Artikel in Deutsch:

Das Herz der Welt


Judentum ist mehr als Bagel und Lachs

Portrait: Ellen Auerbacher

“Der Entschluß zum Attentat war sehr schwer”

Zum 62. Todestag von Hans Litten

Die “Kosher Nostra” - Moses der Unterwelt

Berlin: Speers braun ummiefte Protzbauten

Der Fall Wallenberg ist lösbar - nur der absolute Wille fehlt...

Das Deutschlandbild in den USA

Dieser Artikel erschien in Heft 154, 2000, der "Tribüne" - der "Zeitschrift zum Verständnis des Judentums", die dreimonatlich in Frankfurt erscheint.

Die Geschichte der Juden in New York

Das Herz der Welt

Von Tekla Szymanski

"Vor dem Schiff ragte, von ihrem hohen Sockel aus dem glitzerndem Wasser, die Freiheitsstatue. Freiheit! Die rußigen Kuppeln und hohen quadratischen Mauern der Stadt zeichneten sich ab. Der weiße Rauch, ausgeblichen von der Sonne, verlor sich in den Wolken. Das war das riesige, unglaubliche Land, das Land der Freiheit, der immensen Möglichkeiten. Das Goldene Land." (aus: Henry Roth, "Call it Sleep")

New York. Die jüdischste aller Städte außerhalb Israels, die Stadt, die alle amerikanischen Juden geprägt hat, und die das religiöse und ethnische Selbstbewußtsein der jüdischen Einwanderer für immer veränderte. Über die Hälfte aller amerikanischen Juden hat einmal in New York gelebt. Der Moloch New York beherbergte und beherbergt die größte Konzentration von Juden in der Welt.

Aber nicht allein die Zahl der jüdischen Bewohner macht diese Stadt so jüdisch. Es ist die Mentalität aller New Yorker, die die gewaltige jüdische Einwanderungswelle über die Jahre hin widerspiegelt. Die Italiener, Iren, Chinesen, Puertoricaner, Juden, alle haben dazu beigetragen, New York zu dem zu machen was es ist: eine Einwanderungsstadt. Die jüdischen Einwanderer jedoch drückten ihr einen besonderen Stempel auf.

Der Durchschnitts-New Yorker ißt heute Bagel mit Lachs, spöttelt auf Jiddisch und kennt sich in allen jüdischen Feiertagen bestens aus. Am Jom Kippur sind ganze Straßenzüge ausgestorben, Mazzot gibt es zu Pessach in jedem Supermarkt, an Rosch Haschana werden die Straßen nicht gefegt und an allen jüdischen Feiertagen sind - genauso wie an den christlichen - die öffentlichen Schulen selbstverständlich geschlossen, während an der New Yorker Börse bei weitem weniger Aktien gehandelt werden. New York und die New Yorker Juden sind untrennbar: Erst waren es die orthodoxen Stetlbewohner, die vor hundert Jahren den rettenden Hafen erreichten, und jetzt leben hier ihre Nachfahren - säkularisierte Juden, deren Kippot das Logo der lokalen Baseballmannschaft schmückt. New York ist ein Schmelztiegel von hundert Sprachen, Traditionen, Gerüchen und Riten, und warum sollte da nicht New Yorks größte Einwanderungsgruppe herausragen?

Von 1880 bis 1920 erreichten über 2 Millionen jüdischer Flüchtlinge aus West- und Osteuropa den New Yorker Hafen, umschifften die Freiheitsstatue, kletterten mit glänzenden Augen und klopfendem Herzen über die Laufplanke bei Ellis Island an Land. Nachdem sie den prüfenden Blicken der Immigrationsbeamten standgehalten hatten, siedelten sie sich an der "Lower East Side" in Manhattan an. Wenige reisten je weiter.

Insgesamt kamen fünf Einwanderungswellen nach New York: Spanische und portugiesische Juden, die sich zu Kolonialzeiten im frühen New York ansiedelten; deutsche Juden, die Europa während der Revolution von 1848 entflohen; osteuropäische Juden, die den Pogromen in den 1880 Jahren zu entrinnen versuchten; Holocaustflüchtlinge aus Westeuropa in den 30er Jahren, und russische und ukrainische Juden, die nach dem Fall der Sowjetunion 1990 dem wachsenden Antisemitismus in ihrer Heimat den Rücken kehrten. Ein jeder brachte seine eigenen Bräuche mit, ließ sich mit seinen Träumen und Hoffnungen in der Stadt nieder. Familien fanden sich wieder. Die meisten schafften es in der Neuen Welt, ihre Kinder formten den Kern der "amerikanischen Juden" - und alle veränderten das Bild der Stadt für immer.

Um 1900 wurde New York zum Zentrum des amerikanischen Judentums erklärt: 29 Prozent der New Yorker waren jüdisch. 1920 waren 40 Prozent der Bewohner von Manhattan Juden. Heute sind es 16 Prozent: 1.13 Millionen Juden leben im Großraum New York, jeder vierte New Yorker ist Jude. Über eine viertel Million Juden leben heute in Manhattan. Judentum und Christentum üben einen gleichgestellten kulturellen und sozialen Einfluß auf die Stadt aus.

New York bot allen Neuankömmlingen Sicherheit, aber es ermöglichte besonders den jüdischen Einwanderern noch viel mehr: die Stadt gab ihnen ihre individuelle Freiheit wieder - und damit ihr Selbstbewußtsein -, und das zum ersten Mal in der jüngsten jüdischen Geschichte. Wie aber nahm das jüdische New York seinen Anfang?

I. 1654-1880

Im September 1654, kurz vor Rosch Haschana, erreichten 23 sefardische Juden auf dem Schiff St. Charles, oder St. Catherine, der Name ist strittig, die holländische Kolonie "Niew Amsterdam" - Manhattan - und errichteten die erste jüdische Siedlung in Nord Amerika. Sie kamen aus Recife, Brasilien, das unter portugiesischer Kolonialherrschaft geraten war, und sie waren Nachkommen der 1492 aus Spanien vertriebenen Juden. Erst einige Monate zuvor war der erste Jude nach Nordamerika gekommen: Jacob Barsimon aus Holland. 1655 teilte die Stadt den Juden ein Stück Land für einen jüdischen Friedhof zu, und 1657 wurde Asser Levy zum ersten jüdischen Bürger der Kolonie erklärt. Juden durften in fast allen Berufszweigen dienen - außer im öffentlichen Dienst; sie erhielten Wahlrecht, aber sie wurden nicht automatisch eingebürgert.

Die erste Synagoge in Nordamerika wurde 1695 errichtet - rund 300 Juden lebten zu diesem Zeitpunkt in der Stadt. Anfang des 18. Jahrhunderts hatten Juden volle wirtschaftliche Rechte. Deutsche Juden erreichten die Kolonie. Die jüdische Gemeinde in New York blühte auf, und mit Gründung der New Yorker Börse 1792 waren zwei Juden unter den ersten Mitgliedern - Benjamin Seixas und Ezekiel Hart. Um 1820 waren die meisten Juden New Yorks Aschkenasim, die deutschen Juden hatten 1825 in Manhattan die erste aschkenasische Synagoge - B'nai Yeshurun - errichtet, um sich von den sefardischen Bräuchen zu distanzieren.

II. 1880-1930

Die anti-jüdischen Pogrome in Rußland führten zu einer gewaltigen jüdischen Einwanderungswelle nach Nordamerika: 1881-82 erreichten Tausende von Juden aus Südrußland, über Österreich, die Hafenstadt Brody, von wo europäische jüdische Hilfsorganisationen die Flüchtlinge nach Bremen und Liverpool weiterleiteten und sie dort einschifften: das Ziel war New York.

Von 1820 bis 1880 kamen jährlich 200.000 Einwanderer - Juden wie Christen - nach New York. Insgesamt erreichten in dieser Zeitspanne 9 Millionen Einwanderer den New Yorker Hafen. Die jüdische Masseneinwanderung hatte ihren Anfang genommen.

Um 1870 kamen rund 40.000 osteuropäische Juden nach New York, 1880 weitere 200.000, und 1890 folgten ihnen über 300.000 Juden. Zwischen 1900 und 1914 schlossen sich ihnen 1.5 Millionen, meist jüngere osteuropäische Juden an. 64 Prozent waren gelernte Arbeiter, 60 Prozent von ihnen kamen aus der Bekleidungsindustrie oder waren Kaufleute.

Die Mehrzahl der 1.4 Millionen jüdischen Einwanderer, die zwischen 1880 bis 1910 nach New York kamen, blieben in der Metropole und verlegten ihr Shtetl an die "Lower East Side" Manhattans. Sie bildeten New Yorks viertgrößte Einwanderungsgruppe. Das erste jiddische Theaterstück wurde 1882 an der Zweiten Avenue aufgeführt - im "jüdischen Rialto", wie der Straßenzug von jetzt ab hieß. Um 1910 machten Juden ein Viertel der New Yorker Gesamtbevölkerung aus. 1917 gab es 800 Synagogen in der Stadt. 1900 wurde der erste Jude in den Kongreß gewählt.

Schon 1890 lebten rund 300.000 osteuropäische Juden an Manhattans Lower East Side in horrenden Verhältnissen, und mehr als die Hälfte waren Kinder. Die wohletablierten deutschen Juden, die Jahre zuvor nach New York gekommen waren, fürchteten um ihr Ansehen und distanzierten sich von den "kikes", wie sie sie nannten, d.h. von den osteuropäischen Juden, deren Familienname meist auf -ki endete. ("Kikes" wurde später zum antisemitischen Schlagwort amerikanischer Rassisten...).

Die Juden an der "Lower East Side" fanden Arbeit in der Bekleidungsindustrie, und ganze Familien schufteten unter harschen Verhältnissen in den sogenannten "sweatshops". 1895 gab es 6.000 solcher "sweatshops" in Manhattan und 900 weitere in Brooklyn, in denen rund 80.000 Menschen rund um die Uhr arbeiteten. Um 1885 gehörten 234 der 241 Bekleidungsfabriken Juden - 97 Prozent von ihnen waren deutsche Juden, die Jahre zuvor ins Land gekommen waren. Zwischen den Arbeitgebern und den osteuropäischen Arbeitern herrschten krasse Klassenunterschiede, die von den Alteingesessenen teilweise schamlos ausgenutzt wurden. Die ersten modernen sozialen Klassenkämpfe in der New Yorker Bekleidungsindustrie waren "jüdische Klassenkämpfe", an denen die christlichen New Yorker nicht teilnahmen. Immer mehr arme jüdische Neuankömmlinge aus Osteuropa zog es in die Bekleidungsindustrie, eben weil die meisten Fabriken von Juden geleitet wurden - man also "unter sich" war, kein Englisch gesprochen wurde, am Shabat nicht gearbeitet zu werden brauchte, und ganze Familien, vom Kleinkind bis zum Greis, dort zusammen Verdienst finden konnten. 60 Prozent der Einwanderer arbeiteten dort 14 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Und die meisten hatten einfach keine andere Wahl. Doch mit dem nichtabreißenden Strom von billigen Arbeitskräften in die Stadt, fielen zwangsläufig auch die Löhne.

Um 1888 waren die Hälfte der 4.000 New Yorker Fleischereibetriebe und der 300 Fleischgroßhandel jüdisch. 1890, es waren erst zehn Jahre vergangen seit Beginn der großen osteuropäischen Einwanderungswelle, gab es 43 koschere Bäckereien, 58 Buchläden und 112 Süßigkeitengeschäfte an der Lower East Side, die alle von osteuropäischen Juden aufgebaut waren.
Die erste Urbanisierung der osteuropäischen Juden vollzog sich in New York: Die aus den kleinen Dörfern kommenden Juden fanden sich zum ersten Mal in einer Metropole wieder. New York schockierte, manifestierte aber das Neue, das krasse Gegenteil von ihrem bisherigen Leben. Die Stadt versinnbildlichte noch Generationen später diesen Wendepunkt in ihrem Leben, und diese Erinnerung machte New York zu einem rein "jüdisches Ereignis". Die Enkel und Urenkel spürten, und spüren noch heute diese Energie.

Mit dem Einzug in die "Neue Welt" gingen die Traditionen des osteuropäischen Judentums langsam verloren. Die Zahl der sogenannten "Luftmenschen", d.h. Juden, die sich mehr und mehr säkularisierten, nahm zu. Wenige orthodoxe Rabbiner waren nach Nordamerika eingewandert, und die Jüngeren wandten sich von der "Shtetlmentalität" ab, kehrten der Alten Welt naserümpfend den Rücken zu und wollten sich so schnell wie möglich "amerikanisieren". Sie wurden "regeleh Yankees" - gewöhnliche Yankees. Doch sie vergaßen die Lower East Side und ihre Wurzeln nie. Die traditionellen Werte wurden durch politische Ideale ersetzt: Liberalismus, Kommunismus, Sozialismus: Die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in den sweatshops wurde zum ersten Ziel der neu gegründeten politischen Vereinigungen. 1897 wurde die jiddische Zeitung "Forverts" ["Vorwärts"] gegründet, die dem jüdischen Arbeiterbund nahestand und die Belange der jüdischen Einwanderer vertrat. (Heute erscheint die Zeitung wöchentlich auf Englisch ["Forward"], hat eine jiddische und seit 1995 eine russische Beilage und gehört zu den anerkanntesten jüdischen Zeitungen New Yorks.)

Die Assimilation der jüdischen Einwanderer in New York hatte begonnen, und deren Auswirkungen sind bis heute zu spüren. Die kosmopolitische und multi-religiöse Metropole, das rohe, manchmal grausame Alltagsleben, und daneben die grenzenlose Freiheit unter atemberaubend vielen Möglichkeiten wählen zu dürfen, bot den jüdischen Einwanderern Alternativen, hinterließ zwangsläufig Spuren und weckte Zweifel an alten Traditionen. Denn jeder Neuankömmling, der nach New York kam (und kommt), gewinnt Energien, die er weitergeben will: Zum Guten wie zum Schlechten.

"[Die Juden], die aus der Alten Welt verstoßen wurden, in der Neuen Welt empfangen wurden, hatten manchmal Makel, die sie nicht mitbrachten, sondern die ihnen hier zugefügt wurden", schrieb Jacob Riis um 1896 in seiner entlarvenden Dokumentation über die Verhältnisse des "anderen New York" - der Lower East Side. "Sie bleiben nicht in den Slums, sondern schaffen es, ihnen zu entfliehen. Wo Juden leben, stagniert nichts. ... Sie haben eine grenzenlose Energie. Sie fügen sich nicht der Armut. ... Die Armen liegen der Stadt nicht auf der Tasche. Die Juden haben ihr Versprechen gehalten, das sie zu Kolonialzeiten abgeben mußten, und sie kümmern sich um ihre Armen selbst. Es gibt keine jüdischen Führsorgeempfänger", schreibt Riis. "Die jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen sind bewundernswert. Ihre Synagogen sind das Zentrum der sozialen Energie der Gemeinden. Ich bin sicher, daß unsere Stadt keine besseren und loyaleren Bürger hat wie die Juden, arm oder reich - und keine, denen sich New York weniger zu schämen braucht."

Mit der Amerikanisierung der Einwanderer kam es jedoch immer wieder zu Spannungen. Etablierte jüdische Einwanderer, die es zu Reichtum gebracht hatten - etwa durch eigenes Geschäft oder Gewinne an der Börse - und somit in die gehobene Mittelschicht aufgestiegen waren und die Lower East Side weit hinter sich gelassen hatten, suchten sich von ihren Glaubensgenossen abzugrenzen. Sie wurden jedoch gleichzeitig selbst von der reichen christlichen Elite in New York geschmäht, die nicht auf Klassenunterschiede, sondern ausschließlich auf ihrem erworbenen Reichtum beruhte, und glaubte, um ihre Exklusivität behalten zu können, andere von sich weisen zu müssen. Dazu dienten ihnen die reichen jüdischen Familien.

Deutsche etablierte Juden gründeten 1901 das "Industrial Removal Office", eine philanthropische Organisation, das die osteuropäischen Einwanderer an Arbeitsplätze innerhalb Amerikas weiterleitete, sie finanziell unterstützte, bis sie auf eigenen Füßen stehen konnten. Die IRO leitete insgesamt 80.000 Juden in mehr als 1.000 amerikanische Städte und Dörfer in Mittelamerika. Viele jedoch wollten nach New York zurückkehren. Das Leben dort war zwar hart gewesen - aber es pulsierte.

III. 1930-1950

In den 20er Jahren waren 40 Prozent aller New Yorker Juden, und in ganz Amerika lebten 1925 mehr als 4 Millionen jüdische Bürger. New Yorks 1.6 Millionen Juden waren zahlreicher als in Europas bisher größten jüdischen Stadt, Warschau.
1909 wurde die "Kehillah of New York City" gegründet, eine jüdische Organisation, die sich um die Belange der riesigen jüdischen Gemeinde kümmern sollte, und sich aus Vertretern des "American Jewish Committee" und der "Orthodox Jewish Community" zusammensetzte. In den 14 Jahren ihrer Existenz kümmerte sich die Kehillah um das jüdische Schulwesen, um das orthodoxe Gemeindeleben, um die Sicherheit und das Wohlergehen der New Yorker Juden, und um den gerechten Umgang in der Bekleidungsindustrie. Zu dieser Zeit gab es in New York schon 1.127 Synagogen, von denen 94 Prozent orthodox waren und der Gottesdienst ausschließlich auf Hebräisch geleitet wurde. 4 Prozent waren konservativ und nur 2 Prozent reform orientiert.

Um 1900 waren 60 Prozent der New Yorker Juden ungelernte Arbeiter. 1925 lebten nur noch 15 Prozent der New Yorker Juden an der Lower East Side und schon 1930 - mit Beginn der großen Wirtschaftskrise - war die Hälfte aller New Yorker Juden im privaten Sektor beschäftigt, oder hatte sich selbstständig gemacht. Die jüdische Durchschnittsfamilie bestand aus Immigranten und deren Kinder, die in Amerika geboren waren. Keine andere Einwanderungsgruppe in New York hatte es je so schnell geschafft: 1934 arbeiteten 56 Prozent der New Yorker Juden und 74 Prozent der Jüdinnen als Büroangestellte. Sie waren in die Randgebiete New Yorks gezogen, "uptown" in die Bronx oder nach Brooklyn. Jedoch die Wirtschaftskrise traf auch sie.

Die Jungen standen an einem Scheidepunkt: Sie glaubten, das Ghetto ihrer Eltern, die Lower East Side, überwunden zu haben, drauf und dran zu sein, "es in Amerika zu etwas zu bringen" und endlich unbehelligt in die New Yorker Großstadtkultur eintauchen zu können. Statt dessen wurden sie Zeuge eines wachsendem Antisemitismus, der mit der zunehmenden Zahl der Arbeitslosen stärker wurde. Denn diese Arbeitslosen sahen sich plötzlich einer gewaltigen neuen Einwanderungswelle gegenüber: den Flüchtlingen aus Nazideutschland und Westeuropa, obwohl die in den 20er Jahren eingeführten Einwanderungsquoten sogar noch verschärft wurden. Jüdische Intellektuelle, Künstler, Architekten, Schauspieler, Professoren, Ärzte und Schriftsteller schafften es ins New Yorker Exil - sie gründeten 1936 die "Deutsche Akademie im Exil" sowie 1932 die deutsch-jüdische Zeitung "Aufbau". Insgesamt kamen rund 150.000 bis 190.000 deutsche Juden in dieser "Intellektuellen Immigration", wie sie genannt wurde, aus Europa nach New York, und siedelten sich an der Upper West Side und in Washington Heights, im Norden Manhattans, an - dem "Frankfurt am Hudson".

Die wachsende Skepsis der alteingesessenen New Yorker Juden in den 30er Jahren gegenüber Amerika - angesichts des Unwillens, gegen Hitler zu handeln - wich bald, mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, einer Euphorie. Die Welt der jüdischen Immigranten, die "Alte Welt", das Ghetto und die Lower East Side, waren endlich vollends zerstört in ihren Augen, und die New Yorker Juden fühlten sich als Amerikaner - als amerikanische Juden. Die Wirtschaftskrise und der Zusammenbruch Europas gaben ihnen neue Energie; sie schöpften aus den alten Traditionen, dem kommunalen Zusammenhalt, und sie eigneten sich die Kreativität von Roosevelts wirtschaftlichem "New Deal" an.

Um 1939 lebten insgesamt 5 Millionen Juden in Amerika, ein Drittel der jüdischen Weltbevölkerung. Rund 30 Prozent der New Yorker waren Juden. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges begann in New York ein Boom des Synagogenbaus: 150 neue Bethäuser wurden in der Stadt errichtet. Die Synagogen waren Gemeindezentrum, Lehrstube und Treffpunkt. 1950 gab es 2 Millionen Juden in New York: 40 Prozent aller amerikanischen Juden lebte jetzt in der Metropole.

IV. 1950 - 1990

In den 60er Jahren erreichte ein neue Einwanderungsgruppe New York: Juden aus Marokko und Ägypten. Gleichzeitig nahm die jüdische Bevölkerung in der Bronx und in Brooklyn ab. Während ältere, etablierte Juden nach Florida oder Kalifornien zogen, junge Familien die Außenbezirke New York vorzogen, füllten sich ihre alten Gemeinden - wie Washington Heights im Norden Manhattans - mit Neueinwanderern aus der Karibik, besonders aus Puerto Rico und der Dominikanischen Republik.

Bis heute leben in New York mehr Juden als in jeder anderen Stadt der Welt: 16 Prozent der Gesamtbevölkerung - ein Viertel der weißen, nicht-spanischen Bevölkerung Manhattans und der größte Prozentsatz in der Geschichte der Stadt. 1991 lag die Einwohnerzahl bei 1.4 Millionen Juden und sank 1999 auf 1.13 Millionen.

Dann geschah etwas Unvorhergesehenes: Eine "unsichtbare Einwanderung" hatte in den letzten Jahren begonnen, von der die jüdischen Gemeinden vollkommen überrascht wurden: Tausende Juden aus der ehemaligen Sowjetunion kamen in die Stadt. War die größte Einwanderungswelle Ende des letzten Jahrhundert aus Rußland und Polen gekommen, so stammten diese Einwanderer aus der gleichen Gegend. Der Kreis schloß sich.
Man schätzt, daß in den letzten 30 Jahren über eine halbe Million Juden aus Rußland und der Ukraine nach New York gekommen sind. Die russische Gemeinde bildet heute mehr als ein Viertel der gesamten New Yorker jüdischen Bevölkerung: 325.000 russische Juden leben heute in der Stadt, die meisten in Brighton Beach in Brooklyn, das auch das "Kleine Odessa" genannt wird. Die Mehrheit ist gut ausgebildet und jünger als 50 Jahre, hat aber keine jüdische Bildung. Die amerikanischen jüdischen Organisationen und Gemeinden in New York haben erst vor kurzem das ungeheure Potential in ihnen erkannt, die New Yorker Jüdische Gemeinde zu beleben, und man versucht erst jetzt, sie in führende Positionen innerhalb der jüdischen Organisationen einzubeziehen.

New Yorker Juden haben durchschnittlich ein höheres Einkommen als andere Bevölkerungsgruppen, gehören der gehobenen Mittelschicht an und sind besser ausgebildet. 80 Prozent aller jungen Juden besuchen ein College.

Aber es gibt auch Armut, besonders unter den orthodoxen kinderreichen Familien, die 14 Prozent der New Yorker Juden ausmachen. In Brooklyn leben zwei hassidische Gruppen, die Lubavitcher Juden in Crown Heights und die Satmar Juden in Williamsburg.

Einige ältere Juden leben auch heute noch an der Lower East Side - in Armut. Die Lower East Side, das Herz der osteuropäischen Einwanderung um die Jahrhundertwende, ist zu einem billigen Einkaufsstreifen geworden, wo alte jüdische "Bubbe Läden" neben schicken Boutiquen um ihr Überleben kämpfen. Die alten Synagogen sind teilweise verfallen oder werden als Kunst- und Kulturzentrum jungen Künstlern zugängig gemacht. Hier und da sieht man noch die alten hebräischen und jiddischen Inschriften an den Läden, und ein einsamer Gurkenverkäufer oder Schneider ist noch da. Aber das jüdische Leben spielt sich jetzt weniger auf der Straße, sondern innerhalb der jüdischen Organisationen und Gemeindezentren ab.

Die meistem jüdischen Organisationen in den USA haben ihren Hauptsitz in New York, wie das "American Jewish Committee" (AJC), der "World Jewish Congress", der "American Jewish Congress", der "United Jewish Appeal" und die "Anti Defamation League". Amerikanische Rabbiner erhalten ihre Ausbildung in New York. New Yorker Juden sind in sämtlichen politischen regionalen und überregionalen Zweigen vertreten, und mit dem Demokraten Ed Koch war von 1977 bis 1989 zum ersten Mal ein Jude Bürgermeister von New York. Die New Yorker Juden sind in der Mehrheit demokratisch eingestellt, und man spöttelt in der Stadt, sie "leben wie reiche Episkopalisten, und wählen wie arme Puertoricaner."

Dennoch: Die Jüdische Gemeinde New Yorks ist heute an einem Scheidepunkt angelangt: Die Gemeinde ist nicht homogen, sondern in Hunderte von kleinen Nachbarschaftsgemeinden aufgesplittert. Das Reformjudentum hat viele Juden von ihren religiösen Wurzeln gelöst und die Heiratsrate zwischen Juden und Christen ist in den letzten Jahren alarmierend angestiegen - einer Umfrage von 1991 zufolge handelt es sich um 52 Prozent.

Damals, zu Beginn des Jahrhunderts an der Lower East Side, wurden diese assimilierten, säkularen Juden "Luftmenschen" genannt. Heute nennt man sie die "Bagel and Lox Jews", junge Juden, deren Jiddischkeit sich auf "Matzeball Soup" und Gefilte Fisch beschränkt. Doch sie wollen jetzt mehr: New Yorker Juden fordern weniger die traditionelle, rein religiöse Bindung an ihre Gemeinden, sondern eine spirituelle Lebenshilfe - und die 91 Synagogen der Stadt werben eifrig um sie.

Noch in den 50 Jahren dienten Synagogen als reine Betstube und zur Vorbereitung für die Bar-Mitzvah. Jüdische Identität baute sich auf die Vergangenheit auf, auf das Stetl, die Lower East Side, den Holocaust. Die kulturelle, kommunale und soziale Bindung an das Judentum übernahm die Familie. Mit steigender Assimilierung ist die Familie nicht mehr fähig, diese Aufgabe zu übernehmen. Junge Juden, sowie Juden der "Baby Boomer Generation" - der nach ‘45 Geborenen - blicken in die Zukunft und streifen die Vergangenheit von sich ab. Der Holocaust ist kein Bindemittel mehr für sie und auch mit Israel identifizieren sie sich immer weniger: Nur 10 Prozent der New Yorker Juden hat jemals Israel besucht.

Ein neuer Trend wird sichtbar: Mehr und mehr jüdische Gemeindezentren werden in New York errichtet, für Junge, Ältere, für Eltern, Kinder, für Singles, Homosexuelle. Sie dienen als interreligiöser Treffpunkt, als Kulturzentrum, Kindertagesstätte, religiöse Betstube, Konzerthalle, Sportstadium, Lehrzentrum. Diese Gemeindezentren sind zurechtgeschnitten auf die jungen Juden, die seit den letzten Jahren zu Tausenden aus den Außenbezirken in die Metropole zurückkehren, angezogen von den Hunderten von Hi-Tech und Internet Firmen, die in Manhattan wie Pilze aus dem Boden schießen. Rabbiner besuchen täglich die Wall Street, geben Lehrseminare in den Mittagspausen der jungen, jüdischen Börsenmakler. Die Klassen sind brechend voll. Das Interesse am Judentum wächst, aber die internen Problem der Gemeinden in New York nehmen zu.

Die New Yorker Gemeinde, die für ihren philanthropischen Charakter bekannt war, kümmert sich jetzt lieber um sich selbst. Noch in den 60er Jahren waren Juden politisch aktiv, kämpften Seite an Seite mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und für andere soziale Belange, wie für das Wohlergehen Israels. Heute ist die jüdische Gemeinde in New York weit weniger daran interessiert, sich politisch zu engagieren. Noch vor weniger Jahren war das Hauptziel der Gemeinden, große, internationale Organisationen für die Belange in der Diaspora und Israel zu errichten. Heute zeichnen sie sich durch einen wachsenden Isolationismus aus.

Unlängst schlossen sich deshalb drei globale New Yorker Institutionen - der "United Jewish Appeal", der "Council of Jewish Federations" und der "United Israel Appeal" - zu einer Dachorganisation, dem "United Jewish Communities of North America" (UJC), zusammen. Hauptziel der neuen Organisation ist "Jewish Renaissance and Renewal", also eine Erneuerung innerhalb der New Yorker jüdischen Gemeinden. Der UJC wird sein Augenmerk nach innen richten; die automatische, manchmal wahllose finanzielle Unterstützung Israels und der Diaspora wird umstrukturiert werden. Die Diaspora soll dabei weiterhin gestärkt werden - alle drei Organisationen tragen jährlich 790 Millionen Dollar zusammen. Hauptziel wird jedoch das amerikanische Judentum selbst werden. Der UJC wird darüber hinaus dieses Jahr eine jüdische Volkszählung durchführen - die letzte demographische Studie wurde 1991 abgehalten - die die Zusammensetzung der amerikanischen Juden, und der New Yorker Jüdischen Gemeinde insbesondere, erfassen soll. Das Ergebnis wird Mitte 2001 bekannt gegeben werden, und wird bestimmen, wie die jüdischen Gemeinden in Zukunft unterstützt werden können.

Der "Jewish Community Relations Council" (JCRC) widmete im Oktober 1999 eine Podiumsdiskussion den Problemen, die im neuen Jahrtausend auf die New Yorker Jüdische Gemeinde zukommen werden. Man kam zu dem Schluß, daß eine breite Koalition zwischen den vielen ethnischen und religiösen Gruppierungen in New York von Nöten ist, die über die Belange der einzelnen Gruppen hinausgeht - wie Schulwesen, Gesundheitswesen, Wohnungen und Gewaltbekämpfung. Einige jüdische Gemeinden in New York beginnen jetzt, eine Vermittlerposition zwischen Schwarzen und Weißen, Chinesen und Koreanern, zwischen Juden und Muslimen und anderen ethnischen Gruppen einzunehmen. In vielen Fällen wird der interkulturelle Dialog direkt innerhalb der jüdischen Gemeinden ausgetragen. Vertreter aller Bevölkerungsschichten treffen sich in den Synagogen.

"Die jüdische Gemeinde in New York hängt immer noch an der Infrastruktur, die 1945 ins Leben gerufen wurde", meint Steven Solender, Präsident des UJC. "Wir müssen uns mehr um die Probleme außerhalb unserer Gemeinden kümmern, Allianzen bilden mit anderen ethnischen und religiösen Gruppen in der Stadt. Wir müssen wieder an den nationalen Debatten teilnehmen, wie Waffenkontrolle. Aber ich bin optimistisch. Nie in unserer Geschichte waren wir in einer besseren Position, anderen zu helfen. Wir können die Juden in der Diaspora beschützen, wir können sie ins Land holen. Unsere inneren Strukturen sind fest."

New York. Stadt der Juden, jüdische Stadt. Juden aller Generationen haben ihre Identität über ihre Verwurzelung in New York gefunden. Die Stadt hat aus den verwirrten, schutzlosen Einwanderern eine homogene Gruppe gemacht - und die amerikanischen Juden sind durch die Dynamik und die Lebenslust New Yorks zu einer selbstbewußten Einheit geworden.
New Yorker Juden wurden über die Jahre radikal in ihren Vorstellungen, reformiert in ihren Taten, bourgeois in ihrer Art - und jüdisch.

Diesen Artikel können Sie auch online, bei Hagalil.com, unter "Aktuelle Meldungen" lesen.


 Forum

Content

Resume

Links

 articles: German, English, Hebrew

 Raoul Wallenberg

 German-Jewish Dialogue