Die Zirkusreiterin von Belgrad

von Norbert Mappes-Niediek

Freitag, die Ost-West-Wochenzeitung, 06.07.2001

MILOSEVICS AUSLIEFERUNG*Zoran Djindjic beerdigt die Bundesrepublik Jugoslawien

Nichts ist, was es zu sein scheint, und hinter jeder Wahrheit steht eine zweite und eine dritte. Das Moralische - wenn Zoran Djindjic sagt, Serbien müsse sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen - wird das in Belgrad nicht einmal mit einem zynischen Lacher bedacht. Auch, dass Jugoslawien nun seine Souveränität geopfert und die Verfassung gebrochen habe, will niemand hören. Darüber mögen die paar Unverbesserlichen greinen, die in Dedinje für ihr Idol tagelang Mahnwache hielten. Zu denken beginnen erfahrene Opfer balkanischer Politik erst bei der Frage, was die Überstellung von Slobodan Milosevic an das Haager Tribunal sonst noch alles bedeutet. Politik beginnt immer erst weit hinter den Paravents aus Moral, Ideologie, Gesetz und Verfassung - eine Weisheit aus altem Balkan-Erbe, die auch im neuen Belgrad noch gilt. Wer osteuropäische Politik verstehen will, muss Kafkas Gleichnis von der Zirkusreiterin lesen: Die "schöne Dame, weiß und rot", ist zugleich immer die "hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin". Nie weiß einer, was Wesen ist und was Erscheinung.

Nach dem Stand der Analysen in Belgrad war die Überstellung von Slobodan Milosevic an Den Haag eine Art Staatsgründung. Das klingt zunächst absurd, hat aber seine Logik. Djindjic hat mit seinem Auslieferungsakt bewusst die Bundesrepublik Jugoslawien delegitimiert und die von ihm selber regierte Teilrepublik Serbien an ihre Stelle gesetzt. Weil Djindjic den Affront wollte, hat er Milosevic erst nach dem Spruch der Verfassungsrichter ausgeliefert. Seine nachgeschobene Gerichtsschelte hätte dann einen Sinn gehabt, wenn er sie vorher betrieben und Milosevic dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gleich ganz entzogen hätte. So aber berief er sich mit seinem Auslieferungsakt auf einen serbischen Verfassungsartikel, der immer dann in Kraft tritt, wenn die Bundesorgane nicht mehr funktionieren. Zuletzt war das 1991 so, als das alte Jugoslawien zerfiel. Nun stehen zwei jugoslawische Verfassungsorgane, das Gericht und der Präsident, düpiert vor dem Volk. Die Regierung ist zurückgetreten, und das vierte und höchste Organ, das Parlament, befindet sich im Zustand der Auflösung. Jetzt darf Djindjic sagen, er wolle Jugoslawien "erhalten" - zu seinen Bedingungen: L´état cétait moi - der Staat, das war ich.

Wenn es Jugoslawien nicht mehr gibt, ist der Schwebezustand zwischen Djindjic und dem jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica beendet: Kostunica wird dann wahrscheinlich serbischer Präsident, und die Beziehung der beiden regelt die serbische Verfassung. Jugoslawien hört auf, als virtueller Über- und Nebenstaat in die serbischen Befugnisse hineinzuregieren.

Das "dritte" Jugoslawien, im April 1992 von Slobodan Milosevic über Nacht gegründet, war von Anfang an ein Unding: Die beiden Partner Serbien und Montenegro unterschieden sich im Größenverhältnis eins zu fünfzehn, waren aber auf allen Ebenen gleichberechtigt. Heute ist die "Bundesrepublik" de facto die Föderation eines Landes mit sich selbst; der kleinere Partner Montenegro ignoriert Belgrad seit drei Jahren. Sein Präsident Milo Djukanovic, mit dem Djindjic sich während des Nato-Bombardements im Frühjahr 1999 angefreundet hat, wollte die Unabhängigkeit, musste sich aber von einer starken inneren Opposition und der Ablehnung durch den Westen umstimmen lassen. Jetzt trifft er über Bande trotzdem noch ins Loch. "Ein Djindjic" sollte zur Maßeinheit für die Anzahl von Problemen deklariert werden, die sich maximal mit einer einzigen politischen Aktion lösen lassen.

Aus dieser Perspektive lohnt sich ein Blick zurück auf die peripheren Bedeutungsebenen der Milosevic-Auslieferung. Erstens: Die Verfassung Jugoslawiens wurde desavouiert, aber die serbische zugleich gestärkt. Zweitens: Ob Jugoslawien seine "Souveränität" geopfert hat, ist eine Definitionsfrage: Wer ist souveräner - ein anerkanntes Mitglied aller internationalen Organisationen oder ein Paria-Staat, der nur zum Schießen noch Geld hat? Drittens: Mit Hilfe amerikanischer Pression haben im 170 Jahre alten Streit zwischen den Orthodox-Nationalen und den Westlich-Liberalen Letztere einen wichtigen Punkt gemacht. Und viertens wird sogar die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht mehr auf sich warten lassen. Spätestens nach zehn Haager Prozesstagen werden die Serben sich zu fragen beginnen, ob der "Schlächter des Balkans" nicht wenigstens einen Koch dabei hatte.


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