Keiner wollte für immer bleiben

von Gisela Kirschstein (DIE WELT, 20.12.2005)

Vor 50 Jahren wurde das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien unterzeichnet. Ein Gespräch mit dem Gastarbeiter Vito Contento.

Sie waren nicht gekommen, um zu bleiben - und doch gehören sie heute selbstverständlich in das Straßenbild in Deutschlands Städten: Vor 50 Jahren kamen die ersten "Gastarbeiter" nach Deutschland. "Niemand von uns wollte damals für immer bleiben, wir dachten alle, es wäre für maximal ein Jahr", sagt Vito Contento. 1961 kam der Italiener aus Apulien nach Koblenz, um in einem Hotel als Kellner zu arbeiten. Geblieben ist Contento, einer von rund vier Millionen Italienern, die in der Folge des Anwerbeabkommens nach Deutschland kamen, bis heute. "Es war am 29. April 1961, Freitag abend um halb sieben." Wie aus der Pistole geschossen kann Vito Contento den genauen Zeitpunkt seiner Ankunft in Deutschland benennen. "Das weiß jeder Gastarbeiter, es war so ein einschneidendes Erlebnis", sagt der heute 65jährige. Contento kam aus einem kleinen Ort in Apulien. Zu Hause hatten sie eine kleine Landwirtschaft, aber der Vater war gestorben, und mit ihm die Chance für den Sohn, in der 50 Kilometer entfernten Großstadt die höhere Schule zu besuchen.

Da kam das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien gerade recht: Am 20. Dezember 1955 schlossen die beiden Staaten die Vereinbarung "Zur Anwerbung und Vermittlung von Arbeitskräften", was der damalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard schon 1954 ins Gespräch gebracht hatte. Im boomenden Nachkriegsdeutschland fehlten Arbeitskräfte, in vielen südlichen Ländern herrschte dagegen ein Mangel an Arbeitsplätzen und Zukunftschancen. In Deutschland lockten dagegen ein Job und das schnelle Geld.

"Deutschland war für uns die große Unbekannte, ein schwarzes Loch", erinnert sich Contento. Der junge Italiener hatte Glück: Im Hotel "Trierer Hof" in Koblenz fand er Arbeit, eine Unterkunft und freundliche Aufnahme durch die Kollegen. Nicht allen erging es so gut. Der italienische Arbeitsminister bemerkte nach der Visite in einer Gastarbeiterbaracke 1961 in der Tageszeitung "Corriere della Sera" schockiert, die Unterbringung sei "schlechter als die einer Gruppe kongolesischer Krieger". Daran änderte sich für viele über Jahre hinweg wenig: "Jeder Gastarbeiter hat Anspruch auf ein Bett, einen Hocker, ein Stück Tischplatte, drei Quadratmeter Boden zum Wohnen und zehn Kubikmeter Luft zum Atmen", beschrieb die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" noch im Dezember 1970 die Lebensumstände vieler Arbeiter. Als Zeichen der Wiedergutmachung organisierte die deutsche Botschaft jüngst in mehreren italienischen Orten Gedenkveranstaltungen mit ehemaligen Gastarbeitern, bei denen ausdrücklich für ihren Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder gedankt wurde.

Der Umgang mit den damaligen Gastarbeitern sei durchaus "gelegentlich menschenverachtend" gewesen, bestätigte auch der Chef der Mainzer Staatskanzlei, Staatssekretär Martin Stadelmaier, bei der Eröffnung einer Ausstellung anläßlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens diese Woche in Mainz.

Dazu kamen Sprachprobleme: "Mein Deutsch reichte nicht aus, wenn ich ,Guten Abend' sagte, lachten die Deutschen", erinnert sich Contento. Auch das verletzte den damals 19jährigen. Der junge Kellner gehörte zu den ersten Italienern in Koblenz überhaupt, ab 1972 studierte er als erster Italiener an der Fachhochschule für Sozialpädagogik. Da war Contento bereits vier Jahre als Betreuer für italienische Gastarbeiter für die Caritas in Koblenz tätig: In den 1960er Jahren hatten die Kirchen begonnen, Beratungsstellen für die Gäste aufzubauen. Auch nach Koblenz kam ein Pfarrer, Contento half ihm, dolmetschte, vermittelte. Das war oft bitter nötig: "Es gab damals keine Sozialarbeiter, die italienisch sprachen", berichtet er. Wenn italienische Arbeiter zum Arzt mußten, in Krankenhäusern lagen oder starben, mußte vermittelt und geholfen werden. "Wir waren Menschen für alles, von der Wiege bis zur Bahre", erinnert sich Contento.

Bis zu seiner Pensionierung im vergangenen September arbeitete der Italiener für die Caritas-Betreuungsstelle - dabei wollte er eigentlich immer wieder zurück in die Heimat. "Mein Traum war immer, Grundschullehrer in Italien zu werden", berichtet er. 1980 versuchte es Contento noch einmal, bewarb sich, legte Prüfungen ab - alles vergeblich. Eine Stelle in Italien bekam er nicht. Erst da fand er sich mit einer dauerhaften Existenz in Deutschland ab.

Heute sitzt der 65jährige für die CDU im Koblenzer Stadtrat, ist Vorsitzender des Ausländerbeirats und kämpft für das Wahlrecht für hier lebende Ausländer "auf allen Ebenen", wie er sagt. In Koblenz, sagt Vito Contento inzwischen zufrieden, "da bin ich zu Hause, da kenne ich mich aus, da ist meine Arbeit, meine Familie, mein Leben". In Italien, fügt er hinzu, "da ist die sentimentale Heimat meiner Kindheit".


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