Politische Bilanz der Krise in Algerien

von Sabine Kebir

(die herforder, Ausgabe Mai 2000)

Instrumentalisierung von Demokratie- und Menschenrechtsbegriff

Vergegenwärtigt man sich die Erregung einiger Institutionen der Europäischen Gemeinschaft angesichts der Regierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ in Österreich, darf man sich nachträglich um so mehr wundern, daß sie sich eine Regierungsübernahme der FIS (Islamische Heilsfront), die die ersten pluralistischen Parlamentswahlen 1991 in Algerien gewonnen hatte, offensichtlich ohne Schwierigkeiten vorstellen konnte, aus Respekt vor dem 'demokratisch' erzielten Wahlergebnis bis 1995 sogar wünschte. Wahrscheinlich hatte Said Sadi, der Führer der RCD (Vereinigung für Kultur und Demokratie) recht, als er 1996 sagte, daß Europa die Völker nach wie vor mit verschiedenen Maßstäben bewertete. Die Nordafrikaner würden offenbar als ethnische Subspezies angesehen, für die eine 'Demokratie' unter der Regierung einer Partei denkbar sei, die sich - nach langem Widerstreben - zwar demokratischen Wahlen gestellt hatte, jedoch nie einen Hehl daraus gemacht hatte, daß sie auch die geringsten demokratischen Errungenschaften sobald als möglich wieder abschaffen wollte, weil ihr Ziel die Errichtung eines islamischen Staates war. Außerdem hatten führende Vertreter der FIS vollkommen unverhüllt Gewalt gegen Andersdenkende, an der Religion Zweifelnde und nicht zuletzt gegen Frauen und Fremde angeheizt, lange bevor es zu den Schicksalswahlen im Dezember 1991 gekommen war.

Seit die algerische Armee im Januar 1992 den zweiten Wahlgang verhindert, ein Militärregime errichtet hatte und kurz darauf die FIS verbot, genossen viele tausend FIS-Kader und einfache Anhänger Duldung, teilweise auch Asyl in Europa, insbesondere in Schweden, England, Belgien und Deutschland. Die Eskalation der Gewalt in Algerien, der Massenmord an Bürger- und FrauenrechtlerInnen, an mehreren tausend einfachen Polizisten und Gefreiten konsternierte die Europäer zwar. Aber da die Neigung besteht, die Nordafrikaner für eine ethnische Subspezies mit eigener 'Identität' zu halten, glaubte man den beiden von der Exil-FIS vorgeschlagenen Interpretationen, wonach diese Gewalt 1. - soweit sie tatsächlich von ihren Anhängern ausging - eben eine Folge des Abbruchs der demokratischen Wahlen sei und 2. ein Großteil dieser Gewalt gar nicht von ihren Anhängern, sondern von den staatlichen Ordnungskräften ausginge, die den FIS oder gar den Islam diskreditieren wollten.

Daß sich die FIS und ihre bewaffneten Kräfte in der westlichen Öffentlichkeit tatsächlich als eine Art Volksbefreiungsarmee darstellen konnten, lag freilich auch daran, daß offenbar weder der Westen insgesamt noch die Europäische Union Forschungsorgane koordinieren kann, die diesen und ähnliche Konflikte in Afrika überhaupt beurteilen können. Als nahezu einzige in den Medien wahrnehmbare Interpreten der politischen Situation in Algerien traten nämlich Menschenrechtsorganisationen auf - inbesondere Amnesty International. Die wichtige Aufgabe dieser Organisationen besteht aber nicht darin, umfassende politische Analysen von Konflikten herzustellen, sondern den Opfern der von staatlichen Ordnungskräften begangenen Menschenrechtsverbrechen möglichst rasch zu helfen, vollkommen unabhängig davon, ob sie selbst Menschenrechte anerkennen, bzw verletzt haben. Es ist wenig bekannt, daß sich auch die meisten in den Maghrebstaaten seit den 1980er Jahren (in Tunesien bereits seit 1977) existierenden legalen oder illegalen Menschenrechtsorganisationen zu eben diesem Prinzip bekennen, d.h. sie fordern rechtsstaatliche Behandlung auch für verhaftete Gewalttäter. (Daß die Islamisten ihre Menschenrechtskonzeption keineswegs in diese Richtung entwickelten, zeigte u.a. 1994 der Mord an Mohamed Boufattlala, dem Präsidenten der LADH, der Algerischen Liga für Menschenrechte) 1985 war es auch in Algerien zur Gründung einer ersten, illegalen Liga für Menschenrechte (LADDH - Liga für die Verteidigung der Menschenrechte) gekommen. Dort trafen sich u. a. sowohl die später bekannt werdende Feministin Khalida Messaoudi, der eben aus der Haft entlassene Aktivist der Berberbeweung Said Sadi - beide seit Errichtung des Mehrparteiensystems in der Führung der RCD, der von den Islamisten am meisten verfolgten demokratischen Gruppierung als auch Abdenour Ali Yahia, ein ebenfalls gerade aus FLN-Haft entlassener Anwalt, der die Liga zunächst leitete. Seine Kanzlei verteidigte in den kommenden Jahren nicht nur viele in Haft geratene Islamisten. Yahia wurde der von Amnesty International anerkannte Gewährsmann in Fragen der algerischen Krise. Hier liegt wahrscheinlich der Grund, weshalb die staatliche Repression als Ursache der Gewalteskalation in Algerien angesehen werden konnte, während sich Amnesty gleichzeitig nicht dafür verantwortlich fühlte, daß viele Bürgerrechler schriftliche Todesdrohungen erhielten und daß z. B. Khalida Messaoudi bei einem Attentat während einer Demonstration 'nur' verletzt wurde.(1)

Auch die deutsche Asylpolitik folgte im Falle Algeriens den klassischen Menschenrechtskonventionen, wonach nur Verfolgte von Staaten Anrecht auf Aufnahme haben. So wurde Deutschland ein 'Ruheraum' für etwa 20.000 vor allem jugendliche Islamisten (ein Teil beschaffte sich erst hier den Mitgliedsausweise der FIS), während bedrohte Intellektuelle nur in sehr kleiner Anzahl bleiben konnten. Gipfel der Verwirrung war, daß sich das deutsche CISIA, das Komitée zur Unterstützung algerischer Intellektueller, in einem bestimmten Moment fragte, ob es nicht die vom Staat verfolgten Islamisten unterstützen müßte. Die algerische Krise ist in den Augen der westlichen Öffentlichkeit weitgehend unter Verdrehung von Ursachen und Wirkungen wahrgenommen worden. Die Verknüpfungen des islamistischen Phänomens in Algerien mit dem internationalen Islamismus wurden überhaupt nicht gesehen. Radikale algerische Islamisten nur als Opfer eines Systems allumfassender staatlicher Repression und die von ihnen umgebrachten BürgerrechtlerInnen als Verbündete des Staates. Die westlichen Medien reflektierten so gut wie gar nicht, daß es sich in Wirklichkeit um einen Dreifrontenkonflikt handelte, in dem das alte, ehemals von der FLN und mittlerweile von deren Nachfolgerin RND ( Nationale Vereinigung für die Demokratie) geführte, tatsächlich marode Staatssystem den Islamisten ideologisch viel näher stand als den ermordeten Bürgerrechtlern. Daß diese für die politische Interpretation so heikle Situation dem Land selbst bei der Anerkennung von Menschenrechten dennoch genützt hat, wird in einem späteren Abschnitt ausgeführt.

Die Plattform von Rom

Anfang 1995 kam auf Initiative des katholischen Ordens St. Aegidius und mit Unterstützung der USA sowie der Europäischen Union in Rom ein Treffen von im Ausland lebenden prominenten FIS-Führern mit Oppositionsparteien aus Algerien zustande, die sich durch eine politische Rehabilitierung der FIS ein Ende der Gewalt versprachen. Diese forderte zahlreiche Opfer nicht mehr nur unter den Ordnungskräften und Intellektuellen, sondern vor allem auch unter der Zivilbevölkerung. Neben NAHDA (Wiedergeburt), einer der zwei legalen islamistischen Parteien, nahmen an dem Treffen in Rom auch die der trotzkistischen Internationale angehörende Arbeiterpartei(2) und die FFS (Front der Sozialistischen Kräfte) teil, die - ähnlich wie der Westen insgesamt - das Programm der Islamisten zwar nicht teilten, ihren Aufstand aber dennoch als legitimes Widerstandsrecht des algerischen Volkes ansahen. Am spektakulärsten war die Teilnahme der FLN in Rom, die einen Großteil ihrer Mitglieder - vor allem Funktionäre des Staates - an die vom Militärregime gegründete RND verloren hatte und neues politisches Profil suchte. Für Kenner Algeriens war es nie ein Geheimnis gewesen, daß die FLN schon zu Boumedienes Zeiten und verstärkt seit Beginn der achtziger Jahre die Islamisten gegen demokratische und linke Bewegungen instrumentalisiert hatte und selbst immer mehr islamistisches Gedankengut offizialisierte. So wurde kein Lehrer in den staatlichen Schulen gemaßregelt, wenn er üble antisemitische Propaganda betrieb. (Der Schriftsteller Rachid Mimouni denunzierte noch Anfang der neunziger Jahre, daß der Lehrer seines Sohnes erzählt habe, daß Juden ihr Brot mit dem Blut von Muslimen backen würden.). Höhepunkt dieser Entwicklung war das 1984 erlassene, dem islamischen Recht folgende Familiengesetz, das die Frauen zeitlebens von ihren männlichen Vormündern abhängig macht. Eigentlich hätte es befremdlich wirken müssen, daß sich sozialistische Kräfte wie die Trotzkisten und die FFS sowohl mit ihrer ehemaligen Unterdrückerin, der FLN als auch mit den Islamisten an einen Tisch setzten, um die politische Rehabilitierung der letzteren durchzusetzen. (3)

Die Unterstützer der Guerilla werden zu ihren Opfern

Die Parteien, die die Plattform von Rom unterschrieben hatten, bestritten wie die FIS - oder bezweifelten zumindest - daß die Massaker unter der Zivilbevölkerung von bewaffneten islamistischen Gruppen ausging. Die GIA (Groupe Islamique Armee), die die meisten und die grausamsten Massaker verübte, sollte angeblich von der algerischen Armee unterwandert und manipuliert sein. Außerdem kritisierten Trotzkisten und FFS besonders, daß der Staat in den vielen abgelegenen Dörfern Selbstverteidigungsmilizen erlaubt und bewaffnet hatte: diese trugen angeblich zur Gewalteskalation bei.

Daß die Plattform von Rom in Algerien selbst kaum die Gemüter erregte, obwohl das Land seit Ende der achtziger Jahre zahlreiche freie Presseorgane hat und die Unterzeichner von Rom - außer die verbotene FIS - die Plattform auch bekannt machen konnten, wies darauf hin, daß die betroffene Bevölkerung die eigentlichen Urheber der Gewalt nicht im Staat, sondern bei islamistischen Gruppen wußte und nicht glaubte, daß die FIS diese Gruppen überhaupt kontrollierte. Die terroristischen Gruppen hatten entscheidend an Unterstützung verloren, seit sie 1994 zum Schulstreik aufgerufen und den Terror in die Schulen getragen hatten, weil die meisten Eltern, auch in den sogenannten befreiten Zonen, ihre Kinder weiterhin in die Schule schickten. Befolgt wurde der Streik lediglich in der Kabylei, wo die FFS gleichzeitig (!) zum Schulstreik aufgerufen hatte, wenn auch nicht mit der Ziel der radikaleren Islamisierung des Unterrichts (Schleier für Schülerinnen und Lehrerinnen, Abschaffung des Französisch- und des Musikunterrichts sowie des Sportunterrichts für Mädchen), sondern mit dem Ziel der Durchsetzung des Berberischen als Unterrichtssprache. In den Einflußgebieten der FFS kam es auch nicht zur Bildung von Bürgermilizen. Es waren teilweise Rückzugs- und Ruhegebiete für die Guerilla. Noch entscheidender für deren Prestigeverlust waren Entführungen und Vergewaltigungen von Frauen, die u.a. ebenfalls bereits als Druckmittel gegenüber Familien verwendet wurden, die sich neutral oder abweisend verhielten.(4)

Die bröckelnde Unterstützung durch die Bevölkerung zeigte zwar, daß ein immer größerer Teil der Menschen das Gewaltmonopol des Staates anerkannte und wünschte, daß die Armee die Guerilla nachdrücklich bekämpfte. In diese Richtung wies auch die hohe Wahlbeteiligung Ende 1995, als der zuvor schon vom vom Militär eingesetzte Präsident Liamine Zeroual sein Amt demokratisch legitimieren konnte. Zugleich aber wurde die Zivilbevölkerung in immer stärkerem Ausmaß das Opfer derer, die sie vordem unterstützt hatte. Zehntausende Menschen, insbesondere auf dem Lande, bezahlten die Verweigerung von Nahrung und Geld an die Guerrilla mit dem Leben. Denn die Armee war - insbesondere in abgelegenen Gebieten - keineswegs in der Lage, wirksamen Schutz zu leisten. Viele Massaker geschahen nicht zufällig gerade in der Zeit, in der sich ein Dorf entschloß, die Guerilla nicht mehr zu unterstützen und Selbstverteidigungsmilizen zu bilden. Das setzte Verhandlungen mit der Obrigkeit voraus, die nicht von einem zum anderen Tag geführt und abgeschlossen werden konnten - genug Zeit für Verrat. Die vermuteten Wahlfälschungen zugunsten der künstlich kreierten Regierungspartei RND bei den Kommunalwahlen von 1996 hatten wahrscheinlich den Grund, in möglichst vielen Kommunen regierungstreue Bürgermeister einzusetzen, um einigermaßen die Kontrolle über die Waffen für die Bürgermilizen zu behalten. Nicht nur das westliche Ausland hatte Schwierigkeiten zu begreifen, daß die Massaker an Zivilisten den Versuch der Guerilla darstellten, schwindende Loyalität durch Gewalt zu sichern. Als ich 1998 mit meinem Mann die heiligen Stätten des Islam in Jerusalem besuchte und wir von den dortigen palestinensischen Sicherheitskräften als Reisende aus Algerien identifiziert wurden, drückten sie uns ihr tiefes Mitgefühl aus, daß der algerische Staat Massaker an der Zivilbevölkerung anrichtete, um 'den Islam zu diskreditieren'. Auf diese Auffassung trafen wir überall in den besetzten Gebieten - obwohl die palestinensischen Zeitungen die Massaker der Guerilla und nicht dem Staat zuschrieben. Interessant war jedoch, daß die offensichtlich von der HAMAS gestreute Propaganda kein legitimes Widerstandsrecht der islamistischen Guerilla mehr konstatierte. Das, was in Algerien geschah, konnte und durfte nicht von Muslimen ausgehen. Auf so elegante Weise ist der islamistische Terror in Algerien in wichtigen Teilen der islamischen Welt nicht nur aus der Legitimität, sondern auch aus der Diskussion gebracht worden: Für viele einfache Menschen hat er überhaupt nicht existiert oder bedarf keiner weiteren Reflexion, weil er eben in Wirklichkeit von der Armee ausgegangen sein soll, bzw. manipuliert war.

1994: Ein kleiner Teil der Guerilla will aufgeben

Die im Westen exilierten FIS-Führer befanden sich in dem Dilemma, daß ihre politische Zukunft immer weniger an den Wahlsieg von 1991 geknüpft war, sondern mehr und mehr an die Erwartung, daß sie die Guerilla zum Aufgeben brächten. Nachdem die Initiative von Rom als endgültig gescheitert angesehen werden mußte, distanzierten sie sich deutlicher als zuvor von den Attentaten und Massakern der GIA und erklärten sich nur als verantwortlich für die AIS (Armée Islamique du Salut), deren Kampf so lange als legales Widerstandsrecht zu gelten habe wie die FIS verboten sei. Offenbar hatten selbst die Parteien der Plattform von Rom - der Westen natürlich noch weniger - gewußt, daß die Gründung der AIS 1993 der Versuch der FIS gewesen war, ihrer damals bereits außer Kontrolle geratenen bewaffneten Kämpfer politisch zu disziplinieren. Die AIS blieb jedoch immer die zahlenmäßig schwächere und militärisch weniger effektive Gruppe. Sie ging insgesamt aber keineswegs humaner vor als die GIA. (Mehreren Redaktionen der unabhängigen Presse wurde 1994 ein AIS-Video zugespielt, in dem die Ermordung eines Polizisten und eines Zivilisten gezeigt wurde, während ein - ebenfalls zum Tode verurteilter - Journalist freigelassen wurde, um die Botschaft zu überbringen, daß alle gegen die Islamisten schreibenden Zeitungen bis zu einem bestimmten Datum ihre Redaktionen schließen sollten. Beigefügt waren 22 Todesurteile für Journalisten. ) Noch in einer französischen Publikation von 1997 behaupteten die in Europa exilierten FIS-Führer, daß die erneute Legitimierung ihrer Partei in Algerien die Gewalt beenden könne. Jegliche historische Verantwortung dafür, daß auch die GIA aus der FIS hervorgegangen war, lehnten sie ab. Um ihre fragile Position dem Westen gegenüber halten zu können, gebärdeten sie sich nun auch nachdrücklich als Demokraten. Der von ihnen angestrebte islamische Staat wolle freie Wahlen und Meinungsfreiheit zum Grundprinzip erheben und die weitere Islamisierung der Bevölkerung nur noch durch Überzeugung vorantreiben.

Es ist unklar, ob die angeblich die AIS kontrollierende Auslandsführung der FIS von den geheimen Waffenstillstandsverhandlungen wußte, die Madani Mazrag, der Führer dieser Gruppe, bereits seit 1994 mit der algerischen Armee führte. 1995 begann ein mörderischer Krieg zwischen AIS und GIA. Mitte 1997 gaben die algerischen Medien bekannt, daß die AIS einen einseitigen Waffenstillstand erklärt habe, obwohl die politische Rehabilitierung der FIS nicht erreicht war. Seitdem lebten etwa 1100 AIS-Terroristen in teils von der Armee, teils von Bürgermilizen bewachten Lagern, von wo aus sie auch ihre Familien besuchen durften. Dennoch hörten die Massaker nicht auf. Die GIA verkündete, daß sie bis zum Zusammenbruch des Staates weiterkämpfen werde. Sowohl die Führer der AIS als auch die der FIS im Ausland erhielten Morddrohungen. Aus den späteren Ereignissen läßt sich schließen, daß die Zahl der GIA-Terroristen mindestens zehnmal so groß war wie die der AIS.

Die Bevölkerung wird sowohl vom Terrorismus als auch von der Willkür des Regimes gequält

Das eigentliche Problem des Friedens war also weder die Wiederzulassung der FIS noch die AIS. Er hing und hängt ab von der äußerst inhomogenen, in viele selbständig operierende Gruppen zerfallenden GIA, die - das muß immer wieder hervorgehoben werden - ebenfalls aus der FIS von 1991 hervorgegangen sind. Zugleich muß immer wieder gesagt sein, daß sich hier tatsächlich das Widerstandspotential großer Teile der vom Fortschritt ausgeschlossenen algerischen Bevölkerung eingebunden war. Über viele Jahre hinweg hatte die GIA keine Schwierigkeiten, junge Leute zu rekrutieren und die Familien ihrer Kämpfer zu ernähren. Demokraten und Linke dürfen weder diesen Tatsachen noch der Frage nicht ausweichen, weshalb sich dieser Widerstand nur in so archaischen Formen ausdrücken konnte. (In früheren Artikeln in 'Sozialismus' habe ich versucht, ökonomische und soziologische Elemente einer Erklärung herauszuarbeiten.). Auch kann keinesfalls angenommen werden, daß die algerische Armee den Bürgerkrieg als 'sauberen' Krieg geführt hat. Das war aus verschiedenen Gründen auch kaum möglich. Die Ordnungskräfte waren keineswegs auf die Anforderungen eines Guerilla-Krieges vorbereitet. Die massenweise Ermordung von Polizisten, Militärs und selbst Gefreiten erzeugte Angst und Rachegefühle bei den Ordnungskräften. Um Gefreite nicht in Lebensgefahr zu bringen, hat die Armee tatsächlich zuweilen bei in ihrer unmittelbaren Nähe stattfindenden Massakern nicht eingegriffen. Und bei Zusammenstößen mit Islamisten kam es häufig zu standrechtlichen Erschießungen. Verhafteten wurden Geständnisse durch Folter abgepreßt. Natürlich gab es 'Infiltration', wenn auch nicht in dem phantastischen Ausmaß, das die exilierten FIS-Führer glauben machen wollten. Der bei Köln lebende Rabah Kebir(5) brüstete sich noch 1996 damit, daß natürlich auch die FIS und die AIS die Armee infiltriert hätten und diese möglicherweise bald implodieren werde. Obwohl es insbesondere zu Beginn der neunziger Jahre Übertritte aus den Ordnungskräften zur Guerilla gab, blieb die große Übertrittswelle aus. Wenn die internationalen Menschenrechtsorganisationen (ab Mitte der neunziger Jahre war auch Algeria Watch im Internet zu konsultieren ) bei der einseitigen Erklärung der Krise auch eher Verwirrung und Schaden anrichteten, war es für Algerien doch von großem Nutzen, daß die Menschenrechtsverletzungen der Ordnungskäfte international angeprangert wurden und der Staat die Kritik - bei Strafe seiner weiteren Isolierung - auf Dauer nicht ignorieren konnte. In Algerien selbst prangerten Anwälte, die Presse und etliche Organisationen die Zustände in den Polizeistationen und Gefängnissen an. Nach argentinischem Vorbild formierte sich eine Bewegung von Müttern, die den Staat - auch mit öffentlichen Demonstrationen - zur Auskunft über den Verbleib ihrer verschwundenen Söhne aufforderte.

Zudem offenbarten sich 1998 weitere zutiefst erschreckende Degenerationen des von Präsident Zeroual mühsam zusammengehaltenen 'Systems'. Das frappanteste Beispiel war der Justizskandal um Ali Bansaad, einen für seine antislamistische Einstellung bekannten Universitätslehrer aus Constantine, der in der Öffentlichkeit aber auch auf wirtschaftskriminelle Aktivitäten des Generals Betchine hingewiesen hatte, eines der engsten Beraters des Präsidenten. Nachdem sich Bensaad nicht einschüchtern ließ, aber nach Tunesien (später nach Deutschland) geflohen war, wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt - und zwar wegen Teilnahme an einem islamistischen Massker in einem Dorf. Bensaad und ein Teil der unabhängigen Presse Algeriens konnten in jahrelangen Attacken erreichen, daß das Urteil kassiert wurde und Betchine zurücktrat. Und wahrscheinlich war auch Zerouals Entscheidung, sein Präsidentschaftsmandat nicht zuende zu führen, zum Teil in diesem Justizskandal begründet, der zweifellos nicht der einzige war. Übrigens muß sich Betchine seitdem u.a. wegen seiner Wirtschaftsvergehen vor Gericht verantworten.

Während der Regierungszeit Zerouals wurden mehrere Gnadengesetze für Terroristen erlassen, die sich ergeben wollten. Von dieser Möglichkeit machten zwar nicht wenige Gebrauch, aber das bedeutete offenbar dennoch keine entscheidernde Schwächung der Guerilla. Die Abgänge waren leicht ersetzbar. Aus den 1999 erschienen 'Bekenntnissen eines Emirs der GIA' geht hervor, daß die Entscheidung , sich zu ergeben vor allem deshalb so schwer war, weil man dann in Gefahr stand, von Rachekommandos eliminiert zu werden. So war es sicher auch kontreaproduktiv, daß sich solche junge Männer auch oft verpflichten mußten, im Fernsehen über ihre Zeit bei der Guerilla zu sprechen. Aus den 'Bekenntnissen' geht hervor, daß der Staat auch damals schon auf Bestrafung schwerer Bluttaten verzichtete, wenn z. B. ein Emir zur Zusammanarbeit bereit war. In diesem Falle wurde dem Mann sogar die Flucht nach Frankreich ermöglicht.(6) Das angesichts der algerischen Tragödie fassungslose Ausland bot in verschiedener Form 'Unterstützung' an, insbesondere Untersuchungskommissionen, die sowohl die Frage, von wem die Gewalt ausging als auch die Menschenrechtsverbrechen des Staates untersuchen sollte. Da sich im Grunde nur die Parteien der Plattform von Rom für diese Art der Unterstützung engagierten, blieben diese Bemühungen so gut wie wirkungslos.

Wichtiger für die allmählich einsetzende Degenerierung der Guerilla - was indes ihre Gefährlichkeit, insbesondere in abgelegenen Gebieten, keinesfalls minderte - waren die seit Mitte der neunziger Jahre offenbar nachlassende Unterstützung an Geld und Waffen aus dem Ausland. Präsident Clinton versuchte, islamistische Konten weltweit zu sperren. Anouar Haddam, der Vertreter der FIS in Rom, wurde in den Vereinigten Staaten wegen Verwicklung in terroristische Aktivitäten verurteilt. Nachdem Frankreich 1995 und 1996 Opfer von schweren Attentaten und einer Flugzeugentführung geworden war, arbeitete auch die Europäische Union hinsichtlich der Unterbindung von Waffentransporten mit der algerischen Regierung zusammen. Die 1988 verübten, dem in Afghanistan lebenden Saudi Ben Laden angelasteten Anschläge auf amerikanische Botschaften stärkten auch im Westen die Erkenntnis, daß ein Teil der Islamisten ihre eigentlich nur für die ungebildete Anhängerschaft konstruierte antiwestliche Ideologie ernst nimmt und in Taten umsetzt. Der Zeitfaktor wirkte ebenfalls positiv für die nichtislamistischen Kräfte in Algerien. Der Eindruck, den der Wahlsieg der FIS 1991 im Ausland gemacht hatte, begann zu verblassen hinter der nicht mehr zu leugnenden Tatsache, daß sich auch große Teile der Bevölkerung gegen deren Herrschaft sträubten. Die vielen Flüchtlinge aus dem demokratischen Lager, die Frankreich aufnehmen mußte, zeigten, daß ein islamischer Staat vor den Toren Europas mehr Probleme geschaffen als gelöst hätte.

Außer der Lebensangst durchlitten die Algerier in diesen Jahren aber auch eine entsetzliche Degenerierung ihres politischen Systems, das im Schatten des Antiguerilla-Kampfes immer tiefer in politische Immoblilität und Korruption verfiel. Einzige Lichtblicke: Trotz der vielen Manipulationen blieb eine relativ große politische Pluralität des Mehrparteiensystem erhalten (So konnte es sich Mahfoud Nahnah, der Führer der MSP ((Bewegung für sozialen Frieden)), der zweiten legalen islamistischen Partei, leisten, offizielle Auszeichnungen für die algerischen Afghanistan-Kämpfer zu verlangen.)) und vor allem die freie Presse. Sie ging jedes Jahr erfolgreicher aus den zahlreichen Unterdrückungsversuchen des Regimes hervor. Da der militärische Kampf gegen die Guerilla keine entscheidenden Erfolge brachte, müssen die Regierenden geahnt haben, daß der Staat ohne die Zulassung dieser zivilgesellschaftlichen Strukturen doch zusammengebrochen wäre.

1999 Überraschende Wende durch den neuen Präsidenten Bouteflika

Die durch das nie ganz erklärte vorzeitige Ausscheiden Zerouals vorgezogenen Präsidentschaftswahlen offenbarten die peinliche Situation, daß es praktisch nur Kandidaten gab, die entweder gescheiterte Regierungschefs der vergangenen zehn Jahre waren oder gar dem politischen Personal aus den Zeiten des Einparteiensystems entstammten. Allein der Führer der FFS, Ait Ahmed, auch ehemals im Führungsstab der Befreiungsfront, besaß eine widerständige Biographie.(Wenige Jahre nach der Unabhängigkeit war nach einem gescheiterten Berberaufstand in der Kabylei zum Tode verurteilt worden, konnte aber in die Schweiz fliehen, von wo aus er die verbotene FFS im Untergrund führte.) Said Sadi, Aktivist des 'Berberfrühlings' von 1980, jetzt Führer der RCD, der anderen, im Unterschied zur FFS aber strikt gegen die Islamisten ausgerichteten Berberpartei, kandidierte nicht. Wie die Exkommunisten protestierte die RCD dagegen, daß die damalige Regierungskoalition (bestehend aus RND, FLN - deren Mehrheit der Plattform von Rom wieder abgeschworen hatte - und Nahnahs MSP) und das Staatsfernsehen offen die Kandidatur Abdelaziz Bouteflikas unterstützten, des ehemaligen Außenministers und zweiten Mannes im Regime Boumedienes. Nach dessen Tod 1978 hatte man Bouteflika, der Algerien auf dem internationalen Parkett zum Sprecher der nichtpaktgebundenen Länder gemacht hatte, zunächst als seinen natürlichen Nachfolger empfunden. In innenpolitischen Fragen galt er nicht als 'Sozialist', sondern eher als der Marktwirtschaft zuneigender 'Modernist' und strikter Antipode jeglicher Reislamisierung. (Statt seiner gelangte 1979 Chadli Benjedid an die Macht, ein ehemaliger Colonel, der den sozialistischen Kurs stoppte, bei der Einführung der Marktwirtschaft aber keineswegs erfolgreich war. Zudem öffnete er sich mehr und mehr den islamistischen Forderungen, jedenfalls soweit sie im privatrechtlichen, bzw. symbolischen Bereich lagen. Nach dem Wahlsieg der FIS erklärte er sich zur Kohabitation bereit.)

Der Wahlkampf, in dem alle Kandidaten versprachen, einen baldigen Frieden herbeizuführen, war geprägt von einem gleichzeitig stattfindenden anderen Konflikt. Schon lange war erkannt, daß die schlechte soziale Lage der Familien und der Hinterbliebenen der islamistischen Kämpfer ein wesentliches Hindernis der Befriedung geworden war. Es schien, daß viele Kämpfer nur deshalb weiter an Massakern und Straßenraub teilnahmen, um ihre Familien zu ernähren. Deshalb haderte das Parlament monatelang gleichermaßen um die Höhe staatlicher Entschädigungen für die Opfer der Terroristen wie auch um soziale Unterstützung für die Famlien der Terroristen. Nur knapp wurde die Entscheidung abgewendet, für alle eine gleiche Unterstützung zu zahlen - was besonders für die Hinterbliebenen der bewußt für Demokratisierung eintretenden Opfer unakzeptabel schien. Andererseits machten dieses Diskussionen klar, daß in vielen Fällen die Grenze zwischen "Täterfamilien" und "Opferfamilien" schwer zu ziehen ist, insbesondere im Falle von Dörfern, die die Guerilla unterstützt hatten und nach Entzug dieser Unterstützung angegriffen worden waren.

Nachdem Bouteflika einen ziemlich autoritären, aber programmatisch nicht sehr profilierten Wahlkampf geführt hatte, zogen sich die übrigen Kandidaten einen Tag vor der Wahl zurück, weil nun auch ihnen das Wahlergebnis von vornherein manipuliert erschien. Bouteflika verkündete seinerseits, daß er die Wahl nur annehmen werde, wenn eine komfortable Mehrheit zustandekäme. Dies wurde arrangiert: bei 60% Wahlbeteiligung erreichte er 74 % Ja-Stimmen.

Das Land vergaß die unwürdige Farce der Wahl rasch, denn der neue Präsident überraschte sofort mit Haltungen, die ihm weder seine Gegner noch seine Unterstützer zugetraut hätten. Die Regierungskoalition sah sich auf das Schlimmste düpiert, weil er ein von ihnen erst 1999 erlassenes Gesetz über die endgültige Arabisierung brach und seine Äußerungen, Kommuniqués und Reden - je nach Publikum - auch mal in französischer Sprache hielt. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er auch jenen offiziellen Islamismus bekämpfen wolle, der Schulen und Universitäten des Landes seit 25 Jahren niedergewirtschaftet hat. Auch kündigte er eine Revision des Familienrechts an. Weitgehende Kritik übte er am Justizwesen, um einen entscheidenden Fortschritt bei der Installierung des Rechtsstaats einzuleiten. Obwohl er die Forderung der Radikaldemokraten, einen laizistischen Staat zu errichten, nicht erfüllen wollte, hat doch keine bisherige Regierung so konkret den Weg des Laizismus beschritten. Für ein ähnliches Programm war Präsident Boudiaf, ehe er aktiv werden konnte, 1992 ermordet worden. Bis heute ist ungeklärt, ob dahinter die Islamisten der 'Waffen' oder die des 'Staates' steckten. Daß er seinen Worten Taten folgen ließ, bewies Bouteflika u.a. dadurch, als er zur allgemeinen Verblüffung 20 Walis (Provinzgouverneure) wegen Unfähigkeit aus dem Staatsdienst entließ und ähnliche Strenge für alle Verwaltungsstrukturen ankündigte. Da sich die herrschende 'politisch-militärische Mafia' Gesetze geschaffen habe, die ihre eigene illgeale Bereicherung sanktioniert, hielt er auch eine neue Verfassung für nötig. Besonders, weil er es als erster Staatsmann Algeriens überhaupt wagte, den 'Staatsislamismus' anzugreifen, versicherte er sich für sein wichtigste Projekt, den Frieden, der Unterstützung auch jener demokratischen Parteien und Gruppen, die ihn als Präsidentschaftskandidaten so entschieden bekämpft hatten, weil sie seit jeher selbst Opfer sowohl des Staatsislamismus wie auch der Guerilla geworden waren.

Die 'Concorde Civile'

Im Juni 1999 wurde ein Brief Madani Mezrags, des Führers der AIS, veröffentlicht, in dem er die Aushandlung eines annehmbaren Friedens für die AIS anbot - der seiner Überzeugung nach einen Frieden auch mit der GIA nach sich ziehen würde. Kernpunkte waren: weitgehende Amnestie sowie die Berücksichtigung der sozialen Belange der Heimkehrer und ihrer Familien. Der Präsident antwortete sofort, daß er einen entsprechenden Gesetzesentwurf ausarbeiten lassen wolle.

Die demokratischen Kräfte einschließlich der wichtigsten Organe der unabhängigen Presse wiesen schärfstens darauf hin, daß sie ein solches Gesetz nur dann hinnähmen, wenn es keine politische Rehabilitierung der Guerilla oder der FIS beinhalten würde. Weil er nicht nur diese Bedingung erfüllte, sondern durch seine Maßnahmen und Haltungen glaubwürdig gemacht hatte, daß er auch den Staatsislamismus und die Korruption bekämpfte, erlangte Bouteflika die Unterstützung seiner ehemaligen Gegner für die am 16. September anberaumte Volksabstimmung über die 'Concorde Civile'. Das Gesetz sah praktisch eine Amnestie für einfache Kämpfer vor, für Gewalttäter bedeutende Strafnachlässe. Auch für sie sollte es keine Todesurteile oder lebenslängliche Gefängnisstrafen geben, wenn sie sich bis zum 13. Januar 2000 ergeben würden.

Dem Referendum ging ein wochenlanger Reisemarathon des Präsidenten voraus. Im ganzen Lande wurden Massenveranstaltungen abgehalten. Hier kam vor allem örtliche Bevölkerung zu Wort, die aus unterschiedlichsten Blickwinkeln ihre oft trostlose Lage im letzten Jahrzehnt beschrieb. Die von den Medien übertragenen Meetings erlangten Glaubwürdigkeit, weil Bouteflika Rednerlisten auch mal annulieren und vom Publikum selbst neu bestimmen ließ, wenn dieses protestierte. Seine wichtigste Botschaft war, daß er als Präsident aller Algerier die sozialen Belange sowohl der Terroropfer als auch der Familien der sich ergebenden Terroristen achten wollte. Natürlich machte er keinen Hehl daraus, daß die Renten für beide Gruppen nur klein ausfallen könnten. Überhaupt müßten sich die Algerier endlich mit dem Gedanken abfinden, daß der von Boumediene einst versprochene Wohlfahrtsstaat nicht zu realisieren sei.

Die Ergebnisse des Referendums vom 16.Septmeber 1999: bei 85% Wahlbeteiligung 98,6% Zustimmung, wurden von keiner Opposition mehr angezweifelt. Sofort nach dem Referendum wurden die Gefangenen freigelassen. Und am Tag nach dem Ablaufen der Frist für die Begnadigungen wurden die Kämpfer der AIS amnestiert. Zugleich löste sich diese Organisation selbst auf. Zwischen September und Januar sollen sich 6000 Kämpfer ergeben haben. Unklar ist, ob es sich hier nur um GIA-Leute handelte oder ob darin auch die bereits im Waffenstillstand stehenden Männer der AIS enthalten sind.

Obwohl dieser Gnadenakt zweifellos als Erfolg zu werten ist, hatte sich das Volk durch das Referendum zweifellos den Einzug des Friedens versprochen. Aber weder die Massaker noch individuelle Attentate hörten endgültig auf. Im November wurde Abdelkader Hachani ermordert, der eher gemäßigte junge FIS- Führer, der die Partei 1991 in die Wahlen geführt hatte, weil ihre charismatischen Führer Abassi Madani und Ali Belhadj bereits inhaftiert waren (beide gehörten zu den erklärten Gegnern von Wahlen und Demokratie). Hachani war zweifellos auch ein wichtiger Unterhändler in Fragen der Concorde Civile gewesen, wenngleich er das Ziel der politischen Rehabilitierung nicht aufgegeben hatte.

Obwohl die wirkliche Sicherheit der Bürger - insbesondere außerhalb der Städte, d.h. auch auf den Verbindungsstraßen - also keineswegs gewährleistet ist, hat Algerien deutlich einen neuen Abschnitt seiner Geschichte begonnen. Politisch scheint der Islamismus besiegt: er ist auf einen Banditismus reduziert. Als nicht unwichtig stellt sich heraus, daß das Land zwar nicht die Lösung, aber doch die Milderung seiner Krise selbständig erreicht hat. Wie im Nachhinein besser zu sehen ist, waren alle Ansatzpunkte für die Einmischung internationaler Kräfte tatsächlich verfehlt. Eine 'dialektische' Ausnahme stellen die internationalen Menschenrechtsorganisationen dar: so falsch ihre politischen Haltungen und Schlußfolgerungen waren, so nachdrücklich hat der eigentliche Kern ihres Engagements die Krise positiv beeinflußt. Der durch das Referendum bestätigte Grundgedanke, den Frieden herzustellen durch Verzicht auf Rache und soziale Maßnahmen - so gering sie auch nur ausfallen können - stellt einen enormen zivilisatorischen Fortschritt dar.

Nach der Leerung der Gefängnisse und der weitgehenden Amnestierung kann jetzt keine Menschenrechtsorganisation mehr behaupten, der algerische Staat hätte nicht das Seine zur Versöhnung getan. Bouteflika hat auf etlichen Auslandsreisen bereits die Früchte seiner Politik einfahren können, wenn es sich auch nur um die innerhalb der heutigen 'Weltwirtschaftsordung' möglichen handelt. Er konnte wieder massenweis Investoren in das Land locken. In seinen Reden vor ausländischen Wirtschaftsgremien kommt der alte Fuchs des Dritten Weges der nichtpaktgebundenen Länder aus ihm hervor. Er scheut sich nicht zu sagen, daß Algerien in seinen Handelsbeziehungen mit dem Westen in der Vergangenheit oft betrogen wurde und jedes Angebot gründlich prüfen müsse. Die 'Staatsislamisten' düpierte er mit einem Besuch beim Papst nicht weniger als mit dem Handschlag, den er während der Begräbnisfeierlichkeiten des marokkanischen Königs mit dem israelischen Premier tauschte. Dem sprachlosen Barak schlug er imTon patriarchalischer Bonhomie algerische Vermittlungstätigkeit im Konflikt mit den Palestinensern vor. Erstmals seit der Unabhängigkeit wurden auch die 1962 mit den Algerienfranzosen geflohenen jüdischen Familien ermutigt, ihre Heimatorte zu besuchen.

Nicht nur mit solchen, nur symbolischen, aber nichtsdestotrotz für Algerien hochwichtigen Gesten, sondern auch damit, daß er die Hauptstadt erneut zum Zentrum internationaler Konsultationen arabischer und afrikanischer Länder machte, knüpfte er an sein Prestige als Wortführer der nichtpaktgebundenen Länder aus den siebziger Jahren an. Bereits im vergangenen Jahr wurde er zum Präsidenten der Organisation für afrikanische Einheit gewählt. Es scheint nicht ausgeschlossen, daß er auch dieser Organisation wieder mehr Souveränität und Mut verschafft, die sie zur Lösung regionaler und nationaler Konflikte dringend benötigt. Ende 1999 gelang es Bouteflika, eine neue Regierung zu bilden. Bis auf die FFS sind alle politisch relevanten Parteien darin vertreten, auch die, die seine Kandidatur im April noch befehdet hatten.

Fußnoten:

(1) In deutsch liegt vor: Khalida Messaoudi: Worte sind meine einzige Waffe. Eine Algerierin im Fadenkreuz der Fundamentalisten, München 1995. Für die republikanische Zielrichtung der Messaoudi ist es auch bezeichnend, daß sie sich von einer französischen Journalistin interviewen ließ, die jüdisch-algerischen Ursprungs ist.

(2) Die Führerin der Arbeiterpartei ist Louisa Hanoune, die ehemals mit Messaoudi zusammen in der Frauenbewegung kämpfte. Durch die gegensätzliche Bewertung der Islamisten stehen sie z. Z. auch in entgegengesetzten politischen Lagern. Siehe: Louisa Hanoune: Terroristen fallen nicht vom Himmel. Zur aktuellen Situation in Algerien, Zürich 1997

(3) Eine deutsche Publikation, die die politische Linie von Rom auch vertritt ist: Werner Ruf: Die algerische Tragödie. Vom Zerbrechen des Staates einer zerrissenen Gesellschaft, Münster 1997

(4) Über die Lage der Frauen während des Terrors siehe: Bettina Rühl: Wir haben nur die Wahl zwischen Wahnsinn oder Widerstand. Frauen in Algerien, Bad Honnef, 1997

(5) Die Positionen der Auslandsführung der FIS von 1996 (die der Plattform von Rom entsprungen waren) wurden in Interviews fixiert von Patrick Denaud: Algérie. Le FIS: Sa direction parle..., Paris 1997

(6) Der illegal in Frankreich lebende Emir wurde interviewt von Patrick Forestier: Confession d' un émir du GIA, Paris 1999.


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