Was symbolisieren Hammer und Sichel?

Die Verbrechen des Kommunismus - neuere Untersuchungen

von Edward Kanterian

In Gerland, einem Altstadtviertel von Lyon, findet sich ein Nobelrestaurant mit dem Namen «àKGB». Auf der Karte stehen erlesene Gerichte wie «Revolution d'Octobre» oder «Congrès Soviet», und an den Wänden kleben kommunistische Plakate im futuristischen Stil der zwanziger Jahre. «Das alles ist kein politisches Bekenntnis, sondern nur ein Scherz», meint Thierry, der sympathische Manager des gut besuchten Etablissements. Es handelt sich um keinen Einzelfall. Ein gleichnamiges Restaurant steht in Kopenhagen, und mit dem Namen des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes schmücken sich manche Nachtlokale in der westlichen Welt. Natürlich weiss Thierry nicht, dass der KGB auf die Tscheka zurückgeht, Lenins und Stalins entsetzlichen Geheimdienst, der Tausende von Arbeitslagern betrieb und darin der Gestapo und der SS glich. Ein «Gestapo-Nightclub» mit SS-Abzeichen an der Wand oder einem «Hitlerputsch» auf dem Speiseplan wäre natürlich nirgends in der freien Welt auch nur denkbar. Die ästhetisierten Insignien des Kommunismus dagegen gelten als «cool» und «witzig», obwohl auch sie für unsägliches Leid und millionenfachen Tod im 20. Jahrhundert stehen.

Solche Gedankenlosigkeit kommt nicht von ungefähr. Vielmehr ist sie Indiz für die tiefergehende Asymmetrie zwischen dem Umgang mit den Verbrechen des Kommunismus und dem Umgang mit denen des Nazismus. Ansatzweise beklagte man diese Asymmetrie schon im deutschen Historikerstreit, allerdings verband mancher damit die Absicht, Revisionismus zugunsten Hitlers zu betreiben. Dennoch ist an dieser Klage etwas dran. Seit der Veröffentlichung des «Schwarzbuchs des Kommunismus» mehren sich nämlich seriöse Publikationen, die den Kommunismus auf eine Stufe mit dem Nazismus stellen, ohne damit einer neuen Rechten oder der Relativierung der Shoah das Wort zu reden.

Dokumentation, Vergleich, Urteil

Dokumentation, Vergleich, Urteil: In dieser Reihenfolge müsste die Aufarbeitung des Kommunismus idealerweise stattfinden. Allerdings scheinen wir noch weit davon entfernt, obwohl doch manche der schlimmsten kommunistischen Untaten, etwa die gesteuerte ukrainische Hungersnot von 1937, vor dem Holocaust geschahen und der Kommunismus bei geschätzten 85 bis 100 Millionen Toten global betrachtet als die Ideologie mit dem grösseren Blutzoll gelten muss. Wie Martin Malia, führender Sowjetologe, in einem kürzlich in der US-Zeitschrift «The National Interest» erschienenen Artikel feststellt, sind die Unterschiede in der Wahrnehmung und Aufarbeitung des Holocaust und des Gulag aber so gewaltig und vielgestaltig, dass ein historischer Vergleich noch kaum möglich ist. Er führt verschiedene Gründe dafür an. Zum einen kam die NS-Diktatur durch die Kriegsniederlage sofort auf die Anklagebank der Alliierten, d. h. einer externen Instanz. Eine solche Zäsur gab es für den Kommunismus nicht, denn die Sowjetunion endete 1991 aufgrund eines internen Systemwechsels, der ökonomischen Problemen der Gegenwart geschuldet war, nicht aber einer Aufarbeitung von zum Teil lange zurückliegenden Verbrechen. Zum anderen wurden nur die Schandtaten der Nazis durch eine zunehmende «Dramatisierung», wie z. B. in zahlreichen Filmen oder Büchern, einem breiten Publikum im Westen bekannt. Der noch so bemerkenswerte Erfolg von Solschenizyns «Archipel Gulag» in den siebziger Jahren blieb dagegen ein Einzelfall.

Den dritten Faktor macht Malia innerhalb seiner eigenen Disziplin aus. Die Holocaust- und NS-Forschung nahm im Land der Täter ihren Anfang, bezweifelte nie die Schuld der Naziideologie und verfügte über die relevanten Archive. Die Historiographie des Kommunismus dagegen besass von jeher eine ambivalente Haltung. Zum grössten Teil im Westen entstanden und ohne Zugang zu Quellenmaterial, wurde sie durchaus auch von Wissenschaftern mit sozialistischen Sympathien vorangetrieben, die ihre Forschung als Apologie einer real existierenden Alternative zum Kapitalismus betrachteten. Solange man aber nicht merke, dass mit dem Fall des sowjetischen Kommunismus der Sozialismus selbst am Ende sei, eine These, für die Malia schon in seinem Hauptwerk «Vollstreckter Wahn. Russland 1917-1991» (dt. 1999) eintrat, werde der Gulag nicht als das Grossverbrechen, das er sei, denunziert, sondern im Spannungsfeld der Links-Rechts-Dichotomie weiter instrumentalisiert werden. Dies aber sei ein Kapitalfehler, denn gewisse «moralische Urteile sind für die Geschichtswissenschaft unabdingbar». Damit also auf Dokumentation Vergleich und Urteil folgen können, sollte man nicht nur die Archive des Ostens erschliessen, sondern die Kommunismus-Historiographie selbst methodologisch ändern. Malias konkreter Ratschlag an seine Kollegen lautet daher: Lernen wir von den moralischen Prämissen der Holocaust-Forschung.

Der besagten Asymmetrie widmet sich auch ein Büchlein des französischen Historikers Alain Besançon. Der Schüler von Raymond Aron ist im deutschen Sprachraum leider wenig bekannt, obwohl er seit seiner Monographie über die intellektuellen Grundlagen des Leninismus (1977) als scharfsichtiger Analyst des sowjetischen Elends gilt. Wie Malia beklagt auch Besançon die Verharmlosung dieses Elends. Doch anders als seinem vorsichtigeren amerikanischen Kollegen genügt ihm eine summarische Dokumentation, um Pierre Chaunus These zu bestätigen, dass Kommunismus und Nazismus zweieiige Zwillinge gewesen seien. Sie seien gleich kriminell in ihrer destruktiven Kraft gewesen, die sich aus dem heilsgeschichtlichen Versuch der definitiven Abschaffung des «Bösen» ergeben habe. Die Destruktivität habe drei Aspekte gehabt: die Vernichtung des Gegners, der Moral und des politischen Lebens. Worin die beiden Totalitarismen sich vor allem unterschieden, sei zum einen die selbst von Stalin nicht erreichte Monstrosität von Auschwitz, zum anderen die Nachgeschichte: die (jüdische und christliche) Erinnerung an die Shoah, die mit der völligen Amnesie des Gulag kontrastiert. Auch Besançon beklagt, diese Amnesie bedeute ein moralisches Versagen, und er drückt seine Hoffnung aus, auch die kommunistischen Verbrechen würden allmählich Teil des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit werden.

Redlichkeit

Doch nützt alle Hoffnung wenig, wenn die Fakten nicht genau dokumentiert sind. Einen eminent wichtigen Beitrag in diese Richtung leistet das kürzlich erschienene Buch von Anne Applebaum. «Gulag. A History» ist nichts Geringeres als die erste Gesamtdarstellung des eigentlichen Gulag, d. h. des sowjetischen Arbeitslagersystems, das mit einer der ersten Direktiven Lenins 1918 seinen Anfang nahm und erst unter Gorbatschew wirklich endete (NZZ 28. 6. 03). Auch Applebaum gibt zu bedenken, es sei unverhältnismässig, den Kommunismus zu verniedlichen. Tatsächlich entschloss sie sich, das Buch zu schreiben, nachdem sie entrüstet miterlebt hatte, wie ahnungslose westliche Touristen kommunistische «Souvenirs» auf der Prager Karlsbrücke kauften.

Noch fehlen entsprechende Monographien für die restlichen ex-kommunistischen Länder. Das «Schwarzbuch» selbst beschränkte sich 1997 auf eine erste Opferbilanz der drei schlimmsten Regime: Stalins, Maos und Pol Pots. Als das Buch in Deutschland, Rumänien und Estland herauskam, wurde es jeweils durch ein Kapitel aus der Feder einheimischer Experten ergänzt, die den Gulag im eigenen Lande dokumentierten. Diese Kapitel wurden nun vom Herausgeber des «Schwarzbuchs», Stéphane Courtois, zusammen mit den Vorworten zur amerikanischen (Martin Malia), russischen (Alexandre Iakovlev) und deutschen (Joachim Gauck) Ausgabe sowie neuen Artikeln über Bulgarien, Griechenland und Italien in einem Band versammelt. Auch Courtois, der einen kritischen Rückblick auf die «Schwarzbuch»-Debatte beisteuert, ist von der westlichen, vor allem auch französischen Sorglosigkeit und Frivolität gegenüber den sozialistischen Verbrechen betroffen. Das neue Buch mit dem ironischen Titel «Du passé faisons table rase!», einem Vers aus der «Internationalen», soll dem gegensteuern.

Courtois selbst war früher Sozialist. Er rückte von den alten Idealen ab, als ihm die Kosten des kommunistischen Experiments klar wurden. Solche Redlichkeit ist in Westeuropa leider noch immer selten, sind sich doch nicht einmal ehemalige Marxisten der epochalen Bedeutung des Gulag und ihrer eigenen moralischen Schuld bewusst. Eine Haltung wie diejenige Jean-Paul Sartres, der in den fünfziger Jahren schrieb, die stalinistischen Lager zu verurteilen, bedeute, den Kapitalismus und Amerika stillschweigend zu unterstützen, wird wohl noch immer nicht wenigen verzeihlich erscheinen.

Eine Ausnahme ist nun aus Grossbritannien zu vermelden. Der Schriftsteller Martin Amis rechnet in «Koba the Dread» mit der eigenen Generation ab, die nach dem Krieg Berichte über Stalins Greuel im Stile Sartres von sich wies. Amis' Buch ist zwar etwas selbstgerecht, weil er mit anderen abrechnet, nicht mit sich selbst, und zudem prätentiös, weil er seine leicht amateurhafte Darstellung des Gulag als grosse Entdeckung präsentiert, doch die Stossrichtung ist die richtige, wie man an den gereizten Reaktionen erkennen kann, die seine Polemik innerhalb linker englischer Kreise zeitigte. Die zentrale Frage seines Buches geht jedoch nicht nur seine Generationskollegen oder Lyoneser Restaurantbesitzer an: Kann man mit dem Kommunismus überhaupt noch leichtfertig umgehen? Oder wie es Applebaum formuliert: Wieso stösst uns das Hakenkreuz, Symbol eines Massenmordes, ab, während Hammer und Sichel, Symbole eines anderen Massenmordes, vielen eher sympathisch vorkommen?


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