Modernisierung des Islam oder
Islamisierung der Moderne?

Zur Diskussion um Islam und Politik

von Jörn Schulz (Kommune 11/1996)

mit einer Nachbemerkung von N. Dikigoros

Seit der US-Politologe Samuel P. Huntington für das kommende Jahrhundert einen "Zusammenprall der Zivilisationen" voraus sagte und die islamische Zivilisation als Hauptkonkurrenz des Westens identifizierte, schlagen die Wogen der Diskussion hoch. Huntington belebte die These von der Unvereinbarkeit des Islams mit westlicher Modernität, eine These, die in den letzten Jahren heftig angegriffen wurde, aber weiterhin bedeutende Befürworter in der Wissenschaft hat. Sind die Gemeinsamkeiten zwischen den islamischen Gesellschaften groß genug, um eine islamische Zivilisation als politische und kulturelle Einheit zu bilden?

Bassam Tibi und Bernard Lewis bejahen dies: Die islamische Welt ist grundsätzlich verschieden von der des Westens, denn die Zugehörigkeit zur islamischen Zivilisation bedingt eine andere Art, die Welt zu sehen. Daraus folgt eine grundlegende Ablehnung der westlichen Zivilisation, die zwar nicht unauflösbar ist, aber doch leicht zum Konflikt führen kann. Eine oberflächliche Betrachtungsweise, meinen Reinhard Schulze und Aziz Al-Azmeh, denn seit der napoleonischen Eroberung Ägyptens ist die islamische Welt Teil einer westlich dominierten Welt und gehorcht deren Gesetzen. Man darf sich nicht von der islamischen Rhetorik täuschen lassen, denn dahinter verbergen sich die gleichen Bewegungen, die auch im Westen und in anderen Teilen der Welt zu finden sind.

Islam und Westen: polare Gegensätze oder verfeindete Zwillinge?

Im deutschsprachigen Raum ist Bassam Tibi wohl der bekannteste und renommierteste Verfechter der These von einem vormodernen, mit westlichen Werten unvereinbaren Islam. In Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus beschreibt er unter Bezug auf die Huntingtonsche These die zivilisatorische Differenz und diskutiert ihre möglichen Folgen. Er stellt islamische und westliche Konzepte anhand der Gegensatzpaare Volkssouveränität - Gottesherrschaft, Menschenrechte - Sharia und internationales Recht - Jihad-Da'wa-Doktrin gegenüber und kommt zu dem Schluß, daß beide unvereinbar seien.

Trotz einiger Differenzierungen geht Tibi hier von der Existenz einer islamische Position aus, dabei fallen sowohl der traditionelle "Volksislam" als auch säkulare Interpretationen von Islam und Politik unter den Tisch.1 Darüber hinaus betrachtet Tibi diese Position als statisch und ignoriert die Möglichkeit einer inneren Entwicklung, obwohl die islamische politische Theorie sich gerade in den letzten hundert Jahren als überaus wandlungsfähig erwiesen hat. Eine ähnliche Tendenz zur Vereinfachung und statischen Betrachtungsweise zeigt sich bei der Behandlung des Verhältnisses von Ethnizität und Nationalstaat. Der Nationalstaat, nach Tibi die zentrale Organisationsform der Moderne, ist von zwei Seiten bedroht: durch die lokalen ethnischen Kulturen und das übergreifende Zivilisationsbewußtsein.

Tibi betont einerseits, daß ethnische Gruppen keine festen Größen sind und der Klientelismus im Kampf um Macht und Reichtum erst zu Auseinandersetzungen führt, andererseits mutieren die ethnischen Gruppen in seiner Darstellung dann doch wieder zu unwandelbaren Einheiten, die eine nationalstaatliche Integration verhindern. Tibi entpolitisiert die Auseinandersetzungen in der Region, indem er sie auf einen wertfreien Konkurrenzkampf ethnischer Gruppen reduziert, und er isoliert die nahöstliche Politik aus ihrem weltpolitischen Zusammenhang.

"Wenn Soldaten der westlichen Zivilisation (...) am Golf stationiert werden, sind sich Araber und Perser, Schiiten und Sunniten als Gegen-Zivilisation einig; sind sie unter sich, wie im ersten Golfkrieg, dann führen sie Krieg gegeneinander. Diese Komplexität läßt sich nicht durch einfache Formeln schlecht informierter Journalisten und Schreibtisch-Wissenschaftler auflösen." Einmal abgesehen davon, daß ein Schreibtisch-Wissenschaftler doch wohl so etwas ist wie ein Acker-Bauer, wird hier deutlich, wie Tibi trotz seiner guten Informationen eine komplexe Realität in vorgefertigte Schablonen preßt.

Dabei gehen einige nicht unbedeutende Tatsachen unter. Der erste Golfkrieg war ein irakischer Eroberungskrieg (auch wenn Khomeinis Starrsinn den Krieg dann um sechs blutige Jahre verlängerte), und wer Motive und Verlauf dieses Krieges nicht etwas sorgfältiger untersucht, kann die weitere Entwicklung in der Golfregion nicht verstehen. Zentral hierfür ist auch die internationale Dimension; es ist mir ein Rätsel, wie man angesichts des Iran-Contra-Skandals und des zeitweise direkten Eingreifens der US-Marine in das Kriegsgeschehen (um nur die augenfälligsten Beispiele zu nennen) behaupten kann, "Araber und Perser" seien in diesem Krieg "unter sich" gewesen.

Tibi konstruiert Zivilisationen als Idealtypen und macht sie zu historischen Subjekten. Er relativiert die Thesen Huntingtons, indem er klarstellt, daß die Zivilisationen keine monolithischen Blöcke sind, sondern sich aus lokalen Kulturen zusammensetzen. Gegenwärtig würde sich die islamische Zivilisation nur in der Abwehr gegen den Westen zusammenfinden, für die Zukunft allerdings sagt Tibi ein wachsendes "Zivilisationsbewußtsein" voraus. Aber kann die Tendenz zur Bildung multinationaler Blöcke mit dem Begriff der Zivilisationen überhaupt angemessen erfaßt werden?

Ich halte das Zivilisationsschema Huntingtons (westlich, islamisch, konfuzianisch, japanisch, hinduistisch, slawisch-orthodox, lateinamerikanisch) für recht willkürlich. Wenn der Hinduismus eine Zivilisation begründet, warum nicht der Buddhismus? Warum muß Afrika wieder einmal "unzivilisiert" bleiben? Konstruktionen dieser Art lassen sich weder widerlegen noch beweisen. Ihre Verteidiger können, wie Al-Azmeh anschaulich beschreibt, auf offensichtliche Unterschiede verweisen: Ein Kopftuch ist nicht das gleiche wie eine Punk-Frisur. Andererseits fällt es nicht schwer, eine andere Einteilung zu ersinnen und beispielsweise eine katholische oder schiitische Zivilisation zu erfinden. Die Frage ist nur: was soll's?

Jede Gesellschaft konstruiert Gruppenidentitäten, und diese Identitäten sind nicht schon deshalb "falsch", weil sie erfunden sind. Es geht also um die Frage, welchen Erkenntniswert diese Zivilisationslehre hat und welche Ziele damit verfolgt werden. Nun gehört Tibi nicht in die Kategorie der Feindbildproduzenten, aber der Erfolg der Theorien vom "Krieg der Zivilisationen" hängt sicher mit dem Bedürfnis nach Feindbildern zusammen, deren Bedeutung für das westliche Bewußtsein sich ja nicht in der Rechtfertigung neuer Rüstungsprojekte erschöpft. Islam und Westen, so meint Michael Lüders, sind "wie verfeindete Zwillinge. Im jeweiligen Bild des Anderen entdecken sie das verdrängte Unbewußte des eigenen Ichs und reagieren angstvoll: mit kulturellen Stereotypen."

Feindbild Westen

Nach zahlreichen Abstechern in ethno-soziologische und historische Gefilde, die immer wieder Aspekte der nahöstlichen Realität sichtbar machen, endet Tibis Darstellung in einem solchen kulturellen Stereotyp. Er leugnet die Veränderbarkeit der islamischen Zivilisation nicht, hält dies aber für sehr unwahrscheinlich. Trotz geringer Erfolgsaussichten sei der Dialog das einzige Mittel, eine Konfrontation zu vermeiden. Was aber soll bei einem Dialog herauskommen, der aus der Position einer bornierten westlichen Selbstgefälligkeit propagiert wird, die ebensowenig wie die fundamentalistischen Dogmatik bereit ist, eigene Standpunkte in Frage zu stellen oder gar von anderen etwas zu lernen?

"Der Westen" ist kein neutrales Wertesystem, das man annehmen oder ablehnen kann, sondern eine überall in der islamischen Welt präsente Macht. Und es müssen wohl auch ein paar Abstriche gemacht werden am Bild des Westens als eines Hortes von Rationalität und Humanismus, gerade in der westlichen Nahostpolitik ist von beidem wenig zu spüren. Das Feindbild Westen in der islamischen Öffentlichkeit hat deshalb größere sachliche Berechtigung als die westliche Angst vor der "islamischen Gefahr", drückt sich aber ebenso in kulturellen Stereotypen aus.

Zweifellos hat dieses Feindbild Westen eine psychologische Dimension. "Auch nach der Befreiung mußte der intelligente und feinfühlige Araber die weiter bestehende Unterordnung seiner Kultur unter die des Westens spüren", schreibt Bernard Lewis in Der Atem Allahs. Weiterhin benötigte man westliche Technologien und Waffen, auch die Ideologien ("selbst die antiwestlichen") und die Forschungen über die arabisch-islamische Kultur blieben abhängig vom Westen. "Selbst ... die Geräte und Annehmlichkeiten seines Alltagslebens waren Symbole der Knechtung durch eine fremde und dominante Kultur, die er haßte und bewunderte, nachahmte, aber nicht teilen konnte." So wurde der Westen zum "großen Versucher", was nach islamischer Lehre eine der Eigenschaften Satans ist.

Tibi ist der liberale Idealist des Kulturalismus, Bernard Lewis dessen konservativer Realist. In Der Atem Allahs schildert er den konkreten historischen Prozeß der islamisch-westlichen Konfrontation. Auch er geht von einer islamischen Zivilisation aus, die maßgeblich durch die Religion bestimmt wird, sieht aber ein demokratisches Potential: "Einige Merkmale der traditionellen islamischen Zivilisation, etwa Toleranz, soziale Mobilität und Achtung vor dem Gesetz, begünstigen eine demokratische Entwicklung eindeutig."

Der Westen, so Lewis, zerstörte die nahöstliche Ordnung, die Übertragung westlicher politischer Konzepte scheiterte jedoch, weil die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlten. Weder konnte der elitäre Parlamentarismus der Großgrundbesitzer demokratisches Bewußtsein schaffen, noch konnten Nation oder Sozialismus von oben verordnet werden. Über viele politische Urteile in diesem Buch ließe sich streiten, und einige Bemerkungen über "die innere Einstellung des Orientalen" liegen schon hart an der Grenze zum Rassismus. Dennoch werden die Ursachen der islamisch-westlichen Konfrontation hier klarer als in den bürokratischen Konstruktionen Tibis.

Islamische Geschichte als Weltgeschichte

Auch in der Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert von Reinhard Schulze ist die islamisch-westliche Konfrontation eines der zentralen Themen. Hier wird die islamische Geschichte als Teil der Weltgeschichte behandelt. Drei Charakteristika haben nach Schulze die Entwicklung der islamischen Welt in diesem Jahrhundert bestimmt. Der Territorialstaat war die erste Konstante, auf die sich alle Strömungen bezogen, auch jene, die staatsübergreifende Zusammenschlüsse anstrebten. Die zweite Konstante war der Versuch, eine eigenständige islamische Position innerhalb der westlich dominierten Moderne zu formulieren; Schulze stellt auch die säkulären Ideologien in diesen Kontext. Schließlich war die islamische Welt geprägt vom Stadt-Land-Konflikt, dem Machtkampf zwischen agrarkapitalistischem Großgrundbesitz und städtischem Nationalismus.

Schulze bietet eine faktenreiche Darstellung, die auch einen großen Teil der islamischen Peripherie (Mittel- und Südostasien) einbezieht. Gemessen am allgemeinen Anspruch des Titels gibt es einige Lücken, Schulze konzentriert sich auf die politisch aktiven Kräfte, so daß deren gesellschaftliche Basis und die sozialen Veränderungen recht knapp behandelt werden. Dennoch gehört seine Interpretation zu den wichtigsten Beiträgen in der aktuellen Diskussion um Islam und Politik.

"Ein mit islamischen Termini und Symbolen ausgestatteter Diskurs muß nicht religiös sein", und der europäische Diskurs sei "in erster Linie eine äußere Form und verfügt keineswegs über einen besonderen Inhalt." Deshalb können "islamische Termini und Symbole stets in ,europäische` und umgekehrt ,europäische` in islamische übersetzt werden." Dieses code switching ermögliche es jeder Strömung und gesellschaftlichen Gruppe, ihre Forderungen in islamischen Begriffen zu formulieren. "Die islamischen Ideologien stellten im Wesentlichen nur eine islamische Interpretation globaler Ideologien dar."

Diese Interpretation ist nicht grundsätzlich neu, wurde hier aber meines Wissens erstmals systematisch dargestellt und empirisch belegt. Schulze neigt dazu, die Welt ein wenig zu sehr um seine Idee anzuordnen. Seine Parallelisierungen tendieren manchmal dazu, existierende politische Differenzen zu verwischen. Daß im Alltagsleben der islamischen Welt die Religion eine ungleich größere Bedeutung hat als im Westen, ist keine Nebensächlichkeit. Zuwenig Beachtung wird auch dem autoritären, oft antidemokratischen Charakter oppositioneller Bewegungen geschenkt, die hier allzu umstandslos einer islamischen Zivilgesellschaft zugerechnet werden. Insgesamt aber belegt er überzeugend, wie sehr die nahöstliche Politik mit der internationalen Politik verwoben ist und daß von einer isolierten, vormodernen Entwicklung der islamischen Welt keine Rede sein kann.

Es klingt sehr optimistisch, wenn Schulze meint, es sei "zu erwarten, daß sich der Charakter des Politischen radikal wandelt und daß die Öffentlichkeit durch neue Merkmale bestimmt wird, die nicht mehr mit den klassischen ideologischen Denk- und Deutungsmustern gleichzusetzen sind." Strömungen, die sich dem orthodoxen und islamistischen Diskurs verweigern, haben - sofern sie sich überhaupt artikulieren können - einen schweren Stand. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das Schicksal des ägyptischen Literatur- und Islamwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid, der auf höchstrichterlichen Beschluß zum Ungläubigen erklärt und von seiner Frau zwangsgeschieden wurde.

Islam-Interpretation jenseits von Fundamentalismus und Orthodoxie

Sein Buch Islam und Politik - Kritik des religiösen Diskurses sei allen empfohlen, die sich näher mit der innerislamischen Diskussion und den Möglichkeiten säkularer Islam-Interpretation beschäftigen wollen. Abu Zaid, dessen frühere Werke bereits heftig angefeindet wurden, entfaltet auf der Grundlage erkenntnisheoretischer Überlegungen seine Argumentation gegen den "religiösen Diskurs", der in etwa dem Fundamentalismus entspricht. Das für ein arabisches Publikum geschriebene Buch setzt eine gewisse Vertrautheit mit der politischen, religiösen und philosophischen Debatte um den Islam voraus. Kein ganz leichtes Buch also, aber die stellenweise mühselige Lektüre lohnt.

Abu Zaid belegt die Möglichkeit einer kreativen Islam-Interpretation, die sich nicht am Wortlaut, sondern am Sinn der islamischen Botschaft orientiert. Um diesen Sinn zu ergründen, bedarf es der historisch-kritischen Methode. Abu Zaid argumentiert ausdrücklich als Muslim: Die historisch-kritische Methode stellt den göttlichen Ursprung der Offenbarung nicht in Frage, doch durch den Prozeß der Offenbarung wurde das Göttliche zum Menschlichen, und als von Menschenhand niedergeschriebene Worte sind Koran und Sunna historischen und gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen. Abu Zaid argumentiert betont sachlich und gestattet sich höchstens einige ironische Bemerkungen über die ägyptische Regierungspolitik. In der Sache aber ist sein Angriff frontal. Trotz eurer aggressiven Frömmelei und formalen Gelehrsamkeit, ruft er Islamisten und Orthodoxen zu, habt ihr von der befreienden islamischen Botschaft nichts verstanden.

Es geht hier um die Grundlagen des islamischen Weltbildes, und es geht um die Legitimität von Herrschaft. Abu Zaids Ziel ist die Entwicklung einer islamischen Befreiungstheologie. Das macht ihn zu einer Gefahr sowohl für den Islamismus und als auch für das ägyptische Regime.

Staatsislam und Islamismus sind für ihn zwei Seiten einer Medaille namens "religiöser Diskurs". Staat und islamistische Opposition streiten um die Rechtgläubigkeit und erklären sich gegenseitig zu Ungläubigen, aber sie bedienen sich der gleichen orthodoxen Methodik und unterscheiden sich allein in ihrer Haltung zur Frage der politischen Macht.

Islamismus, Staatsislam und auch der arabische Nationalismus haben das islamische Erbe eigennützig geplündert, um ihre jeweiligen Ideologien zu legitimieren. Sie alle sehen im Islam ein Mittel zur Eroberung oder Ausübung der Macht. Deshalb kleben sie an einer jahrhundertealten staatstragenden Dogmatik, die sich erst im islamischen Mittelalter mit Hilfe der Staatsmacht durchsetzen konnte. Von diesem Ballast muß der Islam befreit werden, um befreiend wirken zu können. Die islamische Linke, repräsentiert vor allem von Hassan Hanafi, sieht Abu Zaid dabei nicht als Hilfe, da sie "versöhnlerisch" zwischen Islam und Nationalismus vermitteln will, keine eigenen Ideen hat und sich auch nicht wirklich von den orthodoxen Regeln der Islam-Interpretation gelöst hat.

Als regimetreuer Kritiker allein des oppositionellen Islamismus hätte Abu Zaid vielleicht noch Gnade vor seinen Richtern gefunden, aber auch Regime und Staatsislam waren froh, diesen unbequemen Kritiker ins Exil verschwinden zu sehen. Es gab eine relativ breite Solidaritätsbewegung unter Intellektuellen in Ägypten und der arabischen Welt, und selbst im islamistischen Lager stieß die intrigante Methode auf Kritik; allzu offensichtlich war die Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke. Abu Zaids Feinde haben einen zwiespältigen Sieg errungen, ihre panische Reaktion auf seine Thesen offenbart Unsicherheit und Schwäche. Sie haben sich in ihrer Rechtgläubigkeit bequem eingerichtet, scheinen aber zu ahnen, daß es zur Lösung der drängenden gesellschaftlichen Probleme mehr bedarf als einer buchstabengetreuen Befolgung koranischer Regeln.

Steht die islamische Welt vor einer Erneuerung der politischen Theologie, die Islamismus und Orthodoxie überwindet? Die theoretischen Ansätze sind vorhanden. Einiges, wie die frauenpolitischen Thesen Fatima Mernissis, wurde von säkulären Oppositionsgruppen übernommen, dennoch hat der Islamismus bisher die größere Mobilisierungskraft.

Im islamistischen Lager sind gewisse Ermüdungserscheinungen erkennbar, aber mit einem schnellen Verebben der fundamentalistischen Welle sollte niemand rechnen.

Es ist mittlerweile allgemein anerkannt, daß der Islamismus eine zumindest "teilmoderne" Bewegung ist. Sie wird mit der Modernisierung nicht von selbst verschwinden; "antimoderne" fundamentalistische Bewegungen gibt es in allen Regionen und Religionen, auch dem Westen sind sie nicht fremd. Die vergleichende Fundamentalismusforschung ist fast schon ein eigener Wissenschaftszweig. Ein im positiven Sinne populärwissenschaftlicher Versuch in diese Richtung ist Herausforderung Fundamentalismus von Martin E. Marty und A. Scott Appleby. Dargestellt werden hier die Grundlagen des Fundamentalismus, gefolgt von Einzelstudien über den protestantischen Fundamentalismus in den USA, die Siedlerbewegung Gusch Emunim in Israel und den Islamismus (mit Schwerpunkt Ägypten), aus denen immer wieder allgemeine Schlußfolgerungen gezogen werden.

Mythos Authentizität

Fundamentalismus wird als eine moderne Erscheinung betrachtet, die nichts mit der Verwirklichung einer wahren oder ursprünglichen Religion zu tun hat, da "der islamische Fundamentalismus - wie auch Fundamentalismen anderer Religionen - nur eine unter mehreren möglichen, modernen Konstruktionen von Tradition ist." Fundamentalistischen Bewegungen werden hier vielleicht manchmal allzu verständnisvoll behandelt, aber das Buch ist weder unkritisch noch romantisierend. Wer sich mit dem Thema allerdings schon näher beschäftigt hat, wird hier wenig Neues finden.

In Die Rache Gottes hatte der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel Parallelen in der Entwicklung fundamentalistischer Bewegungen festgestellt, die allgemeinen weltpolitischen Entwicklungen folgten. Die 60er Jahre waren von der Fortschrittseuphorie säkulärer Kräfte geprägt, mit der Ernüchterung in den 70er Jahre kam die Stunde des Fundamentalismus. Der Prophet und der Pharao erschien bereits 1984, die Neuauflage wurde um ein die 80er Jahre behandelndes Kapital und ein aktuelles Vor- und Nachwort ergänzt. Kepel befaßt sich hier mit der islamistischen Bewegung Ägyptens in den 70er Jahren, doch die hier untersuchten Gruppen repräsentieren islamistische Strömungen, die sich auch anderswo finden: die sektiererische Militanz der Takfir-Gruppe, die sich von der Gesellschaft trennte und versuchte, in Kommunen ein alternatives islamisches Leben zu führen, das aggressive Abenteurertum der Jihad-Organisation, die glaubte, die Ermordung Sadats würde einen allgemeinen Aufstand auslösen, den geduldigen Reformismus der Muslimbruderschaft und andere Strömungen mehr.

Trotz des etwas reißerischen Umschlagbildes, auf dem ein Bärtiger durch Gitterstäbe seine Hand nach dem Leser ausstreckt, gehört es zu den Vorzügen des Buches, den Islamismus jenseits populistischer Klischees in seiner Bedeutung für die ägyptische Gesellschaft zu betrachten. Eine einheitliche islamistische Bewegung gibt es nicht, Kepel stellt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Strömungen dar und beleuchtet die Grauzone zwischen Staatsislam, populistischen Predigern und Islamismus.

Kepel bezieht sowohl sozio-ökonomische als auch kulturell-religiöse Faktoren in seine Untersuchung ein, längere Zitate aus islamistischen Originalquellen ermöglichen es, sich selbst ein Bild von der islamistischen Ideologie zu machen. Ich kenne kein anderes Buch, das einen so guten Einblick in die islamistische Szene bietet und zudem noch flüssig, ja spannend geschrieben ist. Auch Kepel wurde Kulturalismus vorgeworfen, da er den Islamismus als Ausdruck des "islamischen Wesens" bezeichnet: "die religiöse Artikulierung eines gesellschaftlichen Phänomens ist nicht seine Verschleierung, sondern seine Enthüllung."

Aziz Al-Azmeh, ein im Westen lehrender syrischer Islamwissenschaftler, geht in Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie mit dem "Neo-Orientalismus" all jener, die von der Existenz eines solchen "islamischen Wesens" ausgehen, scharf ins Gericht. Das Buch besteht aus einer Reihe von Essays, die sich jedoch erstaunlich gut aneinanderfügen. Ähnlich wie Abu Zaid setzt sich Al-Azmeh kritisch mit den ideologischen Tendenzen in der arabischen Welt auseinander. Ihre gemeinsame Grundlage sieht er in einem Kult der Authentizität, die Politik als Wiedererweckung eines vergangenen goldenen Zeitalters versteht. Mit ihrem organizistischen Weltbild gleichen sie rechten, von der Romantik inspirierten Strömungen im Westen.

Spiegelbild dieser Ideologien ist der westliche Orientalismus, jene wissenschaftliche Strömung, die einen Orient als Gegenbild zum Westen konstruiert. Sie geht ebenfalls von einem "islamischen Wesen" aus, das jenseits historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen von der Religion - genauer gesagt: von Koran, Sunna und dem Vorbild der rechtgeleiteten Kalifen - bestimmt wird. Beide klopfen jede Bewegung und Ideologie zunächst darauf ab, ob sie denn auch authentisch sei, also in einer genügend engen Beziehung mit diesem "islamischen Wesen" steht.

Doch einen islamischen Sonderweg kann es nicht geben, keine Gesellschaft kann sich heute mehr dem westlichen Einfluß entziehen. "In den Randzonen setzt sich dieser Universalismus wegen der Schwäche der ihm zugehörigen Bildungen unvollständig und ungleichmäßig durch; diese Schwäche findet ihr Gegenstück im Insistieren auf ,Authentizität`." Al-Azmeh bestreitet nicht nur die Authentizität des Islamismus, sondern die Berechtigung des Begriffs allgemein: "In letzter Instanz basiert deshalb die Vorstellung von Authentizität auf der Idee eines Subjekts, das ebenso autark wie selbstevident ist. Der Diskurs, der sich um diese Vorstellung dreht, ist essentialistischer Natur, ganz ähnlich wie sein Gegenstück im Orientalismus."

Orientalische Impressionen

Was im Westen als authentisch islamisch verstanden wird, unterliegt einem erstaunlich schnellen Wandel. Heute gilt die islamische Welt ja als Heimstätte puritanischer Eiferer, die alles verbieten wollen, was Spaß macht. Doch vor gar nicht so langer Zeit waren mit dem Orient Assoziationen von verderbter Sinnenfreude, Opiumhöhlen und lasziven Haremsdamen verbunden. An diesen "alten Orient" erinnert Rudolf Gelpkes Vom Rausch in Orient und Okzident, das 1966 erschien und jetzt neu aufgelegt wurde.

Gelpke ist ein Essentialist der romantischen Schule, am ehesten vergleichbar mit Annemarie Schimmel. In der islamischen Mystik sieht er eine notwendige Ergänzung der technokratischen Rationalität des Westens, diese Position erläutert er am Beispiel der unterschiedlichen Sichtweisen des Rausches. Man muß diesen Standpunkt nicht teilen, um in diesem Buch Interessantes zu finden. Ob die Mystik das "höchste Persönlichkeitsideal in der islamischen Kultur" ist oder nicht, jedenfalls schildert Gelpke hier einen Teil der islamischen Realität, der in aktuellen Darstellungen oft untergeht, obwohl es immer noch mehr Sufis und Haschischraucher gibt als Islamisten.

Wer etwas Unterhaltsames und zugleich Informatives über die arabische Welt lesen will, greife zu Das Lächeln des Propheten von Michael Lüders. Lüders, Nahostredakteur der Zeit, bereiste den Libanon, Syrien, Irak, diverse Golfmonarchien und den Südjemen und beschreibt seine Erfahrungen in einem lebendigen Buch voller Anekdoten. Im Zentrum stehen seine persönlichen Begegnungen: die beklemmenden Bekenntnisse eines libanesischen Heckenschützen, die Debatten kuwaitischer Honoratioren, der Missionseifer jemenitischer Pilger und vieles mehr. Hier wird unter anderem deutlich, daß es immer möglich ist, einen Dialog zu führen, man sich über das Ergebnis aber keine Illusionen machen sollte. Wo das Wort Gottes gegen das eines Westlers steht, fällt dem Gläubigen die Entscheidung nicht schwer.

Werden sich die kulturellen Stereotypen in der gegenseitigen Sichtweise von islamischer und westlicher Welt verstärken oder auflösen? Vor allem wird dies von der Entwicklung der politischen Beziehungen abhängen, deren Zerrbild diese Stereotypen sind. Auf der Ebene wissenschaftlicher Theorien und populärer Ideologien werden beide Seiten lernen müssen, ihre Gesellschaftsformen und Weltbilder als offene Konzepte zu begreifen, wenn der Dialog mehr sein soll als ein höflicher Austausch von Floskeln. Erst wenn der Kult der Authentizität überwunden ist, wird der Blick offen für neue Möglichkeiten.

In seinen neuesten Buch Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart grenzt Tibi sich von der Vorstellung eines homo islamicus ab, betont aber: "Zweifellos gibt es eine spezifische islamische Denkweise, die mit einer theozentrischen Weltsicht korrespondiert." In diesem Buch, das die Entwicklung des Herrschaftsbegriffs in der islamischen Geschichte nachzeichnet, werden rationalistische und reformistische islamische Strömungen stärker berücksichtigt. Die südostasiatischen Muslime, so Tibi, hätten den Anschluß an die Moderne geschafft, weil sie sich von der orthodoxen Tradition gelöst haben.

Nachbemerkung: Das sieht Tibi falsch; Dikigoros - der sich in Südostasien sicher besser auskennt als der gebürtige Syrer - hat ganz im Gegenteil festgestellt, daß in Malaysia und Indonesien, aber auch Süd-Thailand und im Süden der Filipinen, eine zunehmende Re-Islamisierung im Gange ist, gerade weil sich im Zuge der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen immer mehr Menschen dort von der "Moderne" im westlichen Sinne abwenden und sich von einer Rückbesinnung auf den mittelalterlichen Islam die Lösung all ihrer Probleme versprechen.


DIE BÜCHER

Nasr Hamid Abu Zaid, Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt/M. (dipa Verlag) 1996 (223 S., 36,00 DM)

Aziz Al-Azmeh, Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie, Frankfurt/M. (Campus Verlag) 1996 (244 S., 38,00 DM)

Rudolf Gelpke, Vom Rausch im Orient und Okzident, Stuttgart (Klett-Cotta Verlag) 1995 (271 S., 39,80 DM)

Gilles Kepel, Der Prophet und der Pharao. Das Beispiel Ägypten: Die Entwicklung des muslimischen Extremismus, München (Piper Verlag) 1995 (304 S., 44,00 DM)

Bernard Lewis, Der Atem Allahs. Die islamische Welt und der Westen - Kampf der Kulturen?, Wien/München (Europaverlag) 1995 (264 S., 39,80 DM)

Michael Lüders, Das Lächeln des Propheten. Eine arabische Reise, Hamburg (Rotbuch Verlag) 1996 (256 S., 38,00 DM)

Martin E. Marty, A. Scott Appleby, Herausforderung Fundamentalismus, Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurt/M. (Campus Verlag) 1996 (262 S., 39,80 DM)

Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München (C. H. Beck Verlag) 1994 (445 S., 48,00 DM)

Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg (Hoffmann und Campe Verlag) 1995 (365 S., 44,00 DM)

Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München (Piper Verlag) 1996 (443 S., 44,00 DM)


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