom durch ratternde, überfüllte Zugwaggons. Fünf Wagen weiter warteten westliche Limo-Dosen im östlichen Reichsbahn-Abteil. Doch ich hatte Pech: Die Grenzkontrolle suchte mich weit hinter Schwanheide heim und verlangte Einsicht in meinen Pass. Der aber befand sich endlose 250 Meter in der Gegenrichtung auf meinem Sitz. Ohne Pass kein Getränk: Erst tief im Brandenburgischen ergatterte ich mir einen ersten Schluck. Damals 1981 - verlief die Mauer nicht nur in Berlin, sondern auch mitten durch die handvoll Züge, die zwischen den beiden größten deutschen Städten verkehrten. Die BRD saß vorn, die DDR hinten, dazwischen befand sich eine verriegelte Tür - ganz wie im richtigen Leben.

In Westberlin ersparte ich mir den Zwangsumtausch für den Blick hinter die Mauer. Statt dessen stieg ich wie viele andere nahe des Brandenburger Tores auf ein Podest und lugte hinüber. Und die Uniformierten dort drüben lugten durchs Fernglas zurück. Der Kalte Krieg hatte auch seine komischen Seiten.

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Neun Jahre später ist die Mauer weg. Und die Quadriga am Brandenburger Tor ebenfalls. Sie wurde in der Silvesternacht ramponiert, doch im Vergleich zum Rest der jetzt offenen DDR sieht das Brandenburger Tor noch gut aus. Der Schock gleich hinter der hessisch-thüringischen Grenze: In Eisenach verfallen ganze Häuserzeilen; im einst so schmucken Fachwerkstädtchen nahe der Wartburg herrscht eine gespenstische Stille, auf den Straßen ist kaum jemand zu sehen. Hinter den trüben Fensterscheiben eines Lebensmittelgeschäfts tummeln sich die Tante-Emma-Ladenhüter: Schattenmorellen im Einmachglas, VEB-Chemie und LPG-Kartoffeln. Eine trostlose Konservenriege hält einsam die Stellung.

Im Jahr eins nach der Wende herrscht Aufbruchstimmung vor einer Abbruchkulisse. Doch das Bild trügt: Nicht alles, was marode aussieht, ist den Baggern zum Opfer gefallen. Der Arbeiter- und Bauernstaat hatte ausreichend Arbeiter und Bauern, aber nicht genügend Geld und Material, um den schleichenden Verfall zu stoppen. Die A 4 verbindet von Schlagloch zu Schlagloch die verblühte Kultur Ostdeutschlands: Eisenach, Erfurt, Weimar, Dresden.

Im einstigen Elbflorenz prangt gleich neben den Trümmern der Frauenkirche ein großes Schild: "Die Dresdner Bank endlich wieder in Dresden." (Wenig später war sie pleite - sie hatte sich in der Ex-DDR übernommen - und wurde von der Commerzbank geschluckt, Anm. Dikigoros) Das Geldinstitut mit dem grünen Band der Sympathie ist in einem provisorischen Container untergebracht. Auf der Prager Straße bummeln die Menschen mit Alditüten durch das zubetonierte Herz der Stadt. Sie schauen auf die hässlichen Bauten des real untergegangenen Sozialismus auf übergroße, martialisch dreinblickende Abbilder des von der SED geformten Einheitsmenschen.

Nur wenige Westdeutsche nehmen im Sommer 1990 ihr neues altes Land in Augenschein. Diejenigen, die es tun, kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was ist schon eine Reise nach Australien oder zum Nordpol gegen diese dem Untergang geweihte fremde Ostdeutsche Heimat?

Oder ist dies die unheimliche Fremde? Von der Festung Königstein in der Sächsischen Schweiz weht Schwarz, Rot und Gold - ohne Hammer und Zirkel. Hoch über der Elbe begegnen sich Deutsche aus Ost und West. Noch stimmen sie das hohe Lied auf die Freiheit an, schütteln sich die Hände. Noch spricht niemand vom arroganten Wessi und vom nichtsnutzigen Ossi, noch klagt niemand über Arbeitslosigkeit und Solidaritätszuschlag, über Eroberungsmentalität und Duckmäusertum. - Auf den viel belächelten Leukoplastbombern der Marke Trabant wurden die letzten beiden Buchstaben des Länderkennzeichens DDR durchgestrichen: Wir sind wieder ein Volk!

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Die DDR unter Lothar de Maiziere, der vom Satire-Fernsehen West als lispelnder, spuckender kleiner Bruder des Überkanzlers Helmut Kohl verulkt wird, sie ist im Jahr zwischen Wende und Deutscher Einheit eine große Unbekannte mit offenen Fragen für alle. Noch ahnt niemand, was die Sanierung des noch vor kurzem abgeriegelten Trakts der deutschen Doppelhaushälfte kosten wird, doch schon beginnt die äußerliche Verwestlichung des Ostens. Im Weimarer Ratskeller gibt es noch die Sättigungsbeilage, draußen vor der Tür aber wird schon gebaggert und eingerüstet, was das Zeug hält. Noch tuckern Trabis über den löchrigen Asphalt, doch schon sieht man die ersten Wirtschaftswunderlandlimousinen. Und es wird klar: Hier wird bald nichts mehr so sein, wie es einmal war.

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Begegnung in Meissen. Der Kunde West bestellt ein "halbes Hähnchen". "Einen Broiler?", sächselt die Verkäuferin Ost aus dem Imbisswagen. Brav gibt sie das Wechselgeld zurück. Als der Kunde West ungläubig in seine Hand blickt, nimmt sie schnell das blecherne Geldstück zurück und tauscht die DDR-Pfennige gegen Westgeld. "Sie sind wohl nicht von hier?

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Begegnung im Brandenburger Braunkohle-Tagebau bei Senftenberg. Im riesigen Niemandsland führt ein Ingenieur Ost Journalisten West durch die von Menschenhand errichtete Wüste. Jede dritte Frage nach Zahlen, Fakten und Daten kann er nicht beantworten. Kann oder will er nicht beantworten, denken sich die Gäste. Erstes Misstrauen. Nur eines nehmen sie dem Ingenieur ab: Die Frage nach der Zukunft, die kann er nun wirklich nicht beantworten.

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Bad Kühlungsborn, Ostsee. Es steht in den Zeitungen, und die Leute sprechen auf der Straße darüber: Es soll reiche Westdeutsche geben, die die ganze schmucke Uferpromenade samt Hotels aufkaufen wollen. Und auch auf Rügen wurden schon dicke Mercedes-Fahrzeuge gesichtet, aus denen Männer mit edlen dunklen Anzügen stiegen. Die Atmosphäre ist irgendwie vergiftet. Am Strand warnt ein Schild: "Vorsicht vor Kreuzottern."


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