BOSNIEN: KRIEG DER ILLUSIONEN

Vom liebsten "Volk" der europäischen Intellektuellen

von Heinz Willemsen (BAHAMAS 18/1995)

Mit der erfolgreichen Eroberung der Krajina durch die kroatische Armee im August 1995 haben sich die Kräfteverhältnisse im ex-jugoslawischen Raum entscheidend verändert. Nach den militärischen Erfolgen fordert das kroatische Regime jetzt das Recht ein, als zumindest gleichwertige Ordnungsmacht neben dem geschwächten Serbien im ehemaligen Jugoslawien anerkannt zu werden. Die deutsche Außenpolitik kann damit nach vier Jahren Krieg einen weiteren Erfolg vorweisen: die Herstellung eines sog. "strategischen Gleichgewichts gegenüber Serbien", was in den Chefetagen von FAZ und WELT wie auch in Bonn immer auch als der Aufstieg Deutschlands in der imperialistischen Hierarchie gegenüber England und Frankreich angesehen wird.

Dagegen müssen die Interventionsbefürworter feststellen, daß die seit vier Jahren herbeigeschriebene Intervention der NATO nicht das hält, was sich die "taz" u.a. davon versprochen haben, nämlich die Errichtung eines bosnischen Staates in den Grenzen der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik. Dabei hat die Inszenierung von Bosnien als weltweites Modell einer multikulturellen Zivilgesellschaft in den letzten drei Jahren eine bedeutende Rolle in der Mobilisierung gegen die serbische Seite gespielt. Es war nicht zuletzt die Behauptung, daß der bosnische Staat, im krassen Unterschied zu den anderen jugoslawischen Nachfolgestaaten, nicht durch eine nationalistische Ideologie legitimiert wird, sondern ganz im Gegenteil der Garant für ein multinationales Zusammenleben sei, welche der Izetbegovic-Regierung die Unterstützung fast der gesamten europäischen Intellektuellen eingebracht hat. Darunter befand sich auch die Mehrheit derjenigen, die zuvor noch die deutsche Anerkennungspolitik gegenüber Slowenien und Kroatien kritisiert hatten, wie etwa Simon Wiesenthal oder der englische marxistische Historiker Eric Hobsbawm. Im folgenden soll gezeigt werden :

– daß Bosnien keine andere Entwicklung eingeschlagen hat als Kroatien und Serbien. Die bosnische Gesellschaft ist in den 1980er und 1990er Jahren von den gleichen politischen, ökonomischen und nationalistischen Konflikten geprägt wie die übrigen Republiken Jugoslawiens auch.

– daß die Regierung Izetbegovic nicht für multinationales Zusammenleben steht. Die Ideologie des "Bosnianismus" bzw. das "Bosniakentum" wird nur von einem verschwindend kleinen Sektor der Gesellschaft geteilt und nimmt auf die offizielle Politik der Izetbegovic-Regierung nicht mehr Einfluß als vergleichbare Strömungen in Serbien und Kroatien auch.

– daß der "Bosnianismus" keine Alternative zum serbischen und kroatischen Nationalismus darstellt, sondern selbst eine extrem nationalistische Ideologie ist.

Bosnische Zivilgesellschaft versus rückständige orthodoxe Bauernmassen?

Wer sich allein durch die Lektüre der "taz", bei Freimut Duve oder Stefan Schwarz informieren würde, könnte kaum auf den Gedanken kommen, daß Bosnien-Herzegowina bis 1992 Teil Jugoslawiens gewesen ist. Für den "taz"-Redakteur Erich Rathfelder stellt Bosnien so etwas wie eine Insel der Seligen im Meer der nationalistischen Irren Jugoslawiens dar. Während im serbischen Nationalismus die Ursache für die Kriege in Jugoslawien ausgemacht wird, die Kroaten seit dem offenen Ausbruch des muslimisch-kroatischen Konfliktes zur Jahreswende 1992/93 zumindest als "Halbfaschisten" gelten, erscheint Bosnien-Herzegowina als eine Republik, die gegenüber dem nationalistischen Trend weitestgehend resistent ist. "Hier an der Schnittstelle von Islam (Muslimanen), Katholizismus (Kroaten) und orthodoxem Christentum (Serben), war etwas entstanden, das in unserer Zeit mit dem Begriff ‚multikulturelle Gesellschaft‘ nur unzureichend beschrieben wird." Begründet wird die angeblich nicht-nationalistische Orientierung der Bewohner Bosniens mit der hohen Zahl national gemischter Ehen und einer spezifischen Kultur Bosniens, die sich ungeachtet aller fundamentalen Einschnitte, wie der Islamisierung seit dem 15. Jahrhundert und der Industrialisierung nach 1945, vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart gehalten habe. "Nicht nur der Umstand dieser ‚Mischung‘, die ja von den meisten gar nicht als solche empfunden wird, begründet den bosnischen Geist der Toleranz. Er ist auch in der Geschichte aufzufinden. Er hat also Tradition. Und daß diese Tradition durch den Krieg und die Verbrechen einer harten Prüfung unterzogen werden, bedeutet nicht, daß sie verschwunden wäre. Dazu sind die Zeugnisse dieser Kultur auch im Krieg zu präsent, erfahrbar in Nachbarschaftshilfe und gemeinsamen Kampf gegen den barbarischen Aggressor." Bosnien bekommt in der Darstellung Rathfelders mehr die Züge einer Volksgemeinschaft als die einer realen Gesellschaft mit ihren politischen und Klassenkonflikten. Nun weiß auch der "taz"-Redakteur, daß der Aufstieg des Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert keinen Bogen um Bosnien gemacht hat. Aber dieser Nationalismus ist kein Produkt der gesellschaftlichen Konflikte innerhalb Bosnien-Herzegowinas, sondern bedroht die Republik von außen, von Kroatien und Serbien kommend. Festgemacht wird dies immer wieder daran, daß Karadzic, weil in Montenegro geboren, eben nicht vom spezifischen Geist der bosnischen Toleranz angesteckt werden konnte. Aus den Gesprächen zwischen Tudjman und Miloševic im Juli und November 1991, bei denen es um ein Abstecken der serbischen und kroatischen Ziele bzw. um eine Aufteilung Bosniens ging, wird gefolgert, daß die muslimische Seite, weil sie für ein einheitliches Bosnien eintritt, eine nicht-nationalistische Politik betreibt. "So fallen die Äußerungen muslimanischer Politiker angenehm aus diesem Rahmen." (1)

Wo die sozialen und ökonomischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in die Beurteilung des Konfliktes mit einfließen, da dienen sie fast ausschließlich dazu, den einzelnen ethnischen Gruppe bestimmte soziale Eigenschaften zuzuschreiben. (2) Die Muslime gelten dabei als Verkörperung einer fortgeschrittenen städtischen Zivilisation. Im deutschen Fernsehen werden die Bewohner Sarajevos denn auch so dargestellt, als brauchten sie den wöchentlichen Theater- oder Konzertbesuch mindestens genauso dringend zum Überleben, wie die Nahrungsmittelrationen der UNO. (3) Die Serben, aber auch ein Teil der Kroaten gelten dagegen als zivilisatorisch zurückgebliebene Landbewohner, die besonders für den Nationalismus anfällig sind. "Für viele Bewohner Sarajewos, Zenicas, Tuzlas ist es ein Krieg der traditionell militanten und bornierten (serbischen) Bergbauern gegen die Lebensweise und den Reichtum ihrer Städte." (4)

Das Propagandabild vom spezifisch bosnischen Geist der Toleranz basiert im wesentlichen auf Leuten wie Smail Balic und Muhammed Filipovic. Balic ist Fachreferent für orientalische Sprachen an der österreichischen Nationalbibliothek in Wien und Herausgeber der Zeitschrift "Islam und der Westen". Filipovic war früher Professor an der Uni in Sarajevo. 1967 wurde er unter dem Vorwurf des Nationalismus aus dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) ausgeschlossen. Heute ist Filipovic Mitglied der halboppositionellen "Liberalen Bosniakischen Organisation" und Botschafter Bosniens in der Schweiz. Filipovic u.a. hatten im Zuge der Debatte um die Anerkennung der Muslime als Nation in Jugoslawien in den 1960er Jahren gefordert, daß in Bosnien der Nationalitätenproporz zwischen Muslimen, Kroaten und Serben abgeschafft werden sollte. Stattdessen sollte Bosnien wie die anderen Republiken auch eine Republik mit einem Staatsvolk sein, den sog. Bosniaken. Diese Bosniaken-Option konnte sich damals nicht durchsetzen, weil die Kommunisten nicht zu Unrecht befürchtet haben, daß dies die nationalen Konflikte in der Republik gefährlich angeheizt hätte, weil die wenigsten Kroaten und Serben zu einem solchen Nationswechsel bereit waren. Im Zuge des Systemwechsels seit 1988 wurde diese Forderung wieder aktuell. "Die Wiedergewinnung ihres Status als genuines Staatsvolk ist für die bosnischen Muslime unumgänglich. Bei der weiteren nationalen Bewußtseinsbildung kann es sich nur noch um eine Hinsteuerung auf das Bosniakentum handeln." (5)

Die von den Befürwortern der bosnischen Option aufgestellte Behauptung, der Einsatz für die Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina bedeute einen Widerstand gegen das nationalstaatliche Prinzip, ist reine Augenwischerei. Die Auflösung Jugoslawiens hat ja nicht umsonst unter der Parole des "nationalen Selbstbestimmungsrechts" stattgefunden. Einer solchen Dynamik könnte sich eine bosnische Regierung auch dann nur schwer entziehen, wenn sie nicht von einem überzeugten Anhänger der Islamisierung der Gesellschaft wie Izetbegovic geführt würde.

Bosnien im titoistischen Jugoslawien

Bosnien war im Zweiten Weltkrieg der wichtigste Schauplatz des Kampfes gegen die deutschen Besatzer und des gleichzeitig stattfindenden Bürger- und Nationalitätenkrieges. Die Mehrheit der Muslime war in dieser Auseinandersetzung keineswegs bei Titos Partisanen zu finden, wie dies ihre heutigen Unterstützer der Öffentlichkeit vorzumachen versuchen. Nur in wenigen Regionen, wie in dem zu 90 % von Muslimen bewohnten Gebiet um Bihac, war die Unterstützung für die Partisanen stark. Der größere Teil der weltlichen Führung der Muslime kooperierte mit dem kroatischen Ustaša-Regime. Zwar partizipierten sie nur in geringem Umfang an dem ohnehin nicht sehr großen Machtspielraum, den die Deutschen der Ustaša ließen. Viele Muslime nahmen aber aktiv an dem Vernichtungskrieg gegen die Serben teil. 1943 machte sich die SS die Rivalitäten zwischen Muslimen und Kroaten zunutze. Die SS-Spitze um Himmler, die dem Katholizismus der Ustaša mißtraute, wollte deshalb 1943 mit der Schaffung der muslimischen SS–Division einen dem NS ideologisch stärker verpflichteten Stützpunkt aufbauen. Tito selbst hat nach dem Krieg davon gesprochen, daß nur 2,5 % der Mitglieder der Volksbefreiungsarmee Muslime waren. (6) Später allerdings vermittelten jugoslawische Darstellungen im Zeichen des allgemeinen Nationalitätenproporzes ein völlig anderes Bild.

Ähnliches gilt für die angeblich traditionell säkulare Orientierung, die heute den Bosniern angedichtet wird. So weist Klaus Leggewie den Verdacht, unter den bosnischen Politikern könnten sich islamische Fundamentalisten befinden, mit dem Argument zurück, es handele sich hier um "weiter entwickelte Europäer", deren Verteidigung angesichts einer "gemeinsamen (europäischen) Geschichte und Kultur ein Akt der europäischen Selbstbehauptung" sei. (7) Tatsächlich zählten die bosnischen und albanischen Muslime aber zusammen mit den Kurden zu den sozial und religiös konservativsten Kreisen innerhalb des osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert. Die Bosnier waren entschiedene Gegner der jungtürkischen Revolution von 1908, weil diese die religiösen Sonderrechte zugunsten eines starken Staates abschaffen wollte. Die Säkularisierung ist überhaupt erst ein Produkt des jugoslawischen Kommunismus, der 1946 die Verschleierung der Frauen verbot, also Jahrzehnte später als in der Türkei!

Angesichts der ablehnenden Haltung, die die meisten Muslime während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren gegenüber den Kommunisten einnahmen, hatten die vagen Vorstellungen, die in KP-Kreisen über die zukünftige Rolle der Muslime geherrscht hatten, keine Chancen. Die Formierung einer muslimischen Nation kam nicht nur wegen der Kriegsereignisse nicht in Frage. Bis Mitte der 60er Jahre war das Ziel der Führungsgruppe um Tito immer gewesen, die nationalen Konflikte durch die Bildung einer neuen gesamtjugoslawischen Nation beizulegen. Anders als im Fall Makedonien, wo der BdKJ wegen der außenpolitischen Frontstellung zu Bulgarien selbst aktiv die Formierung einer neuen Nation vorantrieb, sollte dieser Prozeß nicht durch die Bildung einer neuen muslimischen Nation gestört werden. Auch innerhalb der muslimischen Bevölkerung gab es zu dieser Zeit keine relevante Gruppe, in deren Interesse die Formierung einer solchen Nation gelegen hätte. Die Jugoslawisch Muslimische Organisation (JMO) der Zwischenkriegszeit hat in den Muslimen nie eine eigenständige Nation neben Kroaten und Serben gesehen. Die wichtigste Idee der Nationalisten, daß Herrscher wie Beherrschte durch eine gemeinsame Ideologie, den Nationalismus, verbunden sein sollen, entsprach einfach nicht den Interessen der religiösen und feudalen Führungspersonen der JMO. Der JMO ging es vor allem darum, die feudalen Rechte aus der osmanischen Zeit zu sichern. Die meisten der von den muslimischen Feudalherren abhängigen Bauern waren aber gerade keine Muslime. Zwischen beiden gab es keine ideologischen Berührungspunkte. Eine Mittelschicht aber, die nach politischem und wirtschaftlichem Einfluß strebte, gab es nicht. Die breite Masse der muslimischen Bauern, die mittlerweile ökonomisch kaum besser dastanden als die serbischen und kroatischen Bauern, konnten sich politisch nicht artikulieren.

Die Anerkennung der bosnischen Muslime als eigene Nation, die in mehreren Schritten in den 1960er Jahren erfolgte, ist ein spezifisches Produkt des Titoismus, in dem mehrere Entwicklungsstränge zusammenflossen. Einerseits hatte sich aufgrund der forcierten Bemühungen um eine Industrialisierung und wegen des ehrgeizigen Bildungsprogramms der Kommunisten Mitte der 60er Jahre eine muslimische Intelligenz und Mittelschicht gebildet, die jetzt in Konkurrenz zu Serben und Kroaten trat. Zur gleichen Zeit war in Jugoslawien im Zeichen einer ökonomischen Krise die nationale Frage wieder in Form der Föderalisierungsdebatte aufgebrochen. Beim Kampf um politischen und wirtschaftlichen Einfluß drehte sich von nun an alles um den nationalen Proporz. Die jetzt von muslimischen Politikern und Intellektuellen vorgetragene Forderung nach einer eigenen Nation ist in diesem Kontext zu sehen. Zugleich handelte es sich dabei aber auch um eine Herrschaftstechnik der Zentrale in Belgrad. Die Macht der kroatischen Parteiorganisation, die immer mehr unter den Druck nationalistischer Strömungen geriet, und der Einfluß der serbischen Partei, in der die Anhänger einer ökonomischen Liberalisierung den Ton angaben, sollten durch die Aufwertung von Bosnien-Herzegowina eingeschränkt werden. Zugleich ging es um Jugoslawiens Rolle in der Bewegung der blockfreien Staaten. Tito wollte den Dritte-Welt-Staaten demonstrieren, daß der jugoslawische Staat seine islamischen Bürger nicht diskriminiert.

Während es gelang, die Eskalation der Konflikte zwischen den Republiken bis Anfang der 1980er Jahre wieder zu begrenzen, führte der Kampf um den Nationalitätenproporz zu einer Verschlechterung der Verhältnisse zwischen den Nationalitäten in der Republik. Die Dezentralisierung Jugoslawiens, wie sie in der Verfassung von 1974 festgeschrieben wurde, hatte nämlich ihre Entsprechung in einer Zentralisierung innerhalb der einzelnen Republiken. In Bosnien führte dies zum Kampf um die Frage, ob in der Republik weiterhin der Nationalitätenproporz aufrechterhalten werden sollte, in dem die öffentlichen Ämter im Partei- und Staatsapparat zwischen Kroaten, Muslimen und Serben im Verhältnis 1:1:1 aufgeteilt wurden. Unter oppositionellen Muslimen, aber auch im Parteiapparat wurden die Stimmen immer lauter, die eine Abkehr von der multinationalen Verwaltung der Republik forderten. Stattdessen sollte Bosnien, in dem seit Anfang der 1970er Jahre die Muslime erstmals die größte Bevölkerungsgruppe stellten, zu einer Republik mit den Muslimen als Staatsvolk umgewandelt werden.

Das Ende des realsozialistischen Jugoslawien wurde in Bosnien eingeleitet

Mit der einsetzenden Legitimationskrise des realen Sozialismus gewann der Islam als Alternativideologie immer mehr an Einfluß. Eine Zunahme der Zahl der Pilgerreisen nach Mekka, eine ständig wachsende Zahl von Theologiestudenten, die bald schon die Kapazität der islamischen Fakultät in Sarajevo überstieg, und Frauen und Mädchen, die sich wieder verschleierten, waren Indikatoren dieser Entwicklung. Zwar gab es ähnliche Vorgänge auch bei Katholiken und Orthodoxen. Die muslimischen Nationalisten wurden aber begünstigt durch die weltweite Renaissance des Islam. Zudem fehlte den Orthodoxen eine vergleichbare Unterstützung aus dem Ausland, da die meisten orthodoxen Staaten im Bereich des realen Sozialismus lagen. Die nationalistisch/religiöse Konkurrenz äußerte sich in den 1980er Jahren vor allem in einem Wettlauf um die Errichtung religiöser Bauten, der besonders in national gemischten Gebieten verschärfte Formen annahm. Jährlich 20 neue Moscheen wurden so in Bosnien gebaut, zumeist von Geldgebern aus den arabischen Staaten finanziert. In vielen Gebieten Bosniens und im Kosovo konnten die Parteifunktionäre bestimmte Vorhaben und Verordnungen nur noch mittels der Einschaltung der lokalen Imame durchsetzen. Der wachsende Verlust der politischen und ideologischen Hegemonie der Partei war kein bosnisches, sondern ein allgemeinjugoslawisches Phänomen. Im Fall der Muslime war diese Entwicklung aber besonders gefährlich, weil die Abkehr von Staat und Partei mit einer uneingeschränkten Hinwendung zu einer anderen Autorität einherging.

Neben dieser schrittweisen Islamisierung war aber noch eine andere Entwicklung bedeutsam. Während in Slowenien, Serbien und Kroatien eine zunehmende ideologische Aufweichung stattfand, wurde die bosnisch-herzegowinische Partei- und Republikführung zur eigentlichen Stütze der realsozialistischen Zentrale. In den Augen der Wirtschaftsliberalen und Nationalisten in Slowenien und Serbien galt Bosnien als das "dunkle Vilajet" (8) oder das Rumänien Jugoslawiens. Sowohl die realsozialistische Parteiführung als auch die oppositionelle muslimische Bewegung hielten in der seit 1986 ausbrechenden Kontroverse um den außenpolitischen Kurs Jugoslawiens an der traditionellen Ausrichtung auf die Dritte Welt fest. Für die Verfechter einer marktwirtschaftlichen Systemtransformation, die ihre Anhänger unter der Parole der "Heimkehr nach Europa" organisierten, gab Bosnien deshalb das ideale Feindbild ab. An Bosnien konnte die Kritik am Realsozialismus titoistischer Prägung mit dem traditionell antimuslimischen Nationalismus in Kroatien, Slowenien und Serbien verbunden werden.

Das Ende des realsozialistischen Systems in Jugoslawien wurde deshalb in Bosnien eingeleitet. Die von Miloševic eingeleitete sog. "antibürokratische Revolution" hatte zur Aufdeckung des Agrokomerc-Skandals geführt. Der von Fikret Abdic im bosnischen Velika Kladuša aufgebaute Vermarktungskonzern für landwirtschaftliche Produkte schrieb schon seit einigen Jahren rote Zahlen. Gedeckt von bosnischen Parteifunktionären und dem jugoslawischen Ministerpräsidenten Branko Mikulic, der aus Bosnien stammt, hatte Abdic jahrelang die Verluste mit Hilfe ungedeckter Wechsel vertuscht. Hamdija Pozderac, der eigentlich 1988 den Posten des Staatspräsidenten bekommen sollte, mußte auf dieses Amt verzichten. Die Folge des Agrokomerc-Skandals war ein Aufschwung des serbischen und des muslimischen Nationalismus. Für die bosnischen Muslime war Abdic Nationalheld.

1990 hatte die nationalistische Polarisierung in Bosnien ihren ersten Höhepunkt erreicht. Die Ökonomie stand zu dieser Zeit bereits vor dem Zusammenbruch. Die Arbeitslosigkeit war bereits 1987 auf über 22 % geklettert, die Inflation lag um 50% über dem ohnehin hohen nationalen Durchschnitt. Es gab keine Auslandskredite mehr und Jugoslawien war beim IWF hoch verschuldet. Die Kommunisten traten deshalb schon vor den Wahlen im Dezember 1990 aus Furcht vor einer Wiederholung der rumänischen Entwicklung die Macht faktisch an die nationalen Parteien ab. Die Muslime hatten genau wie die anderen Parteien zu dieser Zeit bereits die Technik der nationalistischen Massenmeetings von Miloševic übernommen. So gab es am 25.8.1990 eine Massendemonstration von 200.000 Muslimen in der Stadt Foca, ein Gedächtnismarsch für die muslimischen Toten des Zweiten Weltkrieges. Im September kam es daraufhin zu Zusammenstößen zwischen Serben und Muslimen in Foca, als Serben die Absetzung eines muslimischen Busunternehmers forderten. Am 15.9.1990 fand in Velika Kladuša auf Einladung der Agrokomerc eine Großdemonstration von über 300.000 Muslimen statt. (9) Wie weit die nationalistische Dynamik vorangeschritten war, macht eine Äußerung von Abdic deutlich. Abdic meinte, daß er als Unternehmer eigentlich am besten in der projugoslawischen und radikal marktwirtschaftlichen "Allianz der Reformkräfte" des letzten jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Markovic aufgehoben wäre. Aber nur die muslimische "Partei der demokratischen Aktion" (SDA) von Izetbegovic könnte seinem Unternehmen eine politische Massenbasis geben, weshalb er dort Mitglied wurde. (10)

In keiner Republik haben die nationalistischen Parteien denn auch so viele Stimmen bekommen wie hier. Mitte 1991 existierte diese jugoslawische Republik praktisch nicht mehr. Stattdessen gab es auf ihrem Gebiet bereits drei Regierungen, drei Herrschaftsbereiche und drei Völker. Die staatlichen Organe waren lediglich Kulissen, hinter denen die Führer der nationalen Parteien ihre Probleme bei der Schaffung ihrer Miniaturstaaten diskutierten. So konnten sich denn auch ohne große Probleme serbische, kroatische und muslimische Nationalisten am 21.12.90 in weniger als 24 Stunden darauf einigen, Izetbegovic zum Staatspräsidenten zu wählen. Wie sehr sich dieser de facto als Volksgruppenführer vorkam, zeigt sich daran, daß Izetbegovic während des Wahlkampfes nur ganze zweimal auf kroatischem oder serbischem Gebiet zu Auftritten erschien: einmal auf einem Treffen der muslimischen SDA in Banja Luka und einmal im kroatischen Listica, wo er die Kroaten aufforderte, nur ihm und Tudjman zu glauben.

"Im besonderen Maße sympathisiert der Verfasser mit Pakistan ..."

Sicherlich ist die verstärkte Identifikation vieler Muslime mit "ihrer" Nation auch eine Folge des Krieges. Dies trifft aber genauso auch für viele Serben und Kroaten zu. Für die politische Führung um Izetbegovic gilt dies aber nicht. Ganz im Gegensatz zum Propagandabild der deutschen Medien, ist dieser nie für einen säkularen Staat eingetreten. Nach dem Krieg wurde Izetbegovic von einem jugoslawischen Gericht wegen der Mitgliedschaft in einer pronazistischen Muslimorganisation verurteilt. 1970 gab er eine "Islamische Deklaration" heraus, für die er 1983 zu einer 11-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Darin wettert er gegen den Feminismus als Ausdruck einer "verdorbenen Schicht des weiblichen Geschlechts", die Juden, die kemalistischen Reformen in der Türkei und propagiert einen islamischen Staat. "Die erste und gewiß wichtigste Schlußfolgerung besteht in der Inkompatibilität des Islams mit nichtislamischen Systemen. Es gibt weder Frieden noch Koexistenz zwischen dem ‚islamischen Glauben‘ und nichtislamischen gesellschaftlichen politischen Strukturen." Den Anhängern der Zivilgesellschaft schreibt er ins Stammbuch: "Es gibt im Islam kein laizistisches Prinzip und der Staat muß Ausdruck der Religion sein und ihre moralische Konzeption untermauern." Der wohlwollende Herausgeber einer deutschen Auflage der Deklaration, Peter Gerlinghoff schreibt dazu: "Die islamische Deklaration unterscheidet sich von diesen Strömungen (gemeint ist die ehemalige neomarxistische ,Praxis‘-Gruppe) dadurch, daß sie die ,Wiedergeburt‘ der bosnisch-muslimischen Volksgruppe von vornherein nicht mehr im jugoslawischen oder europäischen Kontext ansiedelt, sondern sie in den Rahmen einer Erneuerungsbewegung der islamischen Welt stellt. Im besonderen Maße sympathisiert der Verfasser mit Pakistan, als dem einzigen Staat, der sich schon damals als ‚islamisch‘ bezeichnete." Und weiter: "... zugleich aber (hat der Verfasser) mit der kategorischen Ablehnung des laizistischen Prinzips einen grundsätzlichen Dissens zum gesellschaftlichen Pluralismus benannt. Dieser Aspekt wird noch verschärft durch den Hinweis, daß der Islam nicht als Privatreligion praktiziert werden könne, sondern die Existenz eines muslimischen Milieus, im Grunde genommen sogar eine muslimische Gesellschaft, d.h. Akzeptanz bei der Mehrheit zur Voraussetzung habe." Um dies durchzusetzen heißt es in der Islamischen Deklaration: "Wir müssen erst Verkünder sein, um dann Soldaten zu werden." Selbst von solchen militanten Äußerungen läßt sich Gerlinghoff nicht von seiner Sympathie für die muslimische Seite abbringen. "Insofern konnte der Leitspruch der Deklaration ‚Islamisierung der Muslime‘", schreibt der deutsche Herausgeber, "als die Erneuerung eines alten Herrschaftsanspruchs verstanden werden, der durch die ausdrückliche Legitimierung auch gewaltvoller Formen der moralischen ‚Säuberung‘ des Volkes durchaus drohende Züge annahm." Daß Izetbegovic für sein islamisches Projekt auch bereit ist, Teile der "eigenen" Nation zu opfern, daraus macht er auch 1970 keinen Hehl: "Ein Volk, das schläft, kann nur durch Schläge aufgeweckt werden. Wer unserer Gemeinschaft Gutes wünscht, darf ihr Mühen, Gefahren und Niederlagen nicht ersparen." (11) Izetbegovic unterhält zwar gute Beziehungen zur Türkei. Seine engsten Freunde sind dort aber nicht die kemalistischen Regierungsparteien, sondern Necmettin Erbakan und die Islamisten.

Die Macht in den von den bosnischen Truppen kontrollierten Gebieten teilen sich einige Familienclans aus der SDA. Die bosniakisch orientierte Opposition ist demgegenüber einflußlos. Nach Angaben der "taz" gehört der größte Teil der Bevölkerung zu den Anhängern dieser Option. Im Parlament in Sarajevo haben sie aber ganze 2 Vertreter sitzen: Adil Zulfikarpasic und Muhammed Filipovic. Beide Politiker wohnen aber nicht in Bosnien, sondern in der Schweiz und haben sich überdies in der Frage der Zusammenarbeit mit der Regierung zerstritten. Filipovic hat Anfang diesen Jahres, als bosnischer Botschafter in der Schweiz, zudem genau das gemacht, was nach Ansicht der "taz" den größten Sündenfall der westlichen Diplomatie darstellt. Er hat im Februar im Auftrag der bosnischen Regierung direkte Verhandlungen mit Miloševic geführt.

"Die serbische Bevölkerung ist eine primitive Bevölkerung"

Den bosnischen Geist der Toleranz kann nur wahrnehmen, wer selbst vom heftigen antiserbischen Rassismus befallen ist. "Die serbische Bevölkerung, vor allem die ländliche, ist eine primitive Bevölkerung, die sich auch leicht mißbrauchen läßt", verrät der Anhänger eines souveränen Einheitsstaates Bosnien, Smail Balic, der "taz". Der Interviewer Thomas Schmid mag auch da nicht widersprechen, wo es rassistische Stereotypen nur so hagelt. "Es ist zum Beispiel undenkbar, daß in einem muslimischen Haus jemand auf den Boden spuckt, wie etwa in einem Haus eines serbischen Bauern." Stattdessen hört er sich lieber die spezifisch "bosniakische" Nationalismusvariante an: "Natürlich gab es unter den Muslimen Kollaborateure der Türken, aber insgesamt haben die Bosnier es geschafft, im Schatten der osmanischen Macht eine beschränkte Selbständigkeit zu wahren. Die Serben sind hingegen oft als Diener der Türken in Erscheinung getreten." (12)

Die Anhänger des Bosniakentums sind die nachhaltigsten Verfechter eines ungeteilten Bosniens. Sie berufen sich u.a. auf Mehmed Beg Kapetanovic. Dieser war der erste, der die Theorie einer gesonderten bosnischen Nation vertrat. Als Großgrundbesitzer aus der Herzegowina ging es ihm nach der österreichischen Besatzung darum, die Feudalrechte aus der osmanischen Zeit in modernes kapitalistisches Eigentum umzuwandeln. Die vom serbischen und kroatischen Nationalismus übernommene Kontinuitätsthese, wonach die bosnischen Muslime direkte Nachkommen eines mittelalterlichen bosnischen Staates waren, hatte eine klare Funktion. Die bosnischen Grundbesitzverhältnisse sollten nicht als Produkt der osmanischen Gesellschaft erscheinen, sondern ihren Ursprung im vorislamischen Mittelalter haben. Was das Verhältnis zu Kroaten und Serben anbetrifft, war er eindeutig: "Was die Kroaten und Serben angeht, sind sie Zweige des südslawischen ritterlichen Volkes, wie wir auch, aber wir stehen dabei an erster Stelle." Auf die breiten Massen der muslimischen Bevölkerung hatten diese Theorien aber keinen Einfluß, weil diese sich weiterhin eher an den Imamen als an einem mehr fiktiven als realen mittelalterlichen Bosnien orientierten.

Als nationalistische Randströmung im Aufschwung des muslimischen Nationalismus seit den 1960er Jahren entstanden, trägt der Bosnianismus alle Züge einer nationalistischen Ideologie: die Theorie einer nationalen Wiedergeburt, die rassistische Abgrenzung gegenüber anderen Nationen, vor allem den Serben, z.T. aber auch gegenüber den Kroaten. Die Behauptung, Freiheitskämpfer gegen das osmanische Reich gewesen zu sein, teilen die Balic u.a. mit den kroatischen und serbischen Nationalisten. Die Muslime werden zur Urbevölkerung Bosniens erklärt und alle anderen sind nur zufällig eingewanderte Minderheiten. Nur eines fehlt ihnen, das wichtigste: ein Staat, der diese Ideologie auch seinen Untertanen einhämmert. Die Politiker der muslimischen Regierungspartei SDA folgen weiterhin einer anderen nationalen, nämlich islamischen Ideologie. Dafür aber haben sie einen durchschlagenden Erfolg bei den europäischen Intellektuellen, die die nationalistischen Phantasien einiger bosnischer Intellektueller mit der Realität verwechseln. Dagegen hat auch Izetbegovic nichts einzuwenden. Schließlich gibt dies seinem islamischen Projekt ein "modernes" Aushängeschild.

Anmerkungen:

1) Erich Rathfelder: Die bosnische Tragödie, der serbokroatische Aufteilungskrieg und die Eskalation der Gewalt, in: E. Rathfelder (Hg.): Krieg auf dem Balkan, Hamburg 1992, S. 45–77, hier S. 62 und S. 70

2) So in: Stefanov, Nenad / Werz, Michael: Bosnien und Europa. Die Ethnisierung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, ähnlich auch aus autonomer Sicht in: Buchladen Schwarze Risse Berlin und Rote Straße Göttingen: Die Ethnisierung des Sozialen. Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges, Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 6, Berlin 1993.

3) "Im übrigen wurde auch der bemerkenswerte Sachverhalt verschwiegen, daß leere Publikumssäle das größte Problem der Theater in Sarajevo vor dem Krieg gewesen sind" schreibt dagegen Zeljko Vukovic (Das Potemkinsche Sarajevo, in: Klaus Bittermann (Hg.): Serbien muß sterbien, Berlin 1994, S. 165) zu einem medienwirksam inszenierten Theaterauftritt von Susan Sontag in Sarajevo.

4) H. Bauer, T. Kimming: Frieden um jeden Preis? in: Stefanov, Nenad / Werz, Michael: Bosnien und Europa, Die Ethnisierung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, S. 42–59, hier S. 47

5) Smail Balic: Das Bosniakentum als nationales Bekenntnis, in: Österreichische Osthefte 33 (1991), S. 345–357, hier S. 356

6) Eine Analyse der anerkannten Kriegsveteranen zeigt die geringe Verankerung der Partisanen unter den Muslimen. Danach waren bei einem muslimischen Bevölkerungsanteil von 8,5% nur 3,5% der Kriegsveteranen Muslime (in Bosnien lag das Verhältnis bei 39,6% zu 23%). Wolfgang Höpken: Die jugoslawischen Kommunisten und die bosnischen Muslime, in: Kappler, Andreas / Simon, Gerhard / Brunner, Georg (Hg.): Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien, Köln 1989, S. 181–210, hier S. 208, Anm. 72

7) Klaus Leggewie: Wir alle sind bosnische Muslime, in: taz 10.8.92

8) Ein Vilajet ist eine osmanische Verwaltungseinheit

9) Nach: Milan Andrejevich: Bosnia–Herzegovina: Yugoslavia´s Linchpin, in: Radio Free Europe: Report on Eastern Europe v. 7.12.1990, S. 24

10) Vgl. Milan Andrejevich: The Bosnian Muslim Leader Fikret Abdic, in: Radio Free Europe / Radio Liberty: Research Report 2 (1993), Nr. 40, v. 8.10.1993, S. 17

11) Alle Zitate nach der deutschen Ausgabe des 2. Kapitels, herausgegeben vom Arbeitskreis für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit Berlin (Alia Izetbegovic: Die islamische Ordnung, Berlin 1993), S. 8, 9, 27, 28 und 22. Eine vollständige Fassung der Deklaration in englisch: Alia Izetbegovic : The Islamic Declaration, in: South Slav Journal, London 1 (1983), S. 56–89.

12) Das Erbe der Mystik, Interview von Thomas Schmid mit Smail Balic, in: taz 5.4.94


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