KULTURELLE  GLOBALISIERUNG

Durch Nivellierung zum Untergang der Sprachen

Dem Englischen droht das Schicksal des Latei-
nischen - die Aufspaltung in Volkssprachen

von Safet Babic (Deutsche Stimme - Januar 2000)

Die alttestamentarische Geschichte vom Turmbau zu Babel, die Gott erzürnen ließ und als Folge seines Zorns zur Sprachverwirrung der Menschheit führte, dürfte bekannt sein. Heute, am Anfang des neuen Jahrtausends, scheint es, als würde sich die Geschichte von Babel wiederholen - allerdings diesmal in umgekehrter Richtung.

Expandierende Märkte, moderne Telekommunikation und Massentourismus bringen Völker zusammen, die vor 100 Jahren kaum etwas voneinander wußten. Die Konsumenten aller Länder kaufen rund um den Globus in den gleichen Geschäften die identischen Produkte von denselben multinationalen Konzernen - die Globalisierung läßt grüßen! Daß mit der weltweiten Uniformierung der Produkte und Geschmäcker die Nivellierung der Kulturen einhergeht, wird von den meisten Menschen fahrlässig übersehen. Nach Schätzungen der UNESCO stirbt alle zwei Wochen eine Sprache. Rund die Hälfte der 6.528 Sprachen (Stand 1997) wird in den nächsten hundert Jahren verstummen, auf jeden Fall gefährdet oder unmittelbar vom Aussterben bedroht sein. Als gefährdet gilt eine Sprache, wenn sie nicht mehr von Kindern gesprochen wird. »Moribund«, also im Sterben begriffen, ist sie, wenn nur noch eine Handvoll älterer Menschen sie spricht. Nach dem Tod des letzten Muttersprachlers bezeichnet die Linguistik eine Sprache als ausgestorben.

Man muß sich vergegenwärtigen, daß Sprachen wie Organismen leben und sterben. Verfügen Sprachen zwar nicht über den im biologischen Sinne notwendigen Stoffwechsel, so sind sie gleichwohl in einem hohen Maße von ihrer Umwelt abhängig. Permanente Veränderungen sind aber daher zwangsläufig. Überholte Begriffe und Wörter verschwinden aus dem Vokabular; mittelalterliche Termini des Lehnrechts wie »Hintersasse« und »Aftervasall« sind heute bestenfalls im Geschichtsbuch zu finden. Bestimmte Wörter erfahren einen Bedeutungswandel oder eine Bedeutungserweiterung (etwa Familie, Bürger, radikal usw.). Grammatische Erscheinungen werden verändert, meistens vereinfacht (backte statt buk [ist das eine Vereinfachung, sechs statt drei Buchstaben? Doch wohl eher eine Verdoppelung! Anm. Dikigoros], Kommas anstelle von Kommata). Ebenso werden Neuerungen durch die rasante Entwicklung in Technik und Wissenschaft nötig, Stichwörter: Computer und Internet. Gleichfalls entstammen auch die Gründe für den Existenzverlust einer Sprache denselben Gefahren, die für das Aussterben einer Tier- und Pflanzenart verantwortlich sind: sie werden ihres Lebensraumes beraubt oder von erfolgreicheren, wettbewerbsfährigeren Konkurrenten verdrängt.

Die Macht einer Sprache ist immer eng verknüpft mit der ökonomischen und politischen Dominanz eines Volkes. Seit 1000 v. Chr. war das Aramäische eine der führenden Amtsprachen des Orients. Doch mit dem Einfall der Araber war das Schicksal des Aramäischen besiegelt, es wurde von der Sprache der Besatzer restlos verdrängt. Daß selbst Jesus von Nazareth sich dieser Sprache bediente, weiß im christianisierten Europa heute kaum noch jemand. Durch die Kolonialisierung Amerikas starben Tausende von Sprachen; allein in Brasilien verschwanden seit dem Erscheinen der Portugiesen im Jahre 1500 weit über 1.000 Sprachformen. Beherrschten auf dem Höhepunkt des römischen Weltreiches im 2. Jahrhundert n. Chr. rund 50 Millionen Menschen die lateinische Sprache, so begann drei Jahrhunderte später der Zerfall des Lateinischen als Verkehrssprache. Es starb aus, oder ging auf als »Vulgärlatein« in den romanischen Sprachen. Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Rumänisch sowie in einigen Dialekten wie Katalan oder Provenzalisch. In Europa zählen zu den gefährdeten Sprachen die keltischen Sprachen Britanniens, Irlands, und der Bretagne. So wird zum Beispiel das Manx auf der Isle of Man nur noch zu zeremoniellen Zwecken verwendet.

Strahlender Sieger des weltweiten Sprachensterbens ist bisher das Englische. Heute sprechen bereits rund 1,5 Milliarden Menschen Englisch - knapp ein Viertel der Weltbevölkerung. Aus linguistischen Erwägungen heraus läßt sich diese Vormachtstellung nicht erklären. Zweifelsohne verfügt das angelsächsische Idiom über eine sehr einfache Morphologie, das heißt Deklination der Substantive und Adjektive, und die Kunjugation der Verben kommt mit sehr wenigen Formen aus. Doch die Grammatik ist kompliziert, die Schreibweise eigenwillig und die Aussprache uneinheitlich. Daher läßt sich der rasche Aufstieg in erster Linie mit den Eroberungen des britischen Empire und der heutigen amerikanischen Hegemonie in Politik und Wirtschaft erklären. Auch die Flexibilität gegenüber anderen Sprachen, die Einflüsse aus 150 Sprachen wie ein Schwamm aufgesogen hat, ist ein wichtiger Grund für die rasche Ausbreitung.

Doch der flexible Charakter dieser Sprache wird sich als deren Schicksal erweisen. Denn schon heute enthalten viele Wörterbücher des asiatischen, australischen oder südafrikanischen Englisch Begriffe, die von keinem »native speaker« des Englischen als englisch erkannt werden. Möglicherweise erfährt auch diese Sprache dasselbe Schicksal, das vor 1.500 Jahren das Lateinische erfuhr - die Aufspaltung in untereinander unverständliche Formen (die heutigen romanischen Sprachen). Die utopischen Forderungen von uneinsichtigen Weltverbesserern nach Auflösung aller Sprachen, um durch eine universelle Weltsprache menschlichen Streit und Kriege von Völkern zu verhindern, wären somit widerlegt. Der Ausspruch des preußischen Sprachenforschers Wilhelm von Humboldt: »Die Sprache ist kein freies Erzeugnis des einzelnen Menschen, sondern gehört der ganzen Nation an«, sollte an dieser Stelle Rechnung getragen werden. Die Sprache ist eines der lebendigsten Zeichen von Kultur, Mentalität und Einstellung eines Volkes; sie zu bewahren und in reiner Form weiter zu geben ist daher eine der wichtigsten Aufgaben herkunftsbewußter Menschen.

Sprache ist nicht nur ein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken. Vielmehr formt das linguistische System (die Grammatik) den Gedanken durch vorgegebene Schemen und Anleitungen, die von Sprache zu Sprache und Sprachgruppe zu Sprachgruppe anders sind. Vor allem die modernen Naturwissenschaften unterstreichen die Richtigkeit des »linguistischen Relativitätsprinzips« (Lee Whorf). So ist es eine Tatsache, daß Beobachter derselben physikalischen Sachverhalte aufgrund ihres unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes zu einem anderen Weltbild gelangen, sofern ihre linguistischen Hintergründe nicht ähnlich oder auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Damit sind sprachliche Vereinheitlichungen im voraus als nicht sinnvoll zu erkennen, wie die erfolglose Entwicklung der Kunstsprache Esperanto deutlich macht. Schließlich gilt auch in Sprache und Kultur der Grundsatz: Evolution strebt nicht nach Vereinheitlichung, sondern nach Differenzierung!


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