Sie wissen, ihr Leben ist kurz

Die Drogenbosse in den brasilianischen Favelas
werden immer jünger, brutaler und rücksichtsloser

von W. Kunath (Frankfurter Rundschau, 12.12.2005)

(mit einer Nachbemerkung von Nikolas Dikigoros)

Inspektorin Marina Maggessi ist seit 15 Jahren bei der Polizei, und sie hat einige der großen, berüchtigten Rauschgift-Händler zur Strecke gebracht. Beim Interview in ihrem Büro spricht sie nüchtern und schnell: Dass die Slums von Rio de Janeiro nicht in der Hand des organisierten Verbrechens sind, sondern "schwer bewaffneten Banden von pubertierenden Kindern" gehorchen müssen. Dass der Staat, die Familie, die Kirche schlichtweg gescheitert sind. Dass höchstens eine gewaltige sozialpolitische Anstrengung die Lage wenden könnte. Dass die Polizei "nur das Aspirin" ist, das die Kopfschmerzen vertreiben, nicht aber die Krankheit der Gesellschaft kurieren könne.

Über eine Million der fünf Millionen Einwohner Rios leben in Slums, in den angrenzenden Gemeinden , wo weitere fünf Millionen Menschen wohnen, dürfte der Anteil noch höher liegen. Die Drogenbanden sind eine kleine Minderheit.

In Rocinha, Rios größtem Slum, leben vermutlich rund 120.000 Menschen - Schätzungen zufolge sind nur 800 im Drogenhandel aktiv. 5194 Morde, 31.333 Autodiebstähle, 20.184 Überfälle auf offener Straße gab es wurden im vergangenen Jahr im Großraum Rio de Janeiro registriert.

Fast alle Morde, die nicht aus Leidenschaft geschehen, hängen laut Polizei mit Drogenhandel zusammen.

So schnell und so nüchtern redet jemand, der das Thema schon tausendmal hin- und hergewendet hat. Aber die Nüchternheit ist wie weggeblasen, wenn die Inspektorin erzählt, wie sie kurz zuvor eine 13-Jährige verhört hat, deren schockierende Aussagen selbst ihr Tränen in die Augen getrieben hat. "Ich dachte erst, die meint das nicht ernst, als sie sagte, sie hätten ganz bewusst einen voll besetzten Omnibus anzünden wollen", berichtet die Polizistin, "sie war völlig emotionslos, und als ich sie gefragt habe, ob sie denn die verbrannten Menschen nicht gesehen habe, hat sie nur geantwortet, da sei sie nach Hause gegangen, weil es so schlimm gerochen hat".

Voll besetzten Bus angezündet

Der Omnibus 350 fährt im Zentrum von Rio los und durchquert dann die bescheidenen Viertel der Nordzone, deren Hügel von Favelas, von Slums, überzogen sind - die Territorien der Drogen-Bosse. In den ziegelroten und betongrauen Siedlungen lebt eine überwältigende Mehrheit von Menschen, die zäh, ehrlich und anständig das Leben zu bewältigen versucht.

Menschen wie die Putzfrau Lídia da Silva, 52, oder wie die Aushilfe Wânia da Lúcia Barbosa, 33, die nachts mit ihrer einjährigen Tochter im 350er saß, als die 13-Jährige und eine zweite junge Frau namens Brenda in der Rua Irapuá vor den Bus sprangen und ihn zum Halten zwangen. Seit 2000 sind im Großraum Rio de Janeiro 303 Omnibusse in Brand gesetzt und weitere 330 anderweitig zerstört worden.

Insofern war der nächtliche Überfall auf den 350er zwar besonders tragisch, weil fünf Menschen in den Flammen umkamen, darunter Lídia, Wânia und ihr Baby, und 14 Menschen mit schweren Verbrennungen ins Krankenhaus kamen. Aber grundsätzlich war der Überfall nichts Außergewöhnliches: Eine der fast schon üblichen Vergeltungsaktionen der Drogen-Banden, die damit meist einen von der Polizei getöteten Kumpanen rächen wollen.

Bloß dass die Traficantes, die Drogen-Bosse, bisher eben die Fahrgäste vorher aussteigen ließen. "Dass Menschen starben, war kein Unfall, sondern Absicht", sagt die Soziologin Patricia Rivero, die die Omnibus-Attentate in Rio seit Jahren untersucht, "das ist das Furchtbare und Neue daran".

Die Überlebenden schilderten die schrecklichen Momente, nachdem einige junge Männer den Bus geentert, Benzin ausgegossen, das Streichholz angerissen hatten. "Um Gottes Willen, macht die Tür auf, meine Tochter ist doch noch ein Kind", hörten sie Wânia schreien. Befohlen hat den Überfall ein Traficante namens Lord, der bereits zu zehn Jahren verurteilt war und wegen guter Führung nach sechs Jahren freikam. Der Mann - und Brenda, seine Geliebte - wird zurzeit nicht nur von der Polizei gejagt, sondern auch von seinen Rivalen aus der Drogen-Szene.

Denn die haben die Chance genützt, in einer beispiellosen Eskalation der Gewalt ihren Einfluss auszuweiten: Einen Tag nach dem Überfall auf den 350er ging ein Anruf bei dem Rauschgiftdezernat ein, die Polizei solle den grauen Wagen näher in Augenschein nehmen, der vier Blöcke von der Rua Irapuá abgestellt sei. In dem Auto fanden die Beamten die Leichen von vier der mutmaßlichen Omnibus-Mörder. Ihre Mörder hatten, um die Identifizierung zu erleichtern, extra darauf verzichtet, ihren Opfern das Gesicht zu zerschießen.

"Sie sind alle leer, in ihnen ist nichts"

"Unsichtbare Kinder", so nennt der Soziologe und Sicherheitspolitiker Luiz Eduardo Soares die Slum-Kids - weil sie keine Beachtung finden, keine Chance haben, keine Rolle spielen. Als wäre die Formulierung auf die 13-Jährige gemünzt: Sie hatte nicht einmal Dokumente, niemand hatte ihre Geburt für registrierenswert befunden, sie ist Analphabetin. "Die existiert überhaupt nicht", empört sich die Inspektorin. Das Mädchen ist keine Ausnahme: "Sie sind alle leer, in ihnen ist nichts, keine Emotion, gar nichts. Nicht einmal Hass."

Vor zehn Jahren, sagt die Beamtin, gab es diesen Typ von Delinquenten noch nicht. Auf den Morros, den Slum-Hügeln von Rio, hat ein tiefer, folgenreicher Generationswechsel stattgefunden. "Hej, hej, hej, Escadinho ist unser König", so skandierte die Gesellschaft, die im vergangenen Jahr den Drogen-Chef José Carlos dos Reis Encina zu Grabe trug. Der Spitzname "Escadinha" bedeutet "Leiterchen", denn der Mann war Ausbrecherkönig. 1985 hatte ihn ein Kumpan per Hubschrauber aus dem Gefängnishof abgeholt. Er gehörte zu der Generation von Traficantes, die in ihrem Viertel geboren, aufgewachsen, mächtig geworden waren, die die Gemeinschaft respektierten, die alten Damen noch grüßten, in Not geratene Freunde unterstützten, Schulgelder bezahlten und Kinderkrippen finanzierten.

Alle sind vollgedröhnt und bewaffnet

Auch wenn das Robin-Hood-Auftreten der traditionellen Traficantes im Nachhinein oft idealisiert wird - die Jungen sind aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sie kennen die Zeiten gar nicht mehr, in denen die Favelas noch nicht vom Drogenhandel beherrscht wurden. "Früher waren nur die Chefs bewaffnet, die Verkaufsstellen lagen diskret versteckt, und Kinder hatten da nichts zu suchen", sagt Patricia Rivero, "aber heute werden Kinder gezielt eingesetzt, gedealt wird in aller Öffentlichkeit, und alle sind bewaffnet".

Und vollgedröhnt - die Händler von heute sind auch Konsumenten. "Mein Laster sind die Weiber", zitiert Inspektorin Maggessi dagegen Fernandinho Beira Mar, einen Schwerverbrecher der alten Garde, "ich bin doch nicht so blöd und schnupfe". Die Jungen, so Rivero, "wissen, dass ihr Leben kurz ist, also suchen sie ein Maximum an Lust, an Macht, an Waffen, an Frauen, an Geld, an Status". Und warum werden die Drogenbosse immer jünger? Das, meint die Soziologin, liege an der immanenten Tödlichkeit des Geschäfts: "Dadurch tauschen sich die Führungsfiguren so schnell aus".

Wenn die Slumbewohner die alten Traficantes gemocht haben, wie ist das heute? Applaudieren sie nicht heimlich, wenn die einen die anderen umlegen? "Heimlich?", fragt die Inspektorin spöttisch zurück, "heimlich applaudieren wir von der Polizei. Die Bewohner applaudieren offen."

Was die Traficantes zur Mäßigung bringen könnte, sind die geschäftlichen Interessen. Denn wenn es knallt, bleiben die Kunden aus der Oberschicht verschreckt weg. Die Umsätze, weiß die Polizei, sind in letzter Zeit gesunken. Der Traficante Joca, der die größte Favela von Rio, die Rocinha, beherrscht, hat im Oktober dekretiert, er wünsche keine Diebstähle und Raubüberfälle in den benachbarten Reichen-Vierteln mehr.

Von 1980 bis 2000 sind in Brasilien 600 000 Menschen ermordet worden. Von der sozialpolitischen Offensive, die Inspektorin Maggessi erträumt, ist weit und breit nichts zu sehen.

Und die Polizei spielt beileibe nicht nur die bescheidene Rolle der Kopfschmerz-Tablette. 2003 kamen in Rio 1195 Menschen durch die Polizei ums Leben. So wie vor ein paar Tagen, als Polizisten vier Jungs zwischen 16 und elf Jahren erschossen. Keiner der vier war bewaffnet.


Nachbemerkung: Dikigoros ist oft angefeindet worden wegen seiner kompromißlosen Haltung in Sachen Kinder- und Jugendkriminalität in Lateinamerika. Er hat immer wieder die Einführung der Todesstrafe ohne Altersbegrenzung befürwortet - wer alt genug ist um zu morden, ist auch alt genug, um dafür hingerichtet zu werden. Solange der Gesetzgeber verabsäumt, in dieser Richtung tätig zu werden, muß diese Aufgabe halt von den viel geschmähten "Todesschwadronen" wahrgenommen werden, als Akt kollektiver Notwehr. Wenn man 5.000 Mörder und/oder Drogendealer hinrichtete, würde das Leben von 5 Millionen Menschen in Rio wieder lebenswert, weil sie sich nicht mehr von ein Promille "Mitbürger" terrorisieren lassen müßten. Wenn man dagegen die jugendlichen Kriminellen schonte - was würde dann aus ihnen? Erwachsene Kriminelle, die noch mehr und noch schwerere Straftaten begingen, hat nicht nur er immer argumentiert, und er hat - leider - Recht behalten, aber niemand hat auf ihn und seinesgleichen gehört. Hier ist nun das Resultat!


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