MIT KORAN UND GRUNDGESETZ . . .

Wer unterwandert hier wen? Milli Görüs die deutsche Gesellschaft oder umgekehrt?

von Martin Spiewak & Wolfgang Uchatius (Die Zeit 06/99)

Faruk Öztürk erinnert sich exakt an jenen Tag, der seinem Leben eine neue Richtung gab. Es war der 24. September 1995, der Tag, an dem 17.000 Marathonläufer durch Berlin rannten. Während draußen in Kreuzberg die letzten Plastiktrinkbecher über die Straße kullerten, saß der 21jährige Faruk zum ersten Mal im türkischen Mevlana-Jugendklub und schaute im Fernsehen Fußball.

Fernsehen, Trinken und Zocken, so hatte Faruk Öztürk bis dahin seine Tage verbracht. Er spielte gegen Automaten und mit Karten, den Gewinn versoff er an der nächsten Straßenecke. Seine Kumpane hielt er für Freunde, Diskobesuche für das Schärfste. Faruk war Türke in Deutschland, der Sprung von der alten in die neue Heimat war ihm nicht gelungen. "Ein, zwei Jahre mehr, und ich wäre auf einer Parkbank gelandet", sagt er. Dort sieht er jetzt manchmal seine alten Kumpels liegen - "zugekifft und vollgesoffen". In solchen Momenten weiß er, daß er Glück hatte. "Der Jugendklub hat mich gerettet."

Nach dem Schlußpfiff des Fußballspiels sprach ihn ein Leiter des Klubs an. Sie redeten über Fußball, über das Leben der Türken in Berlin - und über Faruks Träume. Von diesem Tag an kam Faruk öfter in den Jugendklub. Heute ist er es, der andere junge Türken anspricht. Faruk lädt zu Billard und Darts ein, er organisiert Fußballturniere. Und bietet Tee an. Alkohol gibt es nicht, den verbietet der Islam. Dessen Regeln sind oberstes Gebot in den zwölf Berliner Jugendklubs der Milli Görüs.

Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, zu deutsch "Nationale Sicht", ist heute die mit Abstand größte unabhängige muslimische Vereinigung in der BRD. Gegründet wurde der Verband Anfang der siebziger Jahre als Auslandsorganisation der türkischen Islamisten. In 500 Moscheen und Betstuben verkünden ihre Hodschas das Wort Allahs. Hunderttausende folgen - sagt die Organisation. Der Verfassungsschutz, der die Milli Görüs als "islamistisch-extremistisch" bezeichnet, spricht von 26.500 Mitgliedern. Die Zahl der Sympathisanten dürfte um ein Vielfaches höher sein.

In den vergangenen zehn Jahren hat die Nationale Sicht über ganz Deutschland ein Netz aus Gotteshäusern, Sozialeinrichtungen und Geschäften gelegt. Dank moderner Organisation und ihrer Finanzkraft hat Milli Görüs ihren Einfluß unter Deutschlands knapp drei Millionen Muslimen stetig ausweiten können.

Deren Stimme hat in Zukunft Gewicht. Nach 30 Jahren im religiösen Ghetto treten die Muslime aus dem Schatten der Hinterhöfe und klagen ihre Rechte ein. Es sind vor allem die Frommen, die Konservativen, die Islamisten, die mitbestimmen und miterziehen wollen. Allen voran die Milli Görüs.

Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts macht die Milli Görüs zu einem ernstzunehmenden politischen Faktor. Wenn rund 1,7 Millionen Muslime - vielleicht schon Anfang nächsten Jahres - das Recht auf einen deutschen Paß erhalten, "sind wir nicht mehr nur Verfügungsmasse der Politik, sondern ein Wählerpotential", verkündet der Milli-Görüs-Funktionär Hasan Özdogan. Er bestärkt damit alle Befürchtungen konservativer Politiker, die vor den "Fremden mit dem deutschen Paß" warnen. Zusätzlichen Auftrieb erhielt die Milli Görüs im November durch Innenminister Otto Schily. Er hatte darüber nachgedacht, islamische Organisationen als Körperschaften öffentlichen Rechts den christlichen Kirchen gleichzustellen. Den ersten Antrag stellte in Nordrhein-Westfalen der Milli-Görüs-dominierte Islamrat. Im gleichen Monat hatte das Berliner Oberverwaltungsgericht erstmals einer islamischen Vereinigung erlaubt, an staatlichen Schulen Religionsunterricht zu erteilen. Hinter der siegreichen Islamischen Föderation steckt die Milli Görüs. Sollten Lehrer für einen solchen Islamunterricht gesucht werden, wie ihn die CDU nun für ganz Deutschland vorschlägt - die Sympathisanten der Milli Görüs werden unter den ersten sein, die sich bewerben.

Doch dürfen deutsche Behörden mit einer Organisation zusammenarbeiten, die der Verfassungsschutz als "islamistisch-extremistisch" einstuft? Islam-Kenner wie Udo Steinbach vom Deutschen Orient-Institut in Hamburg bescheinigen der Milli Görüs ein Defizit an innerer Demokratie und werfen ihr zwielichtige wirtschaftliche Praktiken vor (siehe Gleiche Rechte für die Muslime auf Seite 13). Wer ist diese Vereinigung, die immer wieder ihre Treue zum Grundgesetz beteuert und gleichzeitig ihre Mitglieder auffordert, Deutschland "mit Hilfe Allahs zum Paradies auf Erden zu machen"? Bedient sie sich der Demokratie nur, um einen Gottesstaat auf Erden zu errichten? Ist sie eine harmlose Religionsgemeinschaft oder der verlängerte Arm der Islamisten in Ankara, muslimischer Geheimbund oder türkische Caritas?

Allahu Akbar - Allah ist größer. Immer wieder ertönt der Schlachtruf Gottes aus 7000 Kehlen. Die Milli Görüs hat den muslimischen Nachwuchs zum Jugendtag in die Düsseldorfer Philippshalle gerufen. Rechts jubeln die Männer, links die Frauen, züchtig gekleidet mit Kopftüchern und langen Mänteln. In der Mitte wachen Ordner mit einem Sender im Ohr. Nur Kinder dürfen die unsichtbare Linie zwischen den Geschlechtern überschreiten. Einige von ihnen tragen Stirnbänder mit dem wichtigsten Satz des Korans: "Es gibt keinen Gott außer Allah." Über den Köpfen ein Meer aus roten und grünen Fahnen: die Farben der Türkei und des Islam.

Religiöse Andacht sieht das Programm, bis auf ein paar Koransuren am Anfang, nicht vor. Schon der zweite Tagesordnungspunkt, die "Anwesenheitsprüfung", gerät zum Vollbad in Gefühlen. Zählappell der muslimischen Massen: "Hamburg bölgesi", "München bölgesi", "Paris bölgesi". Der Versammlungsleiter ruft einen Regionalverband nach dem anderen auf. Die Angesprochenen springen von ihren Plätzen und versuchen mit ihrem Allahu Akbar die Vorgänger zu übertönen. Mehr als eine halbe Stunde währt der Städtekampf, musikalisch untermalt durch Conquest of Paradise - die Hymne, mit der Henry Maske das Publikum vor seinen Boxkämpfen aufheizte. Am lautesten schreien an diesem Tag die Stuttgarter. Sie sind mit drei Hundertschaften angereist und entscheiden den Wettbewerb nach Dezibel für sich.

In den nächsten sieben Stunden hat die Regie die Menge fest im Griff. Die Inszenierung ist perfekt. Auf türkische Märsche folgen stampfende Diskorhythmen, auf anatolischen Sakropop die türkische Hymne. Hände an der Hosennaht, den Blick in die Ferne gerichtet - so singen die jungen Deutschtürken den Nationalgesang ihrer Eltern. Wem der Text entschwunden ist, bekommt von der Großbildleinwand Hilfe: "Mein geliebtes Vaterland Türkei."

Eine Falschparker-Durchsage unterbricht das Programm. Ordnung muß sein, man ist schließlich in Deutschland. Dann marschieren Politiker aus der Türkei in die Arena, unter ihnen der ehemalige Kulturminister der inzwischen verbotenen Wohlfahrtspartei. Und dann ist ER da, wenn auch nur per Telefon aus Istanbul zugeschaltet. Er, dessen Namen man nicht nennen darf, wie der ersammlungsleiter geheimnisvoll verkündet. Necmettin Erbakan, der ehemalige türkische Ministerpräsident. Seine Worte sind kaum zu verstehen, die Verbindung bricht immer wieder ab. Doch der Menge scheint jedes Wort eine Offenbarung. Mücahit Erbakan, "Glaubenskämpfer Erbakan". Die Schlachtenbummler Gottes rasen.

Necmettin Erbakan gilt bis heute als der Pate der Milli Görüs. Die Verehrung für den 72jährigen Islamistenführer trägt fast religiöse Züge. Seine Worte und Schriften zielen darauf, in der Türkei eine neue Regierungsform zu errichten - auf Grundlage des Korans und des islamischen Strafrechts. Erbakan skizzierte die Grundzüge der gottgefälligen Herrschaft 1991 in einer Programmschrift. In seiner Gerechten Ordnung haben weder Parteien noch Opposition Platz.

Mit uns muß man rechnen! - das gefällt den Zukurzgekommenen

Zwar streben die Islamisten die "gerechte Ordnung" in erster Linie für die Türkei an. Doch Aussteiger berichten, daß manche der Erbakan-Ziele auch in den Führungszirkeln der deutschen Milli Görüs auf dem Lehrplan stehen. Eine Anfang Januar veröffentlichte Studie des Innenministeriums in Düsseldorf zitiert ein internes Arbeitspapier der Milli Görüs: "Die Gemeinschaft ist ein Mittel, das dem Ziel dient, die Gesellschaft zu islamisieren." Gemeint ist Deutschland.

In der Öffentlichkeit spricht niemand solche Sätze aus. Auch Necmettin Erbakan beschränkt sich bei seiner Botschaft an den muslimischen Nachwuchs auf ein aufmunterndes Weiter-so und das Bedauern, selbst nicht dabeizusein. Damit bricht die Leitung in die Türkei endgültig zusammen. Die Musik setzt wieder ein.

Parteikongreß und Folklorekonzert, Heimattreffen und Kirchentag: Die Inszenierung wechselt jeden Augenblick die Form, das Geschehen pendelt zwischen der alten und der neuen Heimat. Und doch scheint das Programm aus einem Guß. Wie ein Band durchzieht ein Grundton alle Reden, Jubelarien und Lieder: Wir sind stark - Wir sind eine Einheit - Mit uns muß man rechnen. Das Logo der Milli Görüs nimmt die ersehnte Zukunft vorweg: Ein weißer Halbmond umarmt die Landkarte Europas, gehalten im hoffnungsfrohen islamischen Grün.

Diese Botschaft ist Balsam auf die Seelen all jener Türken, die sich in der deutschen Gesellschaft zu den Verlierern zählen. An diesem Tag in Düsseldorf können die Kinder des Korans die bitteren Wahrheiten des Alltags vergessen. Daß drei Viertel aller türkischen Jugendlichen es niemals über die Hauptschule hinaus schaffen. Daß jeder dritte von ihnen ohne Arbeit ist. Daß jedes zweite türkische Mädchen keinen Ausbildungsplatz findet. Das ist das Klima, in dem Ressentiments blühen - und die Milli Görüs gedeiht.

Kaum einer bedient die Gefühle der Zukurzgekommenen so gekonnt wie Generalsekretär Mehmet Erbakan, der Neffe des türkischen Islamistenführers. 31 Jahre alt, ist Erbakan das größte politische Talent unter Deutschlands muslimischen Funktionären, eine Art Cem Özdemir des Islam. In Köln hat er studiert, dort ist er Arzt geworden. Wer ihn sieht, ist irritiert. Kein öliger Funktionär im Satinanzug. Kein bärtiger Prediger, der nur Türkisch kann. Erbakan junior trägt randlose Brille, Dreitagebart und zum teuren Jackett einen bunten Schlips. Mit 13 übernahm er das erste Amt in der Jugendabteilung der Milli Görüs, mit 28 war er Generalsekretär.

Aussteiger behaupten, eine Wahl habe es nie gegeben. Ein Wort des mächtigen Onkels habe gereicht. Der Neffe sagt, er habe 95% Ja-Stimmen bekommen, 5% hätten sich enthalten. "Die werden heute im Keller verschärfter Folter ausgesetzt." Erbakan kokettiert gern mit den Vorwürfen gegen die Milli Görüs.

Vor dem Düsseldorfer Jugendtag ist die Brandrede auf türkisch passender. Als Erbakan ans Mikrofon tritt, ist "Milli Görüs, Brücke in die alte Heimat" abgehakt. Nun spricht Milli Görüs, die Apo der Deutschtürken. Vom Koran und einer "gerechten Ordnung" ist keine Rede, dafür um so mehr vom Grundgesetz, dessen Rechte den Muslimen in Deutschland vorenthalten werden.

Erbakan läßt kein Reizwort aus. Die Einführung des Kindervisums, die Stimmengewinne der Rechtsparteien in Ostdeutschland, der verweigerte islamische Religionsunterricht, die Benachteiligung ausländischer Jugendlicher auf dem Lehrstellenmarkt, das "Kopftuchverbot": Geschickt vermischt der Redner tatsächliche und vermeintliche Diskriminierung, bauscht sie auf, macht Stimmung.

Den meisten Applaus bekommt Erbakan, als er die Argumentation konservativer deutscher Politiker und Verfassungsschützer umdreht. Die Milli Görüs demokratiefeindlich? Die deutsche Politik verweigert den hier geborenen Türken bislang doch den elementarsten Grundsatz der Demokratie: das Wahlrecht! Deutschland kein Einwanderungsland? "Ihr seid der lebende Gegenbeweis." Die Muslime zu sehr auf die Türkei fixiert? "Wer von euch hat in den letzten Jahren einen deutschen Abgeordneten in eurer Moschee gesehen?" Keine Hand ragt auf.

Dafür finden Politiker aus der Türkei den Weg in die Gebetshäuser. Die Milli Görüs ist nicht nur das Sprachrohr der Muslime in Deutschland, sondern auch die Geldmaschine der Islamisten in der Türkei. Im Dezember tourte ein Dutzend Vertreter der Fazilet-Partei, Nachfolgeorganisation der verbotenen Wohlfahrtspartei, durch die BRD. Mit Horrorszenarien über die Unterdrückung der Muslime in der Türkei bringen "sie die Gläubigen zum Weinen und öffnen ihnen die Taschen", berichtet ein ehemaliger Milli-Görüs-Hodscha.

Bis vor kurzem behaupteten die Vertreter der Milli Görüs, ein rein religiöser Verband zu sein. Heute sagt Mehmet Erbakan offen: "Wir sind die Repräsentanten einer Minderheit, die seit eineinhalb Generationen keine Stimme hat." Die Jugendlichen in Düsseldorf, die seine Rede hören, können nur zu einem Schluß kommen: Die Deutschen wollen uns nicht - auf zur Milli Görüs. Jahr für Jahr steigt die Anhängerschaft ihrer Jugendorganisation. Den größten Sprung machten die Zahlen Anfang der neunziger Jahre, das war die Zeit der Anschläge von Solingen und Mölln. Wissenschaftler der Universität Bielefeld ermittelten, daß mittlerweile ein Drittel der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen sich "gut" oder "teilweise" durch die Milli Görüs politisch vertreten fühlt.

Im Rundum-sorglos-Paket der Milli Görüs ist für jeden etwas

Für Anton Rütten, im nordrhein-westfälischen Sozialministerium zuständig für Integration, spiegelt sich in solchen Zahlen vor allem deutsches Versagen. Jahrelang habe eine "Rollback-Haltung" die deutsche Ausländerpolitik beherrscht, die sich insbesondere auf die dritte und vierte türkische Einwanderergeneration auswirke. Zwar würden die Jugendlichen in der Schule aufgefordert, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Doch später stünden sie vor verschlossenen Türen. "Wir selbst haben die Milli Görüs stark gemacht", sagt Rütten.

Der Kölner Lehrer und Sozialwissenschaftler Reinhard Hocker hat Rüttens These in Dutzenden Gesprächen mit türkischen Jugendlichen belegt gefunden. Ein 19jähriger formulierte es so: "Egal, ob du hier geboren bist oder einen deutschen Paß hast, die sagen immer: Du bist keiner von uns." Hocker stieß auf das immergleiche Muster: In der traditionellen Welt der Eltern finden sich viele junge Leute nicht mehr zurecht. Doch auch in der neuen Heimat fühlen sie sich nicht angenommen.

Die 25-jährige Miyesser Ildem wuchs in einer gespaltenen Welt auf. Die Türken sagten ihr, als Frau dürfe sie sich nicht weiter als 90 km von der Wohnung ihrer Eltern entfernen. Die Deutschen lachten sie aus, weil sie keinen kurzen Rock tragen wollte. Irgendwann hatte sie keine Lust mehr, Türkin zu sein - konnte sich aber auch nicht als Deutsche fühlen.

Heute trägt Miyesser Ildem Jeans, eine peppige Brille mit Schlangenlinien im Gestell - und ein Kopftuch bis über die Haarspitzen. Der Islam war ihr Ausweg aus dem nationalen Vakuum. Allah gab ihr Selbstbewußtsein, sagt sie.Sie folgte der Religion ihrer Väter, aber nicht deren Glauben. Auf die eigene Karriere verzichten, um einem Mann zu dienen - das kommt für sie nicht in Frage.

Miyesser Ildem führt ihren eigenen kleinen Haushalt, studiert Medizinökonomie an der Uni Köln und schlägt sich zur Zeit mit deduktiver Statistik herum. Ans Heiraten denkt sie ungefähr so oft wie an einen Umzug in die Türkei. "Obwohl es dort heißt, wenn du in einem bestimmten Alter noch keinen Mann hast, wirst du eingelegt wie saure Gurken."

Die junge Frau gehört zu einer wachsenden Zahl von Deutschtürkinnen, für die das Kopftuch nicht ein Accessoire des Heimchens am Herd ist, sondern Symbol religiösen Bewußtseins. Sie geben sich selbstbewußt, schreiben "StudentInnen" statt "Studenten" und bedecken ihren Kopf zum Zeichen der Emanzipation. Das Kopftuch, sagen sie, schütze vor Männern, die Frauen nur mit den Augen beurteilen.

Vor Diskriminierung schützt es nicht. Miyesser Ildem jobbte neben dem Studium als Aushilfe in einer Arztpraxis. Mit der Begründung, ihr Kopftuch schade dem Geschäft, wurde sie entlassen. Kein ungewöhnliches Erlebnis einer bekennenden Muslimin in einer islamfeindlichen Umwelt. Mädchen mit Kopftuch müssen in Schulen die Untaten der Taliban rechtfertigen, sie werden aufgefordert, in die Türkei zurückzugehen. Machtlos stehen 13jährige Erwachsenen gegenüber, die mit vielen Worten immer eines meinen: Du bist anders. Irgendwann haben die Mädchen verstanden - jetzt suchen sie ihresgleichen, denen es ähnlich geht.

Sie finden sie zum Beispiel beim Institut für Internationale Pädagogik und Didaktik in Köln, das der Milli Görüs nahesteht. Dort geben muslimische Frauen Kurse in Rhetorik und Selbstbehauptung - Kraftspenden unter Glaubensschwestern. In ihren Moscheen und Betstuben bietet die Milli Görüs nicht nur eine religiöse Heimat, sondern auch moralischen Halt und praktische Hilfe.

Wer die Tür zur Merkez-Moschee in Hamburg-St. Georg betritt, dem öffnet sich ein ganzes Universum muslimischer Dienstleistungen. Rechts der Gemüsemann und Metzger, der rituell geschlachtetes Fleisch verkauft. Links die Bücherstube mit islamischer Kinderliteratur, Schmuckausgaben des Korans und den kleinen Kalendern mit den täglichen Gebetszeiten. Am Friseur vorbei geht es ins Restaurant. Männer nippen an Teetassen, unterhalten sich, sehen fern.

Eine Etage höher stehen auf einem Bord Kinderturnschuhe aufgereiht, bunte Rucksäcke hängen an der Garderobe. Gleich wird der Hodscha mit dem Unterricht für den muslimischen Nachwuchs beginnen. Jede Moschee ist auch Koranschule und Jugendgruppe. Die Kinder berichten von Ausflügen, Sportveranstaltungen, Computerkursen und Ferienfreizeiten.

Im Rundum-sorglos-Paket der Milli Görüs ist für jeden etwas dabei. Die Gläubigen können mit der Milli Görüs Fußball spielen oder nach Mekka pilgern. Im Todesfall organisiert ein Beerdigungsfonds die Überführung der Leiche vom Sterbebett in Berlin oder Duisburg bis zum Grab nach Istanbul oder Konya. Ein Leben mit Milli Görüs - von der Wiege bis zur Bahre.

Langsam und geschickt verborgen gesellt sich zu sozialem Beistand und religiöser Unterweisung die Ideologie. "Schritt für Schritt werden die Jugendlichen in die Organisation hineingezogen", berichtet Sozialwissenschaftler Reinhard Hocker. Manche erfahren erst spät, daß die sorgende Mutter Milli Görüs heißt.

Gerade in den zurückliegenden Wochen des Ramadan zeigte sich die muslimische Verbundenheit besonders deutlich. Wenn es draußen dunkel wurde und die Muslime zum Fastenbrechen zusammenkamen, war die Tafel gedeckt. Ob in der Hamburger Merkez-Cami oder in der Mevlana-Moschee in Berlin-Kreuzberg: Für jeden Gläubigen standen Fleisch, Salate und Tee bereit. Bezahlen mußte niemand.

Auf heikle Fragen antwortet der Hodscha mit sanftem Lächeln

"Der Islam bestimmt das Leben von A bis Z", sagt Mustafa Özcan, einer der Hodschas in der Merkez-Moschee. Der 29jährige gehört zu den wenigen deutschsprachigen Korangelehrten der Milli Görüs. Wer mit Özcan darüber reden will, wie ein frommer Muslim die Gebote des Propheten in Deutschland zu leben hat, muß viel Zeit mitbringen.

Das heilige Buch in der Hand, ein paar Jugendliche im Kreis um sich geschart, sitzt der Hodscha auf dem Gebetsteppich - und spricht in Rätseln. Mal sagt er, das Wort Gottes stehe über den Geboten des Staates. Dann heißt es wieder, Gott verlange von niemandem, daß er die Gesetze breche. Im Prinzip befürwortet Özcan die Scharia. Doch in Deutschland müsse sie nicht gelten, hier lebe man als Muslim schließlich in der Minderheit.


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