Höhenflüge und Krebsgänge

Die Ukraine zehn Jahre nach der Unabhängigkeit

Seit 1991 stehen die Grundmauern eines eigenen Staates
- nur die Innenausstattung lässt auf sich warten

von Tetyana Lutsyk/Wilhelm Siemers (Der Freitag, 24.08.2001)

Vor zehn Jahren - am 24. August 1991 - erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Diesem Schritt war kurz zuvor eine Souveränitätserklärung durch den Obersten Sowjet in Kiew vorausgegangen. Erstmals standen damit ukrainische Gesetze über sowjetischen. Nachdem am 1. Dezember 1991 90 Prozent der Ukrainer für die Selbstständigkeit gestimmt hatten, erklärte der ukrainische Staatschef Leonid Krawtschuk zusammen mit Russlands Präsidenten Boris Jelzin und dem weißrussischen Parlamentspräsidenten Schuschkewitsch acht Tage später die Sowjetunion für aufgelöst. Zehn Jahre danach betrachtet sich die Ukraine mehr denn je als ein Staat in Europa und wird nicht selten als Staat an der Peripherie Europas behandelt.

Es ist wie zu Breschnews Zeiten", sagt die 63-jährige Kinderärztin Galina Kuchtyk mit einem Schmunzeln. "Sobald sich ein nationaler Feiertag nähert, wird das Brot billiger." Nur selten flaniert sie zusammen mit ihrem Sohn Wolodymyr über den Prachtboulevard Chrestschatyk im Herzen der ukrainischen Hauptstadt. Doch heute ist sie ein wenig neugierig. Galina will schauen, wie weit die Vorbereitungen für das Fest zur zehnjährigen Unabhängigkeit der Ukraine am 24. August fortgeschritten sind. Gerade werden die Kulissen für die große Jubiläumsshow aufgestellt und keine Ausgaben gescheut, um dem Unabhängigkeitsplatz ein neues Gesicht zu verpassen. "Bereits im vergangenen Jahr war die Feier wunderschön", erzählt Galina, doch ihr Sohn verzieht das Gesicht. "Alles nur Bühnenzauber", wettert der 33-jährige Radiotechniker, der heute im Lebensmittelgroßhandel arbeitet. "Das Spektakel täuscht nur über die wirklichen Probleme hinweg."

Die neue Yacht soll "Viktoria" heißen

Dort, wo seit Jahren das Postament des Lenindenkmals leer stand, schwebt inzwischen auf einer 50 Meter hohen Säule eine goldene Frauenstatue als Beschützerin des ukrainischen Volkes. Selbst die Box-Stars Witalij und Wladimir Klitschko wollen die offizielle Einweihung dieses Monuments nicht verpassen, wenn sich eine auf Hochglanz polierte ukrainische Staatlichkeit präsentiert und bei einer Militärparade 6.000 Soldaten sowie neuestes Kriegsgerät an Präsident Leonid Kutschma vorbei ziehen. Neben dem Denkmal stehen bisweilen nur die Wände für das neue Nationalmuseum. Im Jubiläumsjahr bleibt es vorläufig geschlossen, weil die Exponate fehlen.

Seit der Unabhängigkeitserklärung von 1991 ging ein Riss durch die ukrainische Gesellschaft. Die verdeckte Ungleichheit aus der sowjetischen Zeit wurde von Jahr zu Jahr sichtbarer. Was blieb, war eine Gesellschaft der Gewinner und Verlierer.

Viktoria Lopatezka, 28 Jahre alt, lebt auf der Sonnenseite. Als harte Geschäftsfrau hat sie ein florierendes Unternehmen in Kiew aufgebaut. "Dank der Veränderungen hier bin ich jetzt dort, wo ich hinwollte", sagt sie strahlend. "Am Tag der Unabhängigkeit werde ich Freunde zur Einweihung meiner neuen Yacht einladen. Sie soll ›Viktoria‹ heißen, so wie ich ..." Ein Leben wie im Bilderbuch können derzeit nur wenige Ukrainer genießen. Besonders in den ländlichen Gegenden sind die Kontraste zuweilen unvorstellbar. Walentyna Kowaltschuk, eine ebenfalls 28 Jahre alte Dorfärztin, wohnt in einem westukrainischen Kaff nahe der polnischen Grenze, mitten in einem schönen Nirgendwo zwischen Wäldern und Seen. Seit Schließung der Sowchose sind die meisten Arbeitsplätze verloren. Die junge Frau ist die einzige, die noch Geld für die siebenköpfige Familie nach Hause bringt. Und auch das kann monatelang ausbleiben. Während des Urlaubs verdient sie mit anderen Frauen ihres Dorfes beim Beerenpflücken in Polen dazu. Der Unabhängigkeitstag ist ihr halbwegs egal. Nur wenn die Familie Benzin auftreiben könnte, wäre eine Fahrt in die nächste Kleinstadt denkbar. Doch in der Erntezeit sei dies eher unwahrscheinlich, und so bleibe man eben zu Hause, um Selbstgebrannten zu trinken.

Ähnlich abgeklärt und ernüchtert gibt sich der Unternehmer Igor Smoljanski. "Man hätte im August 1991 die Unabhängigkeit von den Bürokraten ausrufen sollen", meint der 35jährige, der sich selbst als "viel zu großen Hai in einem viel zu kleinen Business" beschreibt. Sein bescheidenes Büro, seine Lagerräume, sein Fuhrpark - alles liegt an der Peripherie von Kiew weitab vom Schuss, um nicht weiter aufzufallen und keinen Steuerbeamten anzulocken. Schmiergelder, die willkürlich festgelegt werden, sind ununterbrochen fällig, um die Staatsobrigkeit auf Abstand zu halten.

Viktoria Lopatezka dagegen braucht sich nicht zu verstecken. Sie verfügt über lukrative Kontakte mit Politikern und Staatsdienern und lässt die gewinnbringend für sich arbeiten. Informationsbeschaffung, lancierte Aufträge, gegenseitige Gefälligkeiten gelten als ihr Erfolgsrezept. Das Resultat ist offensichtlich. Während sich Igor zur mittleren Schicht der ukrainischen Gesellschaft zählt, meint Viktoria schmunzelnd, sie sei doch "ein bisschen mehr".

Grüner Umweltminister im Kabinett

Natürlich weiß das Regierungslager, die Unabhängigkeitsfeier bietet eine glänzende Gelegenheit, mit viel Nationalkolorit der Opposition, die sich noch im Frühjahr in mächtigen Demonstrationen gegen den Präsidenten entlud, vorübergehend den Schneid abzukaufen. Lediglich das Forum der Nationalen Rettung hat im Vorfeld des Jubiläums den Aufruf zur Aktion "Heimat, Freiheit, Unabhängigkeit" riskiert, um die Öffentlichkeit (besonders außerhalb des Landes) darauf aufmerksam zu machen, dass die Ukraine in den zehn Jahren ihrer Eigenständigkeit nicht wirklich zu einem souveränen, demokratischen Staat geworden ist. In diese Kerbe schlägt auch Timur Bagirow, der Berater von Ex-Premier Viktor Juschtschenko. "Diese Party ist eine gigantische Augenwischerei", sagt er, und mehr als ein Hauch von Bitterkeit über die Umstände des Sturzes von Juschtschenko im April schwingt da mit (s. Übersicht). Die reformorientierte Regierung musste im Sog der Tonbandaffäre um Präsident Kutschma das Bauernopfer abgeben. Das Parlament spielte mit und war mehrheitlich gern bereit, den ungeliebten Reformer in die Wüste zu schicken. Gewinner dieses dubiosen Revirements war Leonid Kutschma, der geschickt von seinen Verstrickungen in den Tod des georgischen Journalisten Gongadse ablenken konnte. Jetzt werden für den versierten Taktiker die Jubiläumsfanfaren gerade zur rechten Zeit geblasen, um an glorreiche Errungenschaften seiner Amtszeit zu erinnern.

Gelassener als Bagirow resümiert Oleksander Kyrylkin, Journalist der Agentur Interfax, das erste Jahrzehnt, "die Ukraine ist doch einen beachtlichen Weg gegangen. Das Leben ist freier geworden, es begegnet uns mit mehr Entwicklungsmöglichkeiten". Wichtig bleibe vor allem die politische Unabhängigkeit von Russland. "Es ist doch wunderbar, wenn kein ukrainischer Soldat in den Tschetschenien-Krieg ziehen muss."

Oleksander Kyrylkin betrachtet es als Ermutigung für die ukrainische Zivilgesellschaft, dass der grüne Politiker Sergij Kurykin zum Umweltminister aufsteigen konnte. "Seine politischen Wurzeln hat Kurykin in der Anti-Atomkraft-Bewegung, die nach der Tschernobyl-Katastrophe entstand. In seinem Handeln ist ihm die Unterstützung der Gesellschaft sicher. Schließlich hält die Mehrheit der Bevölkerung die Schließung des 1986 havarierten Kernkraftwerks im Jahr 2000 für ein wegweisendes Signal."

Bei nahezu zehn Millionen ethnischen Russen (von 49 Millionen Gesamtbevölkerung) scheint die Distanz zur Russischen Föderation allerdings eher Wunsch als Realität. In etwa 5.000 Schulen des Landes blieb Russisch bis heute Unterrichtssprache, der ukrainische Buchmarkt wird noch zu 85 Prozent von russischsprachiger Literatur abgedeckt, mehr als die Hälfte der Funkmedien strahlen ihre Programme in russischer Sprache aus. Dem 62-jährigen Ingenieur Sergij Tkatschuk - geboren in der Westukraine - missfällt das sehr. "Zur Unabhängigkeit eines Landes gehört doch, dass die eigene Sprache gepflegt wird", beanstandet er die ukrainische Kulturpolitik, "es mag paradox klingen, aber in der Sowjetunion hat man mehr für die Sprachenpflege und die ukrainische Kultur getan."


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