Die Hitler-Obsession

(SPIEGEL ONLINE, 22.12.2005)

Von Hitler und Nazi-Deutschland können britische Schulen gar nicht genug bekommen, andere wichtige Themen finden im Geschichts-Unterricht kaum Platz. Der Schulaufsicht geht die "Hitlerisierung" des Unterrichts deutlich zu weit. Sie will das Zerrbild korrigieren.

London - Die oberste britische Schulaufsichtsbehörde hat die starke Einengung auf den Nationalsozialismus im Fach Geschichte beklagt. Der Unterricht in der Mittel- und Oberstufe sei so sehr auf Hitler, Nazi-Deutschland und andere Diktaturen fixiert, dass andere wichtige Themen verdrängt würden, heißt es in dem am Donnerstag veröffentlichten Jahresbericht der Behörde QCA (Qualifications and Curriculum Authority).

Diese Einengung des Themenspektrums habe zu einer regelrechten "Hitlerisierung" des Unterrichts geführt. "Wir möchten die Lehrer gern ermuntern, das ganze Spektrum der Geschichte zu beachten, anstatt sich auf einige wenige Perioden zu konzentrieren", resümiert die Schulaufsicht. Sie stellt zwar dem Geschichtsunterricht insgesamt ein gutes Zeugnis aus, hält aber auch die Beschäftigung mit den englischen Tudor-Königen vom späten 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert für zu ausgeprägt, während die Beschäftigung mit multi-ethnischen Aspekten der britischen Geschichte zu kurz komme - der Lehrplan bestehe hauptsächlich aus "Hitler und den Henrys".

Die Warnung vor einem verzerrten Deutschlandbild ist nicht neu. Bereits vor knapp drei Jahren hatte die Schulaufsichtsbehörde in einer Untersuchung belegt, dass britische Schüler mehr über den Nationalsozialismus erfahren als über alle anderen historischen Ereignisse zusammen - britische Geschichte eingeschlossen. Das Thema Hitler werde zwar inhaltlich angemessen, aber zu breit behandelt und zu häufig wiederholt. Auch Prinz Charles hatte eine Änderung des "beschränkten und bruchstückhaften Lehrplans" gefordert; die BBC reagierte mit einem Test "Was wissen Sie über Deutschland?".

Höchste Zeit für neue Lehrpläne, meint die Schulaufsicht. In der kommenden Woche will sie die ersten Lehreinheiten vorlegen. Im Mittelpunkt: die Behandlung von Nachkriegsdeutschland im Geschichtsunterricht. Denn gerade das fehle, sagte der Geschäftsführer Ken Boston: "Die Geschichte in Deutschland endete nicht mit dem Tod eines Diktators - die moderne Ära hat in Deutschland genau damit begonnen." Über große Ereignisse wie den Kalten Krieg, den Aufbau und Fall der Mauer sowie die Wiedervereinigung erführen britische Schüler zu wenig.

Mit ihrer Kritik schlägt die Schulaufsicht ähnliche Töne an wie deutsche Botschafter in London. So hatte Gebhardt von Moltke, Botschafter bis 1999, sich über die "profunde Unwissenheit" der Briten über das moderne Deutschland beschwert. Besonders beleidigt habe ihn der Generalverdacht, dass alle Deutschen Nazis gewesen seien; zwei der Onkel Moltkes waren als führende Köpfe des Widerstands gegen Hitler exekutiert worden.

Auch sein Nachfolger Thomas Matussek hatte mehrfach kritisiert, in Großbritannien gebe es eine "Besessenheit" mit der Nazi-Vergangenheit Deutschlands. Im Geschichtsunterricht sei das Deutschland nach 1945 "praktisch nicht existent", hatte der scheidende deutsche Botschafter in London festgestellt.


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