In den Großstädten werden sich die Deutschen integrieren müssen

Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg warnt vor Hoffnungen auf
eine Lösung der Wirtschaftsprobleme durch verstärkte Zuwanderung

(DIE WELT online, 02.01.2002)

Berlin - Die Hoffnungen, verstärkte Einwanderung werde angesichts des Bevölkerungsrückgangs die Wirtschafts- und Arbeitsmarktprobleme lösen, könnten sich als trügerisch erweisen, sagt Professor Herwig Birg, Bevölkerungswissenschaftler an der Universität Bielefeld und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Birg wird vom Bundestagsinnenausschuss diesen Monat als Sachverständiger zum Zuwanderungsgesetz angehört. Mit ihm sprach Alexander von Gersdorff.

DIE WELT: Die Bevölkerung in Deutschland schrumpft den Prognosen zufolge von derzeit 82 auf 68 Millionen im Jahr 2050. Können Einwanderer die Lücke am Arbeitsmarkt zumindest teilweise schließen?

Herwig Birg: So einfach wird das nicht funktionieren, denn Einwanderung hat in erster Linie gesellschaftspolitische Wirkungen. Ein Betrieb beispielsweise kann in einer Krise seine wirtschaftlichen Probleme lindern, indem er einen zunächst eingestellten Einwanderer wieder entlässt. Aber für die Gesellschaft beginnen die Probleme dann erst. Am Ende sind alle unzufrieden, die Einheimischen und die Zugewanderten. Seriöse Studien zeigen, dass Zuwanderer den Staat schon jetzt mehr kosten, als sie unseren Sozialsystemen an Einnahmen bringen. Diese selbstverständlichen Überlegungen hatte sogar die Süssmuth-Kommission übergangen.

DIE WELT: In den Zuwanderungskonzepten von Regierung und Union ist aber viel von verstärkten Integrations- und Qualifizierungsanstrengungen die Rede. Lassen sich gesellschaftliche Konflikte so früh lösen?

Birg: Die Botschaft höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Wir denken immer, wenn wir von Integration sprechen, an eine "deutsche" Mehrheitsgesellschaft, in die eine Minderheit zu integrieren ist. Es kommt aber genau umgekehrt. In den Großstädten kippt bei den unter 40-Jährigen schon ab 2010 das Mehrheitsverhältnis Deutscher zu Zugewanderten. Integration bedeutet dann: Wie integriere ich mich als Deutscher in eine neue Mehrheitsgesellschaft aus Zugewanderten? Davon steht kein Wort in den Zuwanderungspapieren.

DIE WELT: Haben wir bei der Integration bisher versagt?

Birg: Keineswegs. Bei objektiven Kriterien wie Schulzugang oder Integration im Betrieb schneiden wir hervorragend ab. Auch die Kriminalitätsrate ist gegenüber anderen Ländern eher kleiner. [Dies ist eine verharmlosende Umschreibung des Satzes: "In anderen Ländern ist die Kriminalitätsrate unter den Immigranten noch höher", Anm. Dikigoros.] Allerdings ist das Bildungsverhalten der Zugewanderten radikal anders. Selbst von den hier geborenen Zuwandererkindern verlassen 40 Prozent die Schule nur mit Hauptschul- oder ganz ohne Abschluss. Unsere Mittel, da einzuschreiten, sind begrenzt. Ich frage mich daher, wie man glauben kann, dass Zuwanderung wirtschaftliche Erfolge garantiert.

DIE WELT: Warum soll es nicht klappen, Zuwanderer in unser Bildungssystem zu integrieren?

Birg: Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Schulausbildung ist ein entsprechendes Elternhaus. Und das unterscheidet sich bei den meisten Zugewanderten deutlich von dem, was wir gewohnt sind: Bildung ist für Jungen schon wenig und für Mädchen oftmals gar nichts wert. Tugenden wie Leistungsstreben oder die lange verpönte Pflichterfüllung, notwendig zur Aufrechterhaltung eines funktionierenden Gemeinwesens, gelten oft auch nicht viel. Diese kulturellen Unterschiede können wir nicht in wenigen Jahrzehnten durch Politik beseitigen.

DIE WELT: Kann den Zuwanderern nicht wie in den USA ein Niedriglohnsektor weiterhelfen?

Birg: Wenn ein Land nichts weiter ist als eine ökonomische Betriebseinheit, reicht es natürlich, die Mehrheit an Maschinen zu setzen oder einfache Dienstleistungen verrichten zu lassen. Aber Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern soll allen ein möglichst sinnvolles Leben ermöglichen. Unzufriedenheit ist nie ein guter Standortfaktor. Denken Sie an die Kriminalitätsraten in den USA.

DIE WELT: Was wäre, wenn vor allem gebildete und hoch motivierte Menschen beispielsweise aus Asien zu uns kämen?

Birg: Asien hat zwar große Menschenzahlen, aber keineswegs große Zahlen an gut ausgebildeten Fachkräften. Indien verfügt im Vergleich zu Deutschland nicht über mehr Internet-Anschlüsse oder IT-Spezialisten. Das Szenario sieht wahrscheinlich ganz anders aus: Statt großer Einwanderungswellen wird es eher eine "Festung Europa" geben. Der Begriff wird einen positiven Sinn bekommen, weil er denen einen gewissen Wohlstand sichert, die hier leben und die hierherkommen.

DIE WELT: Wir schließen also Millionen von Menschen von unserem Wohlstand aus?

Birg: Es ist gar nicht anders möglich, denn Wohlstand ist nicht beliebig in der Welt aufteilbar. Dann nämlich hätte nicht jeder mehr, sondern niemand mehr etwas, weil die Gewichte zu unterschiedlich sind: Deutschland hat bis 2035 einen Sterbeüberschuss von 16 Millionen Menschen, Indien hat jedes Jahr einen Geburtenüberschuss von ebenfalls 16 Millionen Menschen, Ende des Jahrhunderts wird es 1,8 Milliarden Inder geben. Da gibt es nicht viel zu teilen mit dann noch etwa 50 Millionen Deutschen.

DIE WELT: Kommt es vielleicht umgekehrt zu großen Auswanderungswellen, wenn sich viele Deutsche im eigenen Land nicht mehr wohl fühlen?

Birg: Nimmt man Lebensstandard, Infrastruktur, Natur, Kultur, das gesunde Klima, so ist Deutschland im Weltvergleich ein Eldorado. Die objektiven Maßstäbe der Lebensqualität sind hier besser als in allen vergleichbaren Ländern.

DIE WELT: Hat Deutschland eine Wachstumsperiode hinter sich, die nie mehr wiederkommen wird?

Birg: Sagen wir mal, die Bundesrepublik hat 50 relativ glückliche Jahre hinter sich und die nächsten, kommenden 50 Jahre werden bestenfalls so gut wie die vergangenen, wahrscheinlich aber nicht.

DIE WELT: Stehen wir als schrumpfendes Volk vor dem allmählichen ökonomischen Zusammenbruch?

Birg: Das nicht, aber vor langfristiger Stagnation. Wir haben uns daran gewöhnt, dass das Pro-Kopf-Einkommen jährlich um bis zu 3% wächst. Das gilt in Zukunft nicht mehr, wenn das Erwerbspersonenpotenzial, also die Zahl der 20- bis 60-Jährigen, in den nächsten Jahrzehnten um 16 Millionen Menschen schrumpft, trotz Zuwanderung. Verbleibendes Wachstum geht künftig nicht in mehr Konsum, sondern in die sozialen Sicherungssysteme, voran Gesundheit und Rente.

DIE WELT: Gibt es "Gewinnerländer", die besser abschneiden als wir?

Birg: Die USA, Frankreich und England sind auf den ersten Blick besser dran, weil die Geburtenrate höher ist und die Alterung dadurch schwächer ausfällt. Nur gehen diese höheren Geburtenraten vor allem zurück auf die eingewanderte Bevölkerung, die auch dort andere Wertvorstellungen mitbringt. Ich hoffe, dass Deutschland auf Grund seines trotz aller berechtigten Kritik nach wie vor intakten Bildungssystems gut abschneidet.

DIE WELT: Wie soll der Einzelne auf die Veränderungen reagieren?

Birg: Für das Alter sparen und seine Kinder optimal ausbilden. Feste Berufe haben ja eine immer kürzere Lebenszeit. Entscheidend sind Schlüsselqualifikationen: Mathematik, klassische Naturwissenschaften, also die so genannten schweren Fächer.


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