MENSCHENHANDEL

Das Paradies im roten Licht

(Solwodi e.V./DIE ZEIT - 41/2003)

Natalja aus der Ukraine wurde in Deutschland zur Prostitution gezwungen. Eine Ordensschwester half ihr in ein zweites Leben aufzubauen.
Von Michael Schwelien
Sie trägt ein schlichtes Kleid aus blauem Jeansstoff. Ihre Haare sind kurz geschnitten zu einer, wie man sagt, "praktischen" Frisur. Ihre Halskette ist aus dünnem, billigem Gold, wie man es aus dem Südosten Europas kennt. Ein Ring am Finger aber ist aus dem massiveren Weißgold, das in Westeuropa bevorzugt wird. Sie lacht nicht, sie lächelt nicht. Ihre Augen blicken nicht einmal traurig. Sie sind einfach leer. In den Bordellen werden die Frauen wie Gefangene bewacht. Zuhälter drohen mit Gewalt, auch gegen die Familienangehörigen in der Ukraine.

Wenn sie ihre Leidensgeschichte erzählt, spricht sie mit fester Stimme, ohne zu stocken, nicht zu leise, nicht zu laut, aber doch so, als handele es sich nicht um sie selber, sondern um eine andere, eine fremde Frau, über die sie zufällig gut Bescheid weiß. Dass ihr der Blick zurück unendliche Qualen bereitet, ist nicht zu übersehen. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen. Sie zögert, erzählt lieber ausgiebig über Kindheit und Jugend, über ihre Heimat, über ihre Söhne - bis sie zum "Eigentlichen", zu ihrem "Fall" kommt.

Sie nennt sich Natalja. Sie sagt, sie stamme aus dem ukrainischen Ort Ternopil’, nahe der Großstadt L’viv, dem vormaligen Lemberg. Im Herbst des Jahres 2000 ist sie nach Deutschland gekommen - und hier in die Prostitution gezwungen worden.

Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es Natalja gut. Sie war Leiterin einer Komsomolgruppe. Die Mitgliedschaft in der kommunistischen Jugendorganisation verschaffte ihr viele Vorteile. Sie hatte eine eigene Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad und Balkon. Sie verfügte über ein eigenes Telefon.

Auch ihr Betrieb brachte ihr Privilegien. Ein militärischer Betrieb. Dort wurden Waffenkomponenten und Teile für das sowjetisch-amerikanische Raumfahrtprojekt Sojus-Apollo hergestellt. Alles war streng geheim. Die Elektroingenieurin mit einem Universitätsdiplom, damals Mutter erst nur eines Kindes, Tochter eines Taxifahrers und einer Richterin, gehörte zu denen, die zuerst bedient wurde, wenn es im Sowjetsystem etwas zu verteilen gab. Ein Chauffeur brachte sie in einer Limousine zur Arbeit. Sie zweifelte nicht an den Anweisungen der Partei. Auch ihr Großvater war Mitglied, Chef der Kreisverwaltung, sie also in dritter Generation linientreu.

Ihr Ehemann aber entpuppte sich als Alkoholiker, der lieber von ihrem Verdienst als von eigener Arbeit lebte. Natalja ließ sich von ihm scheiden. Vorher hatte sie noch ein zweites Kind geboren, wieder einen Sohn. Dennoch, sagt sie, war es "ein gutes Leben" - bis 1993, zwei Jahre nach der Unabhängigkeit.

Der Streit mit Russland um den Besitz der Schwarzmeerflotte und die Häfen auf der Krim stürzte die Ukraine in eine schwere Wirtschaftskrise. Nataljas Firma schloss, wie die meisten Industriebetriebe in der westlichen Ukraine.

Die Mafia ist überall, es kommt zu brutalen Hinrichtungen.

Sie musste ihre Wohnung verkaufen, mit den Kindern zu ihren Eltern, dem inzwischen pensionierten Taxifahrer und der pensionierten Richterin, ziehen, deren Renten selten genug ausgezahlt wurden und die vollends verarmten, als 1996 die neue Währung Hryvnja eingeführt wurde. Natalja stellte sich auf den Markt, verkaufte Obst, Gemüse und andere Lebensmittel für einen Großhändler, der ihr 3% vom Umsatz ließ. An guten Tagen verdiente sie fünf, sechs Hryvnja, das entspricht heute einem Euro.

Und hier begann die Tragödie der Natalja. Eine Kundin war immer besonders freundlich zu ihr. Sie schien Natalja aufrichtig zu bedauern. Sie war gut gekleidet, konnte sich ohne weiteres das Kilo Bananen leisten, für das Natalja den Verdienst eines durchschnittlichen Tages hätte hinblättern müssen. Die Kundin war etwa gleichen Alters. Sie hatte zwei Töchter, eine schon fast erwachsene, eine noch junge. "Da stehst du hier in der prallen Sonne und im Winter in der eisigen Kälte", hat sie gesagt, "du, eine gut aussehende Frau, die Besseres gewöhnt ist, und verkaufst Lebensmittel!"

Von L’viv nach Europa sind es etwa siebzig Kilometer. So sagt man das hier, obwohl die Ukraine ganz und gar in Europa liegt. "Europa" ist hier das Gebiet der EU, das reiche Europa, das für die hiesige Bevölkerung schon in Polen beginnt.

Tausende sind von hier nach "Europa" gegangen, zur Arbeit. Tausende legal, Zehntausende illegal. Auf den Baustellen an der portugiesischen Küste arbeiten Ukrainer, in den Bordellen der deutschen Hauptstadt Ukrainerinnen. Wer kann, schickt Geld nach Hause. An jeder Ecke trifft man auf eine Zweigstelle der Western Union, wo die Zurückgebliebenen das Geld abholen können, das die Verwandten in "Europa" nach Hause schicken.

Der kleine Grenzverkehr nach Polen ist noch visumfrei. Ukrainische Händler beliefern die Märkte des Nachbarlandes, das seine Grenzen mit dem Beitritt zur EU abdichten wird, mit Handwerkserzeugnissen und billigen Klamotten, dessen Nachtclubs mit vermeintlich willigen Mädchen. Nahezu jeder, der von Ost nach West reist, schmuggelt. In das Futter der Jacken sind Plastikbehälter eingenäht, mit Wodka gefüllt. In Polen ist der Schnaps das Doppelte und Dreifache wert. Jenseits der EU-Grenze im deutschen Osten steigt er noch einmal um ein Vielfaches. Das Gleiche gilt für die Ware Mensch: Frauen, die hier Sex für 50 Hryvnja, weniger als zehn Euro, anbieten, verlangen in Polen für die gleichen Dienste 200 Zloty, knapp 50 Euro, und in Deutschland 100 Euro und mehr. Für die Zuhälter, die Frauen über die Grenzen schmuggeln, ist es eine einfache Rechnung und ein glänzendes Geschäft. Viele der verkauften Frauen sind aus der Ukraine, wo die Sexindustrie und der Menschenhandel für wachsenden Wohlstand sorgen.

Im Zentrum von L’viv sind, wie auch in Kiew, überall Zeichen dieser Entwicklung zu sehen. Auf das Sexgeschäft wird man schon bei der Einreise gestoßen. Das Einreiseformular ist mit bunter Werbung bedruckt. Am auffälligsten ist die Anzeige für den Nachtclub River Palace. Er findet sich in einem umgebauten Dampfer auf dem Djnepr: Restaurant, Spielkasino und Diskothek. Ein livrierter Portier mit Schirmmütze im Stil der Roten Armee hilft dem Gast aus dem Taxi. In der Disko ist "Black and White Night". Wer einen Black Russian bestellt, erhält einen zweiten Drink, einen White Russian, umsonst dazu. Und wer schwarze und weiße Klamotten trägt, kommt kostenlos hinein.

Auf der Tanzfläche wiegen sich zwei, drei Dutzend Frauen, alle irgendwie schwarzweiß gekleidet, zu langsamen Rhythmen. Nur gelegentlich geht einer der wenigen männlichen Gäste, die alle nichts von dem Schwarzweiß-Abend gehört zu haben scheinen, auf die Tanzfläche. Wenn er mit einer der Frauen tanzt, bittet sie ihn alsbald um einen Drink. Sie bestellt sich, wenn nicht einen White oder Black Russian, ein Glas Krimsekt, sagt in gebrochenem Englisch, der Sekt sei so süß, dass nur sie, die Ukrainerinnen, ihn trinken können, der Herr solle doch etwas Schärferes zu sich nehmen - und fragt dann: "Do you need me tonight?"

Spielkasinos sind in der ganzen Ukraine so zahlreich, dass man sie nach ein paar Tagen kaum noch bemerkt. Auffällig aber ist ein schlossartiges Gebäude an der Umgehungsstraße von Ternopil’ auf dem Weg nach L’viv. Es hat eine Mauer wie eine mittelalterliche Festung, Zinnen und Türme. Das Schloss ist aus rohem Beton. Es ist nicht fertig gestellt. Und es sieht auch nicht so aus, als würde es je fertig gestellt werden. Hier sollte eine weitere Lustburg im üblichen Dreiklang - Restaurant, Kasino, Diskothek - entstehen. Auf welche Kundschaft hatte der Besitzer gehofft? Von ihm wird man es nicht mehr erfahren. Er ist tot, mit einem Kopfschuss umgebracht. Ein Mafiamord. Nun zerfällt die Burg ungenutzt - wie die Fabriken rundherum.

Die Mafia ist überall, ominös und omnipotent. Alles riecht nach Bandenkrieg. Wenn die Terrains noch nicht abgesteckt sind, wenn neue Mafiagruppen den Alteingesessenen einen Teil des Geschäfts entreißen wollen, kommt es zu brutalen Hinrichtungen. Außerhalb der Großstädte läuft das von der Mafia kontrollierte Geschäft mit den Frauen etwas diskreter ab. Es gibt keine Hochglanzbroschüren, die den Weg in die Nachtclubs weisen. Angelockt werden die Freier gleichwohl. In einem Café in einem kleinen Ort zwischen L’viv und Ternopil’ bedienen zwei hübsche Kellnerinnen. Die beiden würden auch anderweitig zur Verfügung stehen, bedeutet einem der Inhaber: "Für 50 Hryvnja". Dass er ein Zuhälter sei, darüber, sagt eine Bekannte, die aus dem Ort stammt, werde nie offen geredet. Überhaupt werde nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert, was die beiden Mädchen neben der Kellnerei so alles treiben. Aber besonders bei Volksfesten falle auf, dass sie regelrecht zu den Liebesdiensten abkommandiert würden. "Ein Wagen fährt vor", erzählt unsere Bekannte, "eine der Kellnerinnen wird herangewinkt - und ab geht’s."

L’viv, die Stadt, aus deren Umkreis Natalja stammt, ist auch eine Art Wallfahrtsort. Katholiken wandeln auf den Spuren von Papst Johannes Paul II., der die Stadt im Juni 2001 beehrte. Angehörige amerikanisch inspirierter Wiedererweckungssekten ziehen in kleinen Gruppen durch die Viertel. In größeren Gruppen stimmen abends ukrainische Nationalisten auf dem weitläufigen Platz der Freiheit Volkslieder an.
Besonders auffällig aber ist eine andere Art von Pilgern: junge Frauen, manche allein, manche zu zweit, viele blondiert, alle mit hellen, halb durchsichtigen Sonnenbrillen. In engst anliegenden Hosen oder kürzesten Röcken stöckeln sie auf Schuhen mit waghalsig hohen Stilettoabsätzen über das Kopfsteinpflaster. Sie kommen wie Natalja aus den tristen Vorstädten, aus den sterbenden Dörfern und Orten in der Umgebung. Sie haben einen bestimmten Blick. Zunächst wirkt er abweisend. Das Kinn ist ein wenig vorgeschoben, die Lippen sind geschürzt, als wollten sie sagen: Verschwinde! Durch die getönten Brillengläser sagen die Augen etwas anderes: Komm her!

Die Blicke gelten den Ausländern auf den Hotelterrassen, von denen jede Frau weiß, dass hier eine Übernachtung mehr kostet, als sie in einem Monat mit normaler Arbeit verdienen kann. Sie gelten aber auch den ukrainischen Männern, auf Urlaub oder für immer zurück von der Arbeit in "Europa". Ihnen sitzt das im Westen verdiente Geld locker, schließlich ist es hier im Osten ungefähr zehnmal so viel wert.

Für 750 Mark einen Pass und eine Fahrkarte nach Berlin

Nachts sieht man die Schönheiten wieder. Man muss nur dem Klackern der Absätze folgen. Die ganz jungen gehen ins Millennium, eine Disko mit Rock-Musik und Heavy Metal, die dunkelhäutige Ausländer besser meiden, weil dort ukrainische Skinheads herrschen. Die Alternative zum Millennium heißt San Remo, eine Nachtbar mit Karaoke, von Studentinnen bevorzugt, für Dunkelhäutige weniger riskant. Ein arabischer Geschäftsmann sagt über diese etwas biedere Bar: "Dort finde ich sofort eine, die mit mir geht."

Reifere und ängstlichere Herren bevorzugen den Sofia Grand Club mit Spielkasino, der Disko-Bar Platinum, dem Tex-Mex-Restaurant Alpaca, mit Billardraum, Swimmingpool und Fitness-Center. Es gehört irgendwie zum Grand Hotel. Wer in dem restaurierten alten Hotel logiert, darf sich im Club kostenlos entspannen. Nur die Sonderleistungen werden separat in Rechnung gestellt: Spielchips, Speisen und Getränke - auf der Spesenabrechung ist, angenehm für den Dienstreisenden, kaum noch erkennbar, welche Leistung wie beglichen wurde. Nach Mitternacht, wenn die Show beginnt, sind alle Tische im Platinum besetzt.

In der Ukraine sind Korruption und Vorteilsnahme auch im Kleinen gang und gäbe. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ein schwunghafter Handel mit Tschernobyl-Attesten betrieben wird. Medizinische Bescheinigungen über Folgeschäden aus der Katastrophe werden unter der Hand verkauft. Schnell zu erkennen ist vor allem der Handel mit Frauen: durch einen Blick in das Anzeigenblatt Wasch Magasin ("Euer Laden"). Unter der Rubrik 934, Stellenangebote für ungelernte Kräfte, fallen zahlreiche mit schwarzen Balken umrahmte Kleinanzeigen auf. "Arbeit für schöne Mädchen", heißt es in einer, "18-30 Jahre, wir bieten das höchste Gehalt und die besten Arbeitsbedingungen." Eine andere verspricht: "Agentur bietet hoch bezahlte Arbeit für schöne Mädchen an. Arbeitszeit nach Vereinbarung. Das Geld: 100 Hryvnja pro Stunde. Agentur stellt Unterkunft." Eine Handynummer des ukrainischen Betreibers Kyivstar ist angegeben.

Von einem öffentlichen Fernsprecher ruft unsere ukrainische Bekannte an: "Hallo, ich habe Ihre Anzeige…"
Eine freundliche, aber ängstlich wirkende Frau antwortet sogleich: "Ich kann nicht lange reden."
"Warum nicht?"
"Ich kann nicht, ich kann nicht."

Eine mögliche Erklärung: Hohe Handygebühren, so genannte Roaming Charges, fallen für Angerufene an, wenn sie sich im Ausland aufhalten. Es ist denkbar, dass die Frau, die sich meldet, sich gerade in Polen befindet oder in Deutschland, es gibt tägliche Non-Stop-Flüge zwischen L’viv und Frankfurt. Unsere Bekannte kommt also schnell zur Sache: "Ich bin Studentin, ich brauche dringend Geld. Ich nehme jede Arbeit an, Hauptsache, es gibt Geld."
Die Frau am anderen Ende sagt: "Sie wissen, um was für eine Arbeit es sich handelt…?"
"Ich ahne es, aber sagen Sie mir bitte mehr, gibt es Schutz gegen Krankheiten, Aids? Was ist damit?"
"Sie können Kondome benutzen."
"Arbeite ich tags oder nachts?"
"Beides, nach Verabredung. Aber hören Sie, ich kann jetzt nicht lange sprechen. Kommen Sie heute Abend zum Schewtschenko-Denkmal."
"Heute kann ich nicht."
"Gut, dann morgen, um 18 Uhr. Wie erkenne ich Sie?"
"Ich trage einen Jeanshut und ein schwarzes T-Shirt, habe lange blonde Haare."
"Gut, dann bis morgen."

Es ist anzunehmen, dass Frauen, die auf solche Angebote eingehen, wissen, dass sie sich auf Prostitution einlassen. Meist wissen sie nicht, in welche Hände sie sich begeben.

Natalja vertraute sich seinerzeit ihrer mitfühlenden Kundin ganz und gar an. Auf einem Spielplatz, wo sie sich getroffen hatten und ihre kleineren Kinder beaufsichtigten, machte diese ein Angebot, bei dem Natalja nicht misstrauisch wurde. Gehe doch nach Deutschland, riet ihr die Dame, mein Mann lebt dort, er kann dir helfen, eine Arbeit zu finden, bei der Erntehilfe, als Krankenpflegerin - dafür suchen sie in Deutschland händeringend Leute.

Die Dame zeigte sich äußerst großzügig. Sie besorgte Natalja in nur zwei Wochen einen Pass und eine Bahnfahrkarte nach Berlin. 750 Mark sollte Natalja ihr dafür zahlen, nicht gleich, "erst wenn du es hast". Spielend sei das Geld in Deutschland verdient: "Nach drei Monaten kommst du zurück zu deinen Kindern." Allerdings ließ die Dame Natalja einen Schuldschein unterschreiben. 10% Zinsen verlangte sie pro Monat. Sie sagte beruhigend: "Das hast du doch schneller abgezahlt, spätestens in einem Monat, in Deutschland verdient man so viel."

Ein kurzer Blick des deutschen Zöllners in Nataljas Plastiktüte

Auch jetzt schöpfte Natalja keinen Verdacht. Es ist ja nicht ungewöhnlich, in "Europa" zu arbeiten. Sie kannte viele, die für ein paar Monate gegangen waren und wohlhabend zurückkamen. Es fiel ihr auch nicht weiter auf, dass die nette, hilfsbereite Frau die Adresse der Eltern notierte, bei denen Natalja ihre Kinder unterbringen würde.

Sie sollte sich in einen Zug setzen, nicht irgendeinen, sondern einen bestimmten in drei Tagen, in dem der Schaffner sich um sie kümmern würde, sagte die Dame noch, nannte Natalja die genaue Abfahrtszeit und wünschte alles Gute.

Der Schaffner war tatsächlich informiert. Er brachte sie in einem Liegewagenabteil unter. Sie hatte kein Visum. Kein Problem an der polnischen Grenze, dort benötigen Ukrainer keines. Aber auch kein großes Problem an der deutschen Grenze. Der Schaffner instruierte sie genau. Beim letzten Halt in Polen, wo die deutschen und polnischen Grenzbeamten einsteigen, solle sie sich in dem Matratzensack über den weggeklappten Liegen verstecken. Sobald sie die deutschen Worte "Danke schön, gute Fahrt" höre, solle sie herauskommen und sich auf ihren Platz setzen.

Mit Natalja befanden sich noch zwei Frauen und ein Mann im Abteil, alle ukrainische Staatsbürger. Der Schaffner konnte sicher sein, dass sie nichts verraten würden. Schließlich mussten sie damit rechnen, dass er sie wegen ihrer Schmuggelware hochgehen lassen würde, sollten sie Natalja verraten. Als sie mit feuchtem Rücken und zitternden Händen wieder auf ihrem Platz saß, kam noch ein deutscher Zöllner durch den Waggon. Er zeigte auf die Plastiktüte, in der sie ihr sämtliches Hab und Gut bei sich trug. Dann gab er sich nach einem kurzen Blick hinein zufrieden, ging weiter, ohne nach dem Pass zu fragen.

Gegen elf Uhr vormittags kam Natalja in Berlin an. Auf dem Bahnsteig wartete ein Abholer, ein Türke, der sich Ali nannte. Sie erkannte ihn sogleich am Gipsarm, den er in einer blauen Binde trug. Ali brachte sie in ein billiges Hotel. Das Zimmer schien ihr paradiesisch, ein frisch bezogenes Bett, eine eigene Dusche. Zum späten Frühstück kam der Ukrainer, der Mann ihrer Gönnerin. Natalja erkannte ihn von dem Foto, das ihr zu Hause gezeigt worden war. Sie hatte keine Angst.

Sie durfte ausschlafen. Am nächsten Tag fuhren Ali, dessen junge ukrainische Freundin, der Mann der Gönnerin und Natalja im Auto in eine westdeutsche Großstadt. Dort wurde sie in einer Einzimmerwohnung mit Küche und Bad im dritten Stock untergebracht. Sie wollte wissen, welche Arbeit man für sie gefunden habe. "Morgen reden wir", sagte ihr der Ukrainer. Er kam am nächsten Tag wieder, begleitet von Ali und seiner hübschen jungen Freundin. Nun eröffnete er ihr, was sie zu tun habe: "Du wirst im Bordell arbeiten."

Natalja schrie, sie protestierte: "Nein, das geht nicht, ich kann das nicht, nie!"

Der Ukrainer blieb gelassen. Er schlug sie nicht. Er hielt sie nicht einmal fest. Er erklärte ihr wie einem unartigen Kind, was sie zu bedenken habe: "Du bist jetzt in Deutschland und weißt aber nicht genau, wo. Dein Pass hat Geld gekostet. Du hast ein Papier unterschrieben. Deine Fahrkarte hat Geld gekostet. Du hast zwei Kinder, Eltern, Geschwister. Meine Frau weiß, in welche Schule dein Kleiner geht. Alles kann passieren… ein Autounfall. Er wird zum Krüppel. Oder er ist tot. Deine Eltern können Fotos von dir bekommen, Nacktfotos. Alles kann passieren… Oder du arbeitest ein bisschen, zahlst deine Schulden ab… und fährst nach Hause."

Die Freundin des Türken warf noch ein: "Es ist gar nicht so schlimm, wie du denkst."

Der Mann der netten Kundin verabschiedete sich mit den Worten: "Überlege es dir gut."
Die junge Frau blieb nun bei Natalja. Zwei Brüder Alis kamen dazu. Sie saßen die ganze Nacht in der Küche.
Und Natalja dachte nach, sie schaute sich Alis Freundin genauer an, sah nun die blauen Flecken und Brandwunden an den Armen, erkannte, dass ihr büschelweise Haare fehlten. In der Küche lauerten die Aufpasser. Springe ich aus dem Fenster, fragte sie sich, und überlebe schwer verkrüppelt? Und selbst wenn ich sterben würde, die Schande kann ich meinen Kindern und den Eltern damit nicht ersparen. Sie fand keinen Ausweg.

Als am nächsten Tag der Ukrainer und Ali wiederkamen, sagte Natalja nur: "Ja." Sicherheitshalber erklärte der Ukrainer ihr noch: "Du hast keinen Pass, kein Visum, wenn du zur Polizei gehst, kommst du in den Knast." Nun verlor sie die Kontrolle. Sie schrie die beiden an: "Der liebe Gott weiß, was ihr tut, vergesst meine Worte nicht!" Nur dies, dann trat sie ihren Dienst an. Wie sie darüber spricht, benutzt sie das Wort "freiwillig": "Ich hab es freiwillig getan, ich war selber schuld."

Drei Gäste in der ersten Nacht - das Geld ist abzuliefern

Auf dem Weg zum Puff gaben sie ihr ein enges schwarzes Kleid. Zehn andere Frauen arbeiteten dort, Russinnen, Lettinnen, Litauerinnen und eine Türkin. Eine Barfrau erklärte Natalja, wie abgerechnet wird. Wenn die "Gäste" für Getränke zahlen, wird ihr ein Anteil aufgeschrieben, wenn sie ihr Geld geben, hat sie es abzuliefern. Drei Gäste bediente Natalja in der ersten Nacht.

Fortan saßen ständig Alis Brüder in der Wohnung. Natalja war nie allein. Jede Nacht wurde sie zur Arbeit abgeholt. Die Gäste waren jung, alt, arm, reich, manche brutal, manche zu betrunken, um etwas mit ihr anzufangen. Natalja durfte nie auch nur einen Pfennig behalten. Bald wurde sie in einen anderen, kleineren Puff gebracht. Außer ihr arbeiteten hier nur noch eine Algerierin, eine Polin und eine Ukrainerin. Die Gäste waren alle Türken. "Sie stanken", sagt Natalja.

Nach zehn Tagen kam eine Razzia. Natalja verbrachte die Nacht in einer Haftzelle. Als sie am nächsten Tag vernommen wurde, log sie das Blaue vom Himmel herunter. Später wurde der Beamte von einer Kollegin abgelöst. Sie bot Natalja eine Zigarette an, Kaffee, ein zweites Frühstück. Natalja brach zusammen. "Ich kann nicht mehr", sagte sie der Beamtin, die ungefähr gleichen Alters war, nicht besonders freundlich, aber doch verständnisvoll, und Natalja erzählte alles.

Der Ukrainer und der Türke waren in Holland beim Dealen erwischt worden. Die deutsche Staatsanwaltschaft gewährte Natalja Zeugenschutz. Sie wollte die beiden Männer wegen Menschenhandels und Drogenhandels anklagen. Natalja wurde in einem Frauenhaus untergebracht. Eine Hilfsorganisation namens Solwodi - Solidarity with Women in Distress - half ihr mit Rechtsbeistand, zahlte ihr einen Deutschkurs.

Solwodi residiert in einer ehemaligen Propstei im Rheinland. Ein paar schlichte Büroräume in einem alten Gemäuer, das Risse hat und an dem der Klingelknopf fehlt, Geld für Reparaturen gibt es nicht. Der eingetragene Verein beschäftigt 30 Mitarbeiterinnen in vier Landesverbänden in Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Er wurde von Lea Ackermann 1985 in Kenia gegründet. Sie ist eine Ordensfrau von den Weißen Schwestern, trägt keine Ordenstracht, sondern legere Hosen und Pullover.

Noch bevor man die Frage stellen kann, sagt sie selber: "Sie wundern sich bestimmt, was eine an sich verklemmte Person aus dem katholischen Milieu mit dem Sexgeschäft zu tun hat." Bevor sie zum Orden kam, war sie Bankerin in Paris. Als Ordensfrau hat sie in Thailand, auf den Philippinen und in Kenia als Lehrerin gearbeitet. Sie hörte, wie thailändische Taxifahrer die eigenen Geschwister zur Prostitution anboten. Sie sah Dörfer ohne junge Mädchen, "sie waren in die Bordelle von Manila gekarrt worden".

Schwester Ackermann hat die wechselnden Moden im Gewerbe miterlebt. Einst forderten die Freier Brasilianerinnen, dann Thailänderinnen und Filipinas, heute sind die Osteuropäerinnen begehrt. Solwodi hat zahlreiche Fälle genauestens dokumentiert. Das Entwicklungshilfeministerium hilft Heimkehrerinnen mit ein bisschen Geld für einen neuen Start ins Leben, will aber den Nachweis erbracht haben, dass die Hilfe sinnvoll angelegt wird. Frau Ackermann hat vielen geholfen, denen die Zuhälter Zigaretten auf dem Körper ausdrückten, die vergewaltigt wurden, die wie Natalja, "nur" bedroht wurden - bis sie aufgaben und "freiwillig" in die Bordelle oder die Hotelzimmer der lukrativen Freier gingen.

Sie sähe es gern, dass in Deutschland, wie in Schweden, die Freier bestraft würden. Von dem neuen deutschen Gesetz, das die Prostitution entkriminalisiert und den Frauen den Zugang zur Sozialversicherung gibt, hält sie nichts. Im Gegenteil, es habe alles nur schlimmer gemacht.

In jedem kleinen Nest in Deutschland sind inzwischen Bordelle aufgemacht worden. Da das nicht mehr verboten ist, gibt es für die Polizei keinen Grund zum Einschreiten. Die Gemeinden sehen die Häuser gern. Bei den horrenden Getränkepreisen springt für sie eine Menge an Einnahmen aus der Gewerbesteuer ab. Und die wirklichen Verbrechen, Menschenhandel, Nötigung, Körperverletzung, Vergewaltigung, die alle viel schwerer wiegen als die schlichte Zuhälterei von einst, lassen sich nur selten beweisen. Es gibt kaum mehr Razzien. Und wenn, dann schiebt die Polizei die illegalen Ausländerinnen so schnell wie möglich ab.

Sie in ein Zeugenschutzprogramm aufzunehmen, ihnen Tag und Nacht Personenschutz zu gewähren, ihnen Sozialhilfe nach dem Asylbewerbersatz zu zahlen - da fühlen sich viele Gemeinden schon überfordert. Doch wenn die Frauen erst einmal außer Landes sind, holt sie niemand mehr als Zeuginnen zurück. Selbst wenn eine Staatsanwaltschaft dies tun wollte, kann sie kaum mit Kooperation rechnen. Die Frauen leben immer noch in Angst. Und die Polizei in Osteuropa hat, wenn sie nicht korrupt ist, weder Zeit noch Interesse, Rechtshilfe zu gewähren.

Im Lido-Club kann der Freier wählen: Mit Whirlpool oder ohne

Das Geschäft mit der Liebe hat die Schmuddelmeilen, das traditionelle Rotlichtmilieu, hinter sich gelassen. Es läuft mithilfe von Anzeigen ("Naturgeile Ukrainerinnen"), die beileibe nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch in der angesehenen International Herald Tribune geschaltet werden: "Frankfurt and area. Munich-Berlin-Cologne-Duesseld. Lovely Ladies and Gentleman Escort Service... All Credit Cards."

Wer sich die Damen nicht aufs Zimmer bestellen mag, lässt sich vom Taxi in einen Club fahren. Zum Beispiel den Lido-Club, nahe einer westdeutschen Großstadt. Er liegt verkehrsgünstig, wenige hundert Meter von einer Autobahnausfahrt entfernt. Der Schattenriss einer nackten Schönheit auf dem Reklameschild über dem Eingang wird fast von der Mauer davor bedeckt. Nur wer wirklich sucht, entdeckt das Schild.
An einer Bar mit eleganter Espressomaschine und Warsteiner-Bier im Ausschank bedient eine rundliche Matrone. Ihr Akzent ist unüberhörbar osteuropäisch, ihre rosa getönte Brille scheint noch aus der Zeit des Kommunismus zu stammen.

"Warst du schon einmal hier?", fragt sie den sich neugierig umschauenden Gast. "Noch nicht." - "Es ist ganz einfach, du lädst ein Mädchen ein, nimmst es mit aufs Zimmer" - Kopfbewegung in Richtung Seitenflügel - "mit Whirlpool oder ohne." Vier hübsche Blondinen sitzen auf einer Sofagarnitur, schäkern mit vier in dunklen Anzügen gekleideten ausländischen Freiern. Kopfbewegung: "Die vier sind besetzt." Kopfbewegung in Richtung zweier, nicht ganz so hübscher Damen an der Bar: "Die beiden nicht."
"Woher kommen die Mädchen?"
"Alle aus Russland."

Ein paar Tage später Besuch beim zuständigen Polizeirevier. Es liegt im Nachbarort, ist so klein, dass nur ein Beamter dort Dienst tut.
"Gibt es mitunter Schwierigkeiten mit dem Lido?
"Ganz selten, höchstens drei-, viermal im Jahr?"
"Weshalb? Wegen der illegalen Frauen? Streit unter Zuhältern?"
"Nöö, es kommt nur mal vor, dass ein Gast nicht für die Leistungen bezahlen will, die er in Anspruch genommen hat."
"Was sind das für Gäste?"
"Die meisten wohl Stammkunden aus der Gegend, deshalb passiert ja auch so wenig."
Noch eine letzte Frage: "Wenn die Frauen angeblich Russinnen sind, dann ist doch mindestens illegale Arbeit, vielleicht aber sogar Menschenhandel zu vermuten. Kümmert Sie das nicht?"
"Das wäre dann Sache des Arbeitsamtes - oder des Landeskriminalamts, bisher gab es weder für das eine noch das andere Grund zum Einschreiten."

Im letzten Moment wurde Nataljas Abschiebung ausgesetzt

Natalja stand den Prozess gegen ihre beiden Peiniger durch. Aber sie wäre fast umgefallen. Sie hatte mit ihrer Mutter telefoniert, ihr gesagt, sie lebe zur Zeit in Polen. Die Mutter berichtete ihr, dass vor kurzem drei fremde Männer den kleinen Sohn von der Schule abgeholt hätten, wollte wissen, warum. Am Ende wurde der Ukrainer zu zehn Jahren, der Türke zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die nette Kundin in der Ukraine ist aber auf freiem Fuße. Gegen sie hat niemand ermittelt. Gegen die Männer, die Nataljas Sohn von der Schule abholten, und gegen den Schaffner, der sie über die Grenze spedierte, auch niemand. Trotzdem verfügte die Ausländerbehörde, Natalja sei nun abzuschieben. Erst als das Bundeskriminalamt bestätigte, sie sei weiterhin gefährdet, wurde die Abschiebung ausgesetzt.

Wie es Frauen ergeht, die sich, anders als Natalja, nicht "freiwillig" zur Verfügung stellen, lässt sich aus Gerichtsurteilen erkennen. Nur selten werden Menschenhändler überführt. Wenn die Zeuginnen überhaupt noch in Deutschland sind, dann haben sie Angst, nach dem Prozess wieder von ihren Zuhältern misshandelt zu werden. Ein Blick in einschlägige Gerichtsakten zeigt, weshalb.

Landgericht Koblenz:

"Anfang Januar erklärte sie ihm an einem Abend, dass sie nicht mehr der Prostitution nachgehen wollte. Hierauf reagierte der Angeklagte wütend und verlangte von ihr innerhalb der nächsten drei Tage 20.000 DM Ablösesumme… Bei einem Besuch in ihrer Wohnung schlug er sie mit dem Kopf mehrmals gegen die geflieste Wand im Bad, ließ sich dann von seinem Begleiter eine Schusswaffe geben, drückte dreimal gegen ihren Kopf ab, schlug und trat sie wiederholt."

Landgericht Duisburg:

"Eines Tages in der zweiten Augusthälfte 2000 gegen 6.00 Uhr morgens erklärte der Angeklagte der Zeugin, die ihm bis dahin noch keinen Pfennig eingebracht hatte, dass er sie nunmehr verkaufen werde, zuvor aber noch einmal mit ihr schlafen wolle. Er gab der Zeugin eine Zigarette. Als die Zeugin ablehnte, mit dem Angeklagten zu schlafen und die Zigarette weg warf, schlug er ihr mit der Hand ins Gesicht, um ihren Widerstand zu brechen… Er drang alsbald mit seinem erigierten Penis in die Scheide der Zeugin ein. Anschließend sagte er sinngemäß zu der Zeugin, 'diese Zigarette wirst Du solange abarbeiten, solange Du Deinen Namen noch weißt‘."

Eine Sozialarbeiterin von Solwodi half Natalja nach dem Prozess, in einer anderen Stadt Arbeit zu finden. Dort lernte sie einen Deutschen kennen, der sie heiratete. Vor einem halben Jahr konnte sie ihren kleinen Sohn nachholen. Der Große ist inzwischen volljährig, hat eine eigene Wohnung in der Ukraine. Ihre Eltern leben auch noch dort. Natalja könnte, sollte jemand den Eltern etwas von ihrer Vergangenheit erzählen, jetzt behaupten, das seien alles nur üble Gerüchte. Aber sie selber wird die Erinnerung nicht los. Viele Male am Tag wäscht sie sich die Hände. Am liebsten würde sie ständig duschen oder baden. Aber es hilft nichts. Sie fühlt sich auch danach noch schmutzig. "Ich bin ja selber daran schuld", sagt sie.


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