DIE WELT: Noch vor kurzem war die moslemische
Welt in Aufruhr über die dänischen Mohammed-Karikaturen. In den Banlieues blieb
alles ruhig. Aus welchem Grund?
Michel Gurfinkiel:
Daß es so ruhig blieb, lag erstens an der massiven Polizeipräsenz in den
Vorstädten. Zweitens haben die radikalen oder konservativen moslemischen Führer
in Frankreich ihre wichtigsten Ziele schon erreicht. Anders war dies in
Kopenhagen, wo die Protestaktionen der Moslems vor allem das Ziel hatten, die
gleichen Rechte und Privilegien zu erhalten wie die christliche Staatskirche. In Frankreich haben sich die Moslems als größte Glaubensgemeinschaft nach den
Katholiken etabliert. Diese Stellung wird sich auch in Gesetzen niederschlagen.
So wird die 100 Jahre alte Trennung von Staat und Kirche einer Revision
unterzogen.
WELT: Dagegen gibt es Widerstand.
Gurfinkiel: Das ist richtig. Doch steht der radikale Islam als Gewinner da. Es wäre für ihn kontraproduktiv
gewesen, wegen der Karikaturen zu Aufruhr anzustacheln.
WELT: In Frankreich gibt es Enklaven, in denen das islamische Gesetz dominiert. Wird das Land zu einer muslimischen
Nation?
Gurfinkiel: Ich glaube, daß wir auf eine
Balkanisierung zusteuern. Frankreich hat als Modell eines homogenen
Nationalstaates ausgedient. So haben wir Gebiete, wohin sich niemand mehr zu
gehen traut, auch die Polizei nicht, und wo Leute von draußen nicht willkommen
sind. Dort entwickelt sich eine Bewegung, die radikal-moslemisch organisiert
ist.
WELT: In den USA fühlen sich
Einwanderer als Teil des Landes. Wie schaut es in Frankreich aus?
Gurfinkiel: Da sich der Islam vor allem politisch versteht,
neigt er dazu, sich selbst als "islamische Nation" oder als "Gemeinschaft der
Gläubigen" zu porträtieren. Die Moslems haben eine klare Vorstellung davon, was
islamisch ist und was nicht. Nehmen wir zum Beispiel die aus Algerien gekommen
Moslems. Für uns Franzosen war Algerien eine Kolonie. Seit 1962 ist es für uns
ein unabhängiges Land ist. Die moslemischen Algerier denken anders. Für sie
haben die Franzosen über sie geherrscht. Jetzt fühlen sie sich ihnen ebenbürtig.
Manche wollen auch Rache nehmen. Selbst als französische Staatsbürger fühlen sie
sich als moslemische Algerier, die in Frankreich leben, das sie als eine
algerisch-französische Einheit betrachten. Dies trifft auch für viele andere
Moslems in Frankreich zu. Einen Treueeid würden sie zuerst auf ihre moslemische
Gemeinschaft und erst danach auf Frankreich oder Europa ablegen.
WELT: Sehen Sie die Gefahr, daß auf lange Sicht die
französische Lebensart unter dem moslemischen Einfluß Schaden leiden
könnte?
Gurfinkiel: Hier kommt die Demographie
ins Spiel. In Frankreich werden die Menschen immer älter und die Kinder immer
weniger. Man spricht zwar immer von der hohen Geburtenrate, doch wird damit das
Problem der Überalterung nicht gelöst, da die meisten Frauen ihre Kinder erst im
Alter von über 30 bekommen. Es gibt immer weniger Familien, in denen mehrere
Kinder aufgezogen werden. Von den 62 Millionen Franzosen sind 20 Millionen über
50 Jahre alt. Sie werden bald Rentner und viele auf soziale Hilfe angewiesen
sein. Unter den 40 verbleibenden Millionen sind etwa acht bis zehn Millionen
Einwanderer, in ihrer großen Mehrheit aus Nord- und Schwarzafrika. Genaue Zahlen
liegen nicht vor, da die illegale Einwanderung hoch ist und es gesetzlich
untersagt ist, Statistiken nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit zu
führen. Sicher ist hingegen, daß der Anteil der moslemischen Immigranten in der
jungen Generation dramatisch steigt. In manchen Städten wie in Lille und Roubaix
sind heute schon über 50 Prozent der jungen Generation Moslems. Dieser Trend
wird sich fortsetzen, und der Einfluß der moslemischen Gemeinschaft in der
französischen Gesellschaft wird zunehmen. Ich glaube, daß die französische
Nation in 20 Jahren dem Libanon oder Malaysia sehr ähnlich sein wird. Ob dies
zur Gründung einer islamischen Republik in Frankreich führt, wie manche Leute
befürchten, wage ich nicht zu sagen. Doch wird sich der Druck erhöhen,
moslemisches Regelwerk in das französische Gesetzeswerk
aufzunehmen.
WELT: Steigt nicht die
Gefahr, daß Unruhen wie im November eine religiöse Dimension
bekommen?
Gurfinkiel: Nach allem, was wir heute
über die Unruhen wissen, gab es auch schon im November ein starkes religiöses
Element. Die meisten Unruhestifter sehen sich als Mitglieder der "islamischen
Nation". Es ist auch kein Geheimnis, daß die Ruhe erst nach Verhandlungen mit
moslemischen Führern vor Ort hergestellt werden konnte.
WELT: Angesichts des Gewichts der moslemischen
Gemeinschaften ist es somit kein Zufall, daß Jean-Marie Le Pen auf diese
Wählerstimmen schielt, wenn er behauptet, daß er in einer Islamisierung
Frankreichs keine Gefahr sieht.
Gurfinkiel: Da
möchte ich Ihnen interessanten Zahlen nennen. Skyrock ist ein sehr populärer
privater Radiosender, der vor allem von den Jugendlichen in den Vororten gehört
wird. Auf seiner Website fragt der Sender die Jugendlichen schon heute, wem sie
unter 34 potentiellen Kandidaten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen ihre
Stimme geben würden. An erster Stelle steht wirklich Le Pen mit 29
Prozent.
WELT: Also ist Le Pen für die
Moslems wählbar?
Gurfinkiel: Sie können sich eine
Allianz mit ihm vorstellen. Wir wissen, daß die moslemischen Führer, und hier
meine ich die sehr einflußreichen Botschaften der islamischen Länder und die
Imame, die moslemischen Gläubigen auffordern, sich in die Wahllisten
einzutragen, sich in allen französischen Parteien zu engagieren, um den Islam
als einen festen Bestandteil der französischen Gesellschaft zu etablieren. Und
keine Partei, die gewählt werden will, wird auf die Stimmen der Moslems
verzichten wollen. Das wird sich auch auf die künftige Gesetzgebung
auswirken.
WELT: ... Auch eine Art von
Integration.
Gurfinkiel: Es gibt verschiedene
Arten von Integration. Bis Ende der sechziger Jahre bestand sie darin, Franzose
zu werden, den französischen Lebensstil zu pflegen, seine Religion aber als
Privatsache zu behandeln. Doch steuern wir jetzt auf eine andere Situation zu.
Die Immigranten haben heute nicht nur das Recht, gleichberechtigter Partner der
französischen Gesellschaft zu werden, sondern auch das Recht, die Gesellschaft
nach ihrer eigenen Kultur zu verändern.
WELT:
Ist der Eindruck richtig, daß viele führende Politiker in Europa
gegenüber dem Islam eine Appeasement-Politik betreiben?
Gurfinkiel: In der Tat scheint dies der Fall zu sein.
Allerdings geht es um die Beschwichtigung der extremistischen Moslems, welche
die moslemische Welt unter Kontrolle bekommen wollen, um die gesamte Welt zu
beherrschen. Ein Grund für dieses Appeasement ist Angst.
Michel Gurfinkiel ist Autor mehrerer Bücher über internationale Beziehungen und Leitartikler des Wochenmagazins "Valeurs Actuelles". Aufmerksamkeit erregten seine jüngsten Arbeiten zur Immigration. Die Fragen stellten Jochen Hehn und Jacques Schuster.
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