JENSEITS VON SOLL UND HABEN

Hat der Kosovo-Krieg sich »gerechnet«?

Anmerkungen zum Verhältnis von Ökonomie
und imperialistischer Aggression

von Peter Decker (Konkret 08/99)

Der Auftrag der KONKRET-Redaktion, ich möge etwas zum »Ökonomischen Hintergrund« oder zur »Ökonomie des Krieges« beisteuern, den die Nato gegen Jugoslawien geführt hat, kommt einer Aufforderung zur Falschaussage nahe. Denn wer in Kriegsdingen von Aufwand und Ertrag, Kosten und wirtschaftlichem Nutzen redet, verstößt nicht nur gegen den nationalen Anstand - das ginge noch -, sondern gegen die Wahrheit.

Wenn kritische Leute einen wirtschaftlichen Vorteil als Grund und Ziel des Waffengangs anführen, verweigern sie der Kriegsmoral die Gefolgschaft und bestreiten dem Krieg die höhere Motivation. Daß für Geld und die wirtschaftlichen Interessen derer, die es haben, getötet und gestorben wird, ist ihr Vorwurf -. »Kein Blut für Öl!« Zur Kritik eines Krieges nennen sie öffentlich private Nutznießer. Die Rüstungsindustrie, die an den Aufträgen der Regierung verdient, gerät ihnen zum Auftraggeber ihrer Auftraggeber. Wo immer westliche Waffen zuschlagen, entdecken sie unentdeckte Ölquellen, seltene Rohstoffe, unverzichtbare Handelswege oder ideale Pipeline-Trassen. Je schwerer derartige Entlarvungen fallen - und im Fall des Armenhauses Balkan fallen sie sehr schwer -, desto verwegener die Konstruktion. Aber das schadet nichts: Ihre Überzeugungskraft bezieht diese Kritik ohnehin nicht aus ihrer Schlüssigkeit, sondern aus der Schönheit ihrer moralischen Botschaft. Sie spricht dem Krieg seine Würde ab: Während die Regierung vorgibt, sie lasse für allerhöchste menschliche Prinzipien und die Werte der Gemeinschaft kämpfen, schickt sie die Jugend doch nur für den Reichtum der Reichen ins Feuer. Diese Kritik legt sich mit dem Maßstab des national verantwortbaren Krieges nicht an, sondern benutzt ihn in kritischer Absicht gegen diesen Krieg. Sie sagt ihm wirtschaftliche Vorteile nach und kann ihn damit nur deshalb blamieren, weil Krieg eine prinzipielle Mission und Selbstbehauptung der Nation ist, bei der sich kleinliche Vor- und Nachteilsrechnungen nicht gehören.

Wenn die Kritiker selbst schon kritisch darauf anspielen, daß es sich bei Krieg eigentlich um eine höhere Sorte Konkurrenz der Staaten handelt, bei der die Geldfrage keine Rolle spielt, dann sollten sie sich bei der Erklärung der Kriegsziele auch daran halten. Wenn sie die Lüge vom uneigennützigen humanitären Waffengang zurückweisen und ein Interesse ihres Staates an der Unterwerfung eines anderen Staates anprangern wollen, dann geht das eben nicht mit dem Deuten auf eine (gar nicht vorhandene) Bereicherung durch den Krieg. Worin der Materialismus des kriegführenden Staates besteht, wäre zu klären. Dazu drei Thesen.

1. Kapitalismus und Imperialismus
Die Frage nach einem speziellen ökonomischen Grund und Ziel dieses Krieges ist verkehrt; einen solchen Grund gibt es nicht wohl aber einen ökonomischen Grund des Imperialismus kapitalistischer Staaten überhaupt. Sie haben sich eine Ökonomie eingerichtet, die stetig expandiert und expandieren muß. Dafür erschließt die politische Macht ihren Kapitalisten den Gebrauch von Märkten, Rohstoffen und Arbeitskraft auch jenseits der eigenen Landesgrenzen. Selbstverständlich achtet die Regierung darauf, daß ihr Dienst am Wachstumsbedürfnis exportierender oder importierender Kapitalisten ihr selbst und dem nationalen Reichtum als ganzem zugute kommt: Das grenzüberschreitende Geschäft muß das inländische Wachstum fördern, und seine Bilanzen dürfen die nationale Zahlungsfähigkeit gegenüber dem Ausland nicht untergraben. Beides ist nicht selbstverständlich. Denn die positive Handels-, Zahlungs- und Kapitalverkehrsbilanz kann immer nur einer von zwei beteiligten Staaten haben. Wenn Kapitalisten über Grenzen hinweg ihrem Profit nachjagen, kaufen, verkaufen und investieren, fällen sie zugleich Entscheidungen über die einseitige Bereicherung oder Verarmung von Staaten. Diese wiederum beugen sich nicht brav dem Urteil der Märkte; sie fordern vom grenzüberschreitenden Verkehr ihre Bereicherung auf Kosten anderer Nationen und lassen sich ihre ökonomische Entmachtung durch die Resultate der internationalen Konkurrenz der Kapitalisten nicht bieten.

Daher setzt ein Staat die Erlaubnisse und Verbote, Zölle und Investitionsbedingungen für das Außengeschäft so fest, daß sein einseitiger nationaler Erfolg daraus gesichert ist. Mit seinen politischen Vorgaben trifft ein Staat auf die auswärtige - heute ebenfalls überall kapitalistische - Staatsmacht, die haarscharf genauso kalkuliert und ihrerseits alles ökonomische Treiben in ihrem Machtbereich genehmigt oder verbietet, je nachdem, ob sie die ökonomischen Potenzen ihrer Macht dadurch gefördert oder beschädigt sieht. In den zwischenstaatlichen Vereinbarungen darüber, was die Partner ihren Geschäftsleuten wechselseitig genehmigen, wird ein Gegensatz verhandelt - und das zwischen höchsten Subjekten. Die politische Hoheit muß sich nicht wie die ihr unterworfenen Privatleute an übergeordnete Gesetze halten, wenn sie ihren Vorteil sucht, sie selbst macht ihre Gesetze und ordnet sich dabei nichts Höherem unter als ihrem eigenen Egoismus. Die Entscheidung zwischen gegensätzlichen nationalen Rechtsansprüchen ist eine Frage der Gewalt - und zwar keineswegs erst, wenn Staaten zu den Waffen greifen. Der friedliche diplomatische Verkehr ist eine einzige gegenseitige Erpressung: Jeder Partner macht dem anderen klar, daß er es sich gar nicht leisten kann, seine Anträge zurückzuweisen; jeder droht für den Fall einer solchen Zurückweisung Konsequenzen für die gesamten beiderseitigen Beziehungen an und erinnert zur Not offen daran, mit was für einer Militärmacht der liebe Partner es zu tun, welche Rechte und Vorrechte er also zu respektieren hat. Frieden zwischen kapitalistischen Nationen herrscht dann, wenn und solange sie einander als die Gewalten anerkennen, die sie sind. Die Verschlechterung der Beziehungen bis hin zum Krieg steht an, wenn einer der Partner zu dem Schluß kommt, daß der andere nicht bereit ist, die Erpressungsmacht und die Rechtsansprüche anzuerkennen, die der eine sich aus seiner Stellung in der Rangordnung der Gewalten zurechnet wenn also die Gewalt, die ein Staat ist, von neuem bewiesen werden muß.

Die ökonomischen Nationalinteressen sind der Stoff des zwischenstaatlichen Streits, sein Argument und Entscheidungsmittel ist die Gewalt. Weil von ihr alle Durchsetzung in allen Fragen abhängt, wird der Kampf um die Rangordnung unter den höchsten Gewalten zu einer selbständigen, ja zur eigentlichen Konkurrenz der Nationen. Stets arbeiten sie an der Veränderung des Kräfteverhältnisses auf dem Globus und ringen sehr prinzipiell um Respekt vor ihrem Status: Welcher Staat darf was? Welcher kann anderen Vorschriften machen? Welcher muß sich Diktate gefallen lassen? Feindschaften entzünden sich an verweigerten Respektsbeweisen, Rüstungsanstrengungen der Gegenseite oder einem angemaßten Statusfortschritt der eigenen. Eine Rückübersetzung der Machtkonkurrenz der Staaten in einen ökonomischen Streitgegenstand ist unmöglich - aber auch nicht nötig, denn der Materialismus des nationalen Vorteils ist in der Prinzipienreiterei der Souveränität perfekt aufgehoben: Alle Benutzungverhältnisse lassen sich regeln, wenn die Über- und Unterordnung zwischen Staaten geklärt ist. Das gilt sogar für Konflikte und Kriege, die ihren Ausgangspunkt in einem ökonomischen Streit haben. Wenn Staaten dazu übergehen, den entgegenstehenden Staatswillen zu brechen und dafür die Basis und die Mittel seiner Macht zu zerstören, dann ist der Gegensatz viel prinzipieller als der entgangene oder zu erzielende Vorteil aus einer Handelsregelung. Am ökonomischen Stoff haben die feindlichen Mächte lediglich entdeckt, woran ihr Verhältnis überhaupt krankt: Der Nachbar verletzt ihre Rechte und mißachtet ihre Erpressungsfähigkeit; deshalb werden sie grundsätzlich. Der Friedensvertrag, den ein Krieg früher oder später herbeiführt, formuliert die neue Grundlage, auf der die Staatsgewalten sich wieder zu respektieren bereit sind, fixiert die Unterordnung bzw. die Vorrechte, deren Recht die Waffen bewiesen haben. Leistungen, die dem Kriegsverlierer abverlangt werden Abrüstung, Räumung von Territorium, Reparationen oder industrielle Demontage -, sind Pfand und Hebel seiner bleibenden Unterordnung unter den Sieger, aber nicht selbst Zweck des Krieges.

2. Der Balkankrieg - ein Kampf um Vormacht und Hinterhof
Die bald zehn Jahre dauernde Zerstörung Jugoslawiens bis zum direkten Krieg der NATO gegen den Rest dieses einst bedeutendsten Staats in Südosteuropa bietet von allem Anfang an keinen Anlaß für Irrtümer hinsichtlich eines »ökonomischen Hintergrunds« der westlichen Intervention. Das einstige Jugoslawien war längst ökonomisch auf die EU orientiert und bereit, sich zu deren Bedingungen zum Hinterland des westeuropäischen Kapitals zu machen; längst hatte es eine Funktion als Transitland des EU-Verkehrs zum griechischen Partner, als billiges Urlaubsland für lohnarbeitende EU-Bürger, als Zulieferer für die Auto- und Elektroindustrie und anderes mehr. Jugoslawien hat keine kapitalistische Benutzung durch westliche Wirtschaftsmächte je abgelehnt; eher schon hatte es nicht erhörte Anträge auf Investitionen und eine stärkere Einbeziehung in die westeuropäische Integration gestellt. Die Feindschaft, die sich erst die jugoslawische Zentralmacht, später das übriggebliebene Serbien zuzog, hat ihren Ausgangspunkt gleich auf der höchsten Etage der Souveränitätsfrage genommen, ohne daß Streit über begrenzte Interessengegensätze jemals laut geworden wäre.

Es war das Pech von Titos Staat, daß seine weltpolitische Eigenständigkeit nach dem Ende des Ostblocks und sein innerer Aufbau - Vielvölkerstaat - zu einem Zeitpunkt in die Krise gerieten, als Deutschland und Europa entschlossen waren, die Früchte ihres Sieges im Kalten Krieg zu ernten und eine Aufwertung des eigenen Status durchzusetzen. Zuerst benutzte das wiedervereinigte Deutschland den unzufriedenen Nationalismus in einigen Teilrepubliken, um sich eine Rolle anzumaßen, wie sie die USA in ihrem mittel- und südamerikanischen Hinterhof ausüben: die Rolle der Vormacht, gegenüber deren Willen die Souveränität anderer Staaten in ihrem Machtbereich nichts zählt. Dieses Recht hat sich Deutschland durch rücksichtslose Inanspruchnahme erobert: Ungefragt hat Bonn entschieden, daß Slowenen und Kroaten keine jugoslawischen Separatisten, sondern eigene Völker sind, denen das Recht auf einen eigenen Staat zusteht. Es hat die vom jugoslawischen Standpunkt aus illegalen Staatsgründungen durch die diplomatische Anerkennung gefördert und damit seinen Anspruch proklamiert, innere Streitfragen Jugoslawiens zu entscheiden. Die Frage, was der damalige Bonner Außenminister Genscher damit beabsichtigt hat, verbietet sich: nichts anderes, als diese Rolle einzunehmen und Deutschland, was den imperialistischen Status betrifft, gleichrangig neben die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs zu postieren.

Die EU-Partner registrierten den Angriff auf ihre überkommenen Vorrechte gegenüber dem »ökonomischen Riesen« und wiesen eine deutsche Einmischung in Jugoslawien zurück. Freilich nicht überhaupt, sondern so, daß sie sie zur gemeinsamen Sache aller europäischen Imperialisten machten. Nicht Deutschland, die EU als ganze beansprucht das Recht, über Sein und Nichtsein anderer Staaten in Europa zu befinden. Dabei mußten sie Deutschland nicht bei einem beabsichtigten Alleingang stoppen, denn auch ihm ging es um nichts anderes als um deutsche Führung bei der Fortentwicklung des europäischen Wirtschaftsbündnisses zu einem imperialistischen Machtzentrum. Die Jugoslawienkriege markieren die Anfänge der »gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP).

Gesteigertes Pech des jugoslawischen Staats war es, daß die europäischen Vormächte sich auf die Wahrnehmung ihrer gemeinsamen Aufsicht und deren Ziele erst noch einigen mußten. Sie haben sich nicht auf dem Balkan eingemischt, weil sie dort etwas Bestimmtes erreichen wollten, sondern sie mußten Ordnungsvorstellungen entwickeln, weil sie sich unbedingt einmischen und zuständig machen wollten. Die Aufsichtsmächte hatten nicht nur keine wirtschaftlichen, sondern auch keine bestimmten strategisch-politischen Absichten. Und wenn eine Partei irgendwie ihren nationalen Einfluß im Auge gehabt hätte, so garantierte der Einigungszwang unter den EU-Partnern, daß derlei nicht herauskommen würde: Die Unterwerfung des Hinterhofs unter die EU mußte eine Unterwerfung unter sehr abstrakte, übernationale Prinzipien werden und wie diese Prinzipien auf die dortigen Verhältnisse passen würden, hatten eben diejenigen zu sehen, denen sie auferlegt wurden. Deutschland wollte die Abspaltung von Slowenien und Kroatien; England und Frankreich wollten anfangs Jugoslawien erhalten. Einig wurde man sich über Auflagen, denen die jugoslawischen Streitparteien zu gehorchen hatten. Einerseits sollte das Selbstbestimmungsrecht der Völker gelten; in den Rang von Völkern wurden die konstitutiven Nationalitäten Jugoslawiens eingesetzt - damit wurde dem Prinzip der völkischen Umsortierung Recht gegeben. Andererseits durften neue Staaten nur innerhalb der alten innerjugoslawischen Republiksgrenzen entstehen - damit war das Umsortieren von Staaten und Bevölkerungen nach dem ethnischen Prinzip gerade verboten.

Serbien war keineswegs von Anfang an der gemeinsame Feind Europas. Es wuchs aber mit Notwendigkeit in diese Rolle, weil es die Zentrale war, auf deren Kosten die europäisch beaufsichtigte Zerlegung des jugoslawischen Staates ging, und weil es Haupterbe der überkommenen Machtmittel war, mit denen es sich der immer weiteren Auflösung der föderativen Republik widersetzte. Wenn sich die jugoslawische Armee auch aus immer weiteren Teilen Jugoslawiens zurückzog, so doch stets, um dadurch einen Rest eigenständig serbischer, und das heißt infolge der europäischen Einmischung anti-westlicher, Staatsräson zu retten. Der einzige Staat auf dem Balkan, der nicht von Gnaden der EU entsteht und der immer noch aus eigenem Recht mit den Diktaten der imperialistischen Übermacht kalkuliert, wird zum Hindernis der EU-Zuständigkeit für die Region. Deshalb war es irgendwann mit dem Rückzug der jugoslawischen Armee aus anderen Teilrepubliken nicht mehr getan. Im Kosovokrieg ging es darum, die serbische Macht und ihre ökonomische Basis selbst zu zerstören, um die serbische Kriegsfähigkeit zu vernichten.

3. Die Ökonomie des Kosovokrieges
besteht zunächst darin, daß Geld keine Rolle spielt und auch nicht spielen darf. Krieg ist kein Geschäft, er bringt kein Geld, sondern vernichtet jede Menge kapitalistischen Reichtum. Da hört sich nämlich, wie Faschisten es sagen würden, das »Krämertum« des Kapitalismus auf. Die Gegner wollen nicht mehr verdienen, suchen nicht mehr relativen Vorteil im Geben und Nehmen, sondern werden prinzipiell: Entweder der eigene Wille gilt oder der andere. Um den fremden Staatswillen zu brechen, werden seine Machtmittel - Mensch und Material - möglichst effektiv zerstört.

Schon der Übergang zur Feindschaft zwischen Staaten zerstört das Geschäft und ruiniert die Profitgelegenheiten von Kapitalisten, die im beiderseitigen Handel engagiert sind oder in dem zum Feind erklärten Land investiert haben - die jugoslawische Telekom z. B., die in Grund und Boden gebombt wurde, gehört längst der Telecom Italia. Öl- und Technologieexporteure müssen feststellen, daß ihre gestern legalen Geschäfte mit Jugoslawien wegen der Embargobeschlüsse der Alliierten heute zu Verbrechen geworden sind.

Im Bombenkrieg kommen dann alle militärtechnischen Errungenschaften zum Einsatz. Der Aufwand bemißt sich erstens daran, wieviel Kriegsmittel ein Nato-Land aufbringen und beisteuern kann, um beim Feind so viel Waffen, lnfrastruktur, Fabriken, Menschen wie möglich zu zerstören; er bemißt sich zweitens daran, wie intensiv und wie lange bombardiert werden muß, bis der Feind das Handtuch wirft. Hinterher werden die vielen Milliarden zusammengezählt: Die Stationierung der Soldaten, der Betrieb der Bomberflotten, der Ersatz von verlorenem Gerät und verschossener Munition kosten Geld - auch wenn Kosten keine Rolle spielen dürfen, aufgebracht und bezahlt werden müssen sie schon.

Nach dem Sieg ist der serbische Industriestaat um Jahrzehnte zurückgeworfen. Eine Benutzung des Landes als Handelspartner und Anlageplatz für ausländisches Kapital liegt in weiter Ferne; auch als Billiglohnland und »verlängerte Werkbank« taugt es nicht mehr. Im Kosovo ist die Hälfte aller Gebäude zerstört, an Wirtschaft gab es auch vor dem Krieg schon nicht viel. Die Anrainerstaaten, die ohne viel Federlesens als Aufnarschgebiete hergenommen wurden, sind vor dem Kollaps, und der weitere Umkreis südosteuropäischer Staaten (Bulgarien, Rumänien) hat einen katastrophalen Einbruch des ohnehin dürftigen regionalen Geschäftsverkehrs zu verzeichnen.

In der ganzen Gegend ist für den europäischen Kapitalismus nichts zu holen - im Gegenteil. Die Sieger müssen mit eigenen Leuten und eigenen Mitteln eine staatsähnliche Ordnung und ihre Existenzbedingungen selbst wieder herstellen, damit der zerstörte Balkan, für den sie sich die Zuständigkeit erobert haben, halbwegs »stabil« wird. Geschätzte 20 Jahre lang wird ein Besatzungsregime den verfeindeten Volksgruppen im Kosovo einen multiethnischen Frieden aufzwingen müssen, den diese nicht wollen. Das kostet. Gleiches gilt für den Wiederaufbau der zerstörten Häuser und einer minimalen Infrastruktur. Die Rede ist schon von einem »Marshall-Plan« für die zerstörte Region. Wenn an der historischen Parallele auch nichts stimmt und vor allem die Opfer des Krieges keine Wohltaten zu erwarten haben, so bleibt doch eines: Ihre Aufsicht über den Balkan kostet die EU-Staaten eine Menge Geld, ohne daß ihre eigenen Wortführer sich davon »blühende kapitalistische Landschaften« und einen Zuwachs an europäischem Wachstum versprechen würden. Der imperialistische Aufbruch der EU kostet Steuergelder und beschädigt gleichzeitig die Steuerquellen, Geschäft und Wachstum in Europa. Finanzminister Eichel weiß schon, warum er dementiert, daß wegen des Kosovokrieges Steuern erhöht und Renten gesenkt werden müssen.

Es verhält sich also etwa umgekehrt, wie diejenigen meinen, die einen »wirtschaftlichen Hintergrund« des Kosovokrieges suchen: Die Rücksichtslosigkeit, mit der Staaten, die sich dem Wachstum des Kapitals verschrieben haben, das Geschäft in den Dienst des Krieges stellen und dafür beschädigen, ist der schönste Beweis dafür, auf wieviel Gewalt der Frieden der Profitmacherei beruht.

Nachtrag
Eine wirkliche Bilanz des Krieges steht aus. Auch sie betrifft nicht die Ökonomie, sondern die Nützlichkeit des militärischen Sieges für den politischen Zweck. Der ist maßlos, deshalb stellt sich schon nach wenigen Tagen Unzufriedenheit mit dem Erreichten ein: Die Nato hat an Restjugoslawien das Exempel statuiert, daß es sich kein Staat leisten kann, einem Diktat des vereinten Westens zu widersprechen. Jetzt hat es kapituliert - aber ist damit Serbien der botmäßige EU-Vasall geworden, der verlangt war? Schon reicht der Abzug aus dem Kosovo nicht mehr, jetzt will man Miloševic' stürzen und vor ein internationales Gericht stellen; auch muß Montenegro noch aus serbischem Zugriff befreit werden. Der Krieg hat ferner der Ex-Weltmacht Rußland die Rolle des unberücksichtigten Zuschauers in der Weltpolitik zugewiesen - halten sich die Russen daran, oder wehren sie sich dagegen durch eigene kleinere Kriegsakte wie die Besetzung des Flughafens von Pristina? Und was dann? Der Anspruch der Nato auf ein Gewaltmonopol über die Staatenwelt ist ernst gemeint, das hat dieser Krieg demonstriert. Aber eben nur an einer Stelle: An diesem Maßstab gemessen ist die Welt voller Herausforderungen für das Bündnis der Imperialisten; verlangt sind immer neue Beweise seiner Entschlossenheit, keine Ausnahmen zuzulassen. Dieser Krieg mündet für die Sieger nicht in einem befriedigenden Frieden, sondern in neuen Kriegen.


Peter Decker schrieb (gemeinsam mit Karl Held)
in KONKRET 8/95 über Lehren aus dem Bosnien-Krieg



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