Genua - Stilleben mit Tränengaskartusche

Eine Reise zur Urlaubszeit

Wie eine Gruppe junger Globalisierungsgegner nach Genua fuhr

von Andreas A. Becker (Freitag, die Ost-West-Wochenzeitung, 27.7.2001)

Strömender Regen. Seit Stunden schon. Und das mitten im italienischen Sommer. Jeder wusste, die Fahrt nach Genua würde kein Erholungsurlaub sein. Aber mit einem solchen Regen hat keiner gerechnet. Bevor das erste Zelt auf dem matschigen Boden aufgeschlagen steht, sind die jungen Aktivisten - meist Schüler oder Studenten - nass bis auf die Knochen. Mit mehreren Bussen, gechartert von der Vereinigung Attac, sind sie aus Köln, Hamburg, Berlin und anderswo gekommen. Mehr als 24 Stunden lang haben sie endlose Wartezeiten bei Grenzkontrollen oder Gepäckdurchsuchungen über sich ergehen lassen und hilflos mit ansehen müssen, wie sechs Mitreisenden wegen nicht näher ausgeführter Vergehen bei früheren Demonstrationen die Ausreise verweigert wurde. Was hatten sie nicht alles geplant für diesen Fall: Spontane Demo, Blockade der Grenzübergänge, bürgerlichen Ungehorsam gegen die Schikanen der Polizei. Doch die Realität sieht wieder einmal anders aus.

In einer Art Motivationsrede vor der Abfahrt hatte Stefan aus Berlin noch betont, wie wichtig es sei, »die normale Bevölkerung, die Arbeiter« für die gemeinsame Sache zu gewinnen. Einige Stunden später, als es an der Schweizer Grenze gilt, die Durchfahrt zu blockieren, wenn nicht alle ausreisen dürfen, versagt ihnen ausgerechnet der Busfahrer die Solidarität. »Wenn die Polizei sagt, ich soll weiterfahren, dann fahr ich auch.« Und überhaupt geht ihm das »endlose Rumjelaber« der jungen Aktivisten gewaltig gegen den Strich. So entscheiden sie sich fürs Weiterfahren - auch ohne die anderen. Nicht alle sind mit diesem pragmatischen Entschluss glücklich, doch hätte man das gemeinsame Ziel, die große Demo in Genua, wirklich gefährden sollen für ein wirkungsloses Zeichen der Solidarität?

Die Frage geht wohl vielen durch den Kopf, bevor sie in ihren überfüllten Zelten einschlafen. Die 21jährige Celim beschäftigt allerdings eher, ob es wirklich eine gute Idee war, nach Genua zu fahren. Wie alle anderen ist sie gekommen, um friedlich zu protestieren. Warum sprechen dann die Erfahreneren ständig davon, wie man sich gegen Tränengas schützen könne? Dass man sich bei Attacken unterhaken solle, um Massenpanik zu vermeiden? Und hat nicht Christian, der bereits in Prag (IWF-Tagung im September 2000 - die Red.) dabei war, gesagt, er habe Angst vor der Gewalt der Polizei? Fragen über Fragen, und endloser Regen über dem kleinen Park am Meer, der für die nächsten Tage ein Campingplatz ist.

Am Morgen ist das alles vergessen. Die Sonne scheint, einige Anwohner bringen Brot vorbei. Transparente werden bemalt. Niemand ahnt, dass nur 24 Stunden später, beim nächsten Aufwachen im Camp, die ersten Zeitungen herumgereicht werden mit den Bildern des toten Carlo Giuliani, der ebenso jung war wie die meisten hier. Carlo, der in einer Blutlache liegt, in den Kopf geschossen von einem noch jüngeren Polizisten und überrollt von einem Land Rover der Carabinieri.

An diesem frühen Freitagmorgen ist alles noch friedlich in Genua - Gewalt, Zerstörung, Tod sind allenfalls abstrakte Größen. Es ist der Tag der »direkten Aktion«. Kleinere, nicht genehmigte Demonstrationen ziehen durch die Stadt. Einige spielen Straßentheater, andere wollen mit Luftballons und Seifenblasen symbolisch gegen die Rote Zone protestieren, gegen die meterhohen Betonmauern und Eisenzäune, die weite Teile der Innenstadt abriegeln. Viele aus dem Camp schließen sich einem bunten Zug von ein paar tausend Menschen an, die gewaltfrei direkt vor diesen Absperrungen demonstrieren wollen. Sie müssen erfahren, dass die Carabinieri keinen Sinn für Symbolik haben und bereit sind, von Anfang an hart durchzugreifen. Auf Wasserwerfer folgt Tränengas, und auch Demo-Neulinge begreifen, dass ein um Mund und Nase geschlungenes Tuch und eine Chlorbrille zumindest etwas Schutz bieten gegen den beißenden Schmerz. Die Demon-stranten werden von der Polizei zurückgetrieben und später mehrfach eingekesselt, bevor sie schließlich den Abzug durch ein Spalier aus Carabinieri in Kampfausrüstung aushandeln können. ›Nehmt die Fahnen runter, bloß keine Provokation‹, sagten uns die Ordner, als wir durch die Polizeigasse mussten. Trotzdem haben einige grundlos mit ihren Knüppeln zugeschlagen. Wirklich beängstigend«, erzählt Karin, eine Studentin aus Köln.

Der Corso Torino und die Straßen um den Bahnhof Brignole bieten jene Bilder der Verwüstung, die später um die Welt gehen. Zerstörte Bankfilialen, auf der Straße verstreute Computer, zersplitterte Schaufenster, brennende Müllcontainer. Stundenlang tobt hier die Schlacht zwischen Carabinieri und gewaltbereiten Demonstranten, die als »Schwarzer Block« bezeichnet werden. Es ist ein unübersichtlicher Straßenkampf, ein Inferno aus Tränengas und Rauchwolken, Polizeiknüppeln und Eisenstangen, Molotow-Cocktails und Steinen. Das Bersten und Knallen, das Rufen und Schreien wird nur übertönt von den Sirenen der Krankenwagen und dem Dröhnen der allgegenwärtigen Hubschrauber. Im Scharmützel verschwindet jeder Sinn, und viele der randalierenden Demonstranten wirken mit ihrer selbstgebauten Schutzausrüstung, den Arm- und Beinschonern, Helmen und Gasmasken, wie das Spiegelbild der ihnen so verhassten Polizei.

Zurück bleibt das ausgebrannte Skelett eines Carabinieri-Manschaftswagens. Der Boden ist übersät von Tränengaskartuschen, Scherben und Schutt. Dazwischen liegt ein Pornoheft. Um 17.45 Uhr, nur ein paar hundert Meter entfernt, wird Carlo Giuliani bei einem ähnlichen Gemenge erschossen.

Im Convergence Center, dem zentralen Treffpunkt der Demonstranten, verbreitet sich die Nachricht vom Tod Giulianis wie ein Lauffeuer. Anfänglich ist sogar von drei Toten die Rede. Bei ihren direkten Aktionen haben viele der Demonstranten das harte Vorgehen der Polizei selbst zu spüren bekommen, diese Erfahrung lässt jetzt kaum Raum für differenzierte Sichtweisen. Viele haben den Eindruck, als ob auch sie jeden Moment Opfer von Polizeigewalt werden könnten. Ist das Convergence Center noch sicher? Können wir unbehelligt zu den Camps zurück? Fragen wie diese sind kaum Ausdruck einer Paranoia. Das soll sich während der großen Demonstration am Samstag zeigen.

Oliver aus Köln ist beeindruckt. Eine solche Demonstration hat er noch nie gesehen. Etwa 200.000 Menschen sind gekommen. »Die Welt ist keine Ware«, skandieren sie, und beim Auftauchen von Polizeihubschraubern immer wieder: »Assassini!« - Wie zum Beweis, dass es hier nicht nur um die Anliegen einiger Aktivisten geht, stehen viele Bewohner der Stadt auf ihren Balkonen, winken den Demonstranten zu und sorgen in der Hitze für etwas Abkühlung, indem sie eimerweise Wasser in die Menge schütten. Mit den anderen aus seiner Kölner Gruppe hat Oliver seinen Platz im hinteren Teil der Demonstration, die sich langsam über die Uferpromenade schiebt. Plötzlich stoppt der Zug, die Demonstration scheint geteilt worden zu sein, von den vorderen Blöcken ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen Polizei, die in mehreren Reihen die Uferstraße abriegelt. Ordner geben über Megafon durch, einige Autonome versuchten, sich unter die Demonstranten zu mischen. Man solle sich unterhaken und sie so aus der Demo herausdrängen - doch es geht nicht weiter. Statt dessen versinkt die Demonstration in einem Nebel aus Tränengas. Wieder dröhnen die Rotoren der Hubschrauber. Ein Trupp Carabinieri macht sich bereit, eine Seitenstraße hinaufzustürmen. Ein einzelner Mann mit bloßem Oberkörper stellt sich ihnen entgegen: »Was soll das alles? Das hat doch keinen Sinn!« Die Polizisten ignorieren ihn, rennen links und rechts an ihm vorbei, gefolgt von Mannschafts- und Panzerwagen. Der Mann bleibt allein zurück, hemmungslos schluchzend. »Wir können doch nicht immer davon laufen. Sonst werden wir das noch unser ganzes Leben so machen.«

Das Gros der Demonstranten hat inzwischen den Rückzug angetreten, demoralisiert und eingeschüchtert. Für Zehntausende, darunter auch die Gruppe aus Köln, ist es das vorzeitige Ende ihres friedlichen Protestes.

Die Heimfahrt in der Nacht verläuft reibungslos. Es gibt weder Passkontrollen noch Gepäckdurchsuchungen, eine prompte Abfertigung. Europa ist wieder grenzenlos. Oliver schlägt vor, erst am Morgen über die Ereignisse der vergangene Tage zu reden. Und dann im Scherz: »Vielleicht können wir ja noch ein Lied singen.« Doch da ist der Busfahrer vor: »Also, dass eins klar is. Jesungen wird hier nich in meinem Bus...!«


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