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Wie die Schlachthäuser für Tiere an das Menschenopfer erinnern

Kulturkommentar von Ulrike Baureithel

(Freitag, die Ost-West-Wochenzeitung, 19.01.2001)

(Links und Anmerkungen: Nikolas Dikigoros)

In den 1920er und 1930er Jahren, als die USA noch nicht im Sechsstundenflug erreichbar war und deshalb die Vorlage für Projektionen aller Art bot, galt es unter deutschen Literaten als chic, zumindest einmal einen Bericht aus der Neuen Welt ins alte Europa zu schicken. Neben Hollywood und den Ford-Fabriken in Detroit, die gefeiert wurden als Inbegriff kapitalistischer "Gleichzeitigkeit", waren es eigenartigerweise auch die Schlachthöfe von Chicago, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft entwickelten und die sensiblen Nerven der Geistesarbeiter herausforderten.

Von Upton Sinclair als erstem dokumentarisch ins Bild gesetzt, war es die technisch ausgeklügelte Maschinerie des Massentötens die die Besucher, Männer und übrigens auch Frauen, gleichermaßen faszinierte und abstieß. Die Verwandlung der scheinbar nutzlosen Tiere in eine produktive Kraft und die anschließende Überführung aller ihrer organischen Teile in eine verwertbare Ware ließen die geschockten Schlachthaustouristen all das Blut und Widerliche ertragen, das mit der industriellen Schlachtung der hilflosen Tiere einherging.

Die Schlachthöfe von Chicago gelten als Beginn der industriellen Tierverwertungswirtschaft. Die morbide Neugierde der Amerikareisenden, die ihre Beobachtungen in den Schlachthäusern nur aushielten, indem sie selbst den "automatischen" Blick einübten, waren grundiert von den Erfahrungen eines Krieges, der das massenhafte Menschenschlachten erstmals scheinbar neutral und ohne Anschauung des Gegners inszenierte. Unwillkürlich fühlten sich die Schlachthausflaneure beim Anblick der Tiere erinnert an das abstrakte Menschenopfer, das der industrialisierte Krieg gefordert hatte; nur gelegentlich erinnern die Berichte daran, dass menschliche Freßsucht die Tiere dem mechanisierten Schafott zuführte.

Das Bild des im tierischen Schlachtprozess verdrängten Menschenopfers scheint auch in den Erinnerungen Hans Ulrich Treichels an die 1950er Jahre in Ostwestfalen auf. In seinem Roman Der Verlorene, in dem das große Schweigen der Nachkriegszeit thematisiert wird, begeht die Familie des Erzählers zwei mal jährlich ein rituelles Schlachtfest. Während dem angeekelten Kind die Aufgabe zukommt, das ausgelassene Schweineblut - "Lebenssaft", wie der Vater es nennt - in der Milchkanne nach Hause zu transportieren, führt die Mutter den frischen, noch blutigen Schweinekopf den unterschiedlichsten Verwertungen und Konservierungen zu, so daß er vom Frühjahr bis zum Herbst und wieder zum Frühjahr ausgibt. Der Höhepunkt des Schlachtrituals jedoch bildet der Verzehr des Schweinehirns, zu dem die Verwandten geladen werden und das zu vertilgen auch das verstörte Kind genötigt wird. Begleitet wird die grausige Mahlzeit von der unendlichen, hysterischen Rede über das Schlachten, in der das Schlachtfest der Nazis aufscheint. (Wie bitte? Hitler war Vegetarier, Anm. Dikigoros)

Seitdem die BSE-Krise der industriellen Verwertung zumindest von Rindern ein vorläufiges Ende beschert hat (für wenige Monate, Anm. Dikigoros - der das schreiben darf, da er selber kein Rindfleisch ißt) und deren Tötung noch nicht einmal mehr mit dem rationellen Nutzen legitimiert werden kann, gerät auch die Verwertungslogik in Misskredit. Die Tierkörper, die in den Schlachthöfen von Chicago bis zum letzten Knochen und Blutstropfen ihrer Rückführung in die menschliche Nahrungskette zugeführt wurden; der Schweinekopf, der in den 1950er Jahren in gekochtem, gebratenem, gedörrtem oder eingewecktem Zustand auf den Tisch kam und das "große Fressen" ankündigte: Alle diese kalten Auges abgesegneten Tötungen verlieren ihren Sinn: Nicht nur im Hinblick auf den selbsterhaltenden Nutzen für den Menschen, sondern auch hinsichtlich des symbolischen Surplus, der Verdrängung des Todes aus unserer Lebenswelt. Lyrische Gesänge aus den BSE-Schlachthäusern sind kaum zu erwarten, denn nun sind wir bei uns selbst angekommen.

Darauf hat kürzlich Durs Grünbein in einem luziden Essay aufmerksam gemacht. Er stellt fest, dass sich im ständig beschleunigten Receycling aller verwertbaren Nahrungsmittelressourcen mittlerweile der streng tabuisierte "kannibalistische Trieb" des Menschen offenbare. Noch würden nur den ursprünglichen Pflanzenfressern ihre Artgenossen zum Frühstück vorgesetzt werden, doch der inzestuöse Selbstverbrauch kündige sich bereits an.

In der Tat: Noch wird auf den feinen Speisekarten das ris de veau noch nicht so bald ersetzt werden durch ein ménu cerveau. Doch machen wir uns längst anderer Einverleibungen unserer Spezies schuldig: Seien es die Organe angeblich Verstorbener oder das menschliche Embryonen"material". Das Menschenopfer ist allgegenwärtig.


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