Strömender Regen. Seit Stunden schon. Und das mitten im italienischen Sommer. Jeder wusste, die Fahrt nach Genua würde kein Erholungsurlaub sein. Aber mit einem solchen Regen hat keiner gerechnet. Bevor das erste Zelt auf dem matschigen Boden aufgeschlagen steht, sind die jungen Aktivisten - meist Schüler oder Studenten - nass bis auf die Knochen. Mit mehreren Bussen, gechartert von der Vereinigung Attac, sind sie aus Köln, Hamburg, Berlin und anderswo gekommen. Mehr als 24 Stunden lang haben sie endlose Wartezeiten bei Grenzkontrollen oder Gepäckdurchsuchungen über sich ergehen lassen und hilflos mit ansehen müssen, wie sechs Mitreisenden wegen nicht näher ausgeführter Vergehen bei früheren Demonstrationen die Ausreise verweigert wurde. Was hatten sie nicht alles geplant für diesen Fall: Spontane Demo, Blockade der Grenzübergänge, bürgerlichen Ungehorsam gegen die Schikanen der Polizei. Doch die Realität sieht wieder einmal anders aus.
In einer Art Motivationsrede vor der Abfahrt hatte Stefan aus Berlin noch betont, wie wichtig es sei, »die normale Bevölkerung, die Arbeiter« für die gemeinsame
Sache zu gewinnen. Einige Stunden später, als es an der Schweizer Grenze
gilt, die Durchfahrt zu blockieren, wenn nicht alle ausreisen dürfen,
versagt ihnen ausgerechnet der Busfahrer die Solidarität. »Wenn die
Polizei sagt, ich soll weiterfahren, dann fahr ich auch.« Und überhaupt
geht ihm das »endlose Rumjelaber« der jungen Aktivisten gewaltig gegen den
Strich. So entscheiden sie sich fürs Weiterfahren - auch ohne die anderen.
Nicht alle sind mit diesem pragmatischen Entschluss glücklich, doch hätte
man das gemeinsame Ziel, die große Demo in Genua, wirklich gefährden
sollen für ein wirkungsloses Zeichen der Solidarität?
Die Frage
geht wohl vielen durch den Kopf, bevor sie in ihren überfüllten Zelten
einschlafen. Die 21jährige Celim beschäftigt allerdings eher, ob es
wirklich eine gute Idee war, nach Genua zu fahren. Wie alle anderen ist
sie gekommen, um friedlich zu protestieren. Warum sprechen dann die
Erfahreneren ständig davon, wie man sich gegen Tränengas schützen könne?
Dass man sich bei Attacken unterhaken solle, um Massenpanik zu vermeiden?
Und hat nicht Christian, der bereits in Prag (IWF-Tagung im September 2000
- die Red.) dabei war, gesagt, er habe Angst vor der Gewalt der Polizei?
Fragen über Fragen, und endloser Regen über dem kleinen Park am Meer, der
für die nächsten Tage ein Campingplatz ist.
Am Morgen ist das
alles vergessen. Die Sonne scheint, einige Anwohner bringen Brot vorbei.
Transparente werden bemalt. Niemand ahnt, dass nur 24 Stunden später, beim
nächsten Aufwachen im Camp, die ersten Zeitungen herumgereicht werden mit
den Bildern des toten Carlo Giuliani, der ebenso jung war wie die meisten
hier. Carlo, der in einer Blutlache liegt, in den Kopf geschossen von
einem noch jüngeren Polizisten und überrollt von einem Land Rover der
Carabinieri.
An diesem frühen Freitagmorgen ist alles noch
friedlich in Genua - Gewalt, Zerstörung, Tod sind allenfalls abstrakte
Größen. Es ist der Tag der »direkten Aktion«. Kleinere, nicht genehmigte
Demonstrationen ziehen durch die Stadt. Einige spielen Straßentheater,
andere wollen mit Luftballons und Seifenblasen symbolisch gegen die
Rote Zone protestieren, gegen die meterhohen Betonmauern und
Eisenzäune, die weite Teile der Innenstadt abriegeln. Viele aus dem Camp
schließen sich einem bunten Zug von ein paar tausend Menschen an, die
gewaltfrei direkt vor diesen Absperrungen demonstrieren wollen. Sie müssen
erfahren, dass die Carabinieri keinen Sinn für Symbolik haben und bereit
sind, von Anfang an hart durchzugreifen. Auf Wasserwerfer folgt Tränengas,
und auch Demo-Neulinge begreifen, dass ein um Mund und Nase geschlungenes
Tuch und eine Chlorbrille zumindest etwas Schutz bieten gegen den
beißenden Schmerz. Die Demon-stranten werden von der Polizei
zurückgetrieben und später mehrfach eingekesselt, bevor sie schließlich
den Abzug durch ein Spalier aus Carabinieri in Kampfausrüstung aushandeln
können. ›Nehmt die Fahnen runter, bloß keine Provokation‹, sagten uns die
Ordner, als wir durch die Polizeigasse mussten. Trotzdem haben einige
grundlos mit ihren Knüppeln zugeschlagen. Wirklich beängstigend«, erzählt
Karin, eine Studentin aus Köln.
Der Corso Torino und die
Straßen um den Bahnhof Brignole bieten jene Bilder der Verwüstung, die
später um die Welt gehen. Zerstörte Bankfilialen, auf der Straße
verstreute Computer, zersplitterte Schaufenster, brennende Müllcontainer.
Stundenlang tobt hier die Schlacht zwischen Carabinieri und gewaltbereiten
Demonstranten, die als »Schwarzer Block« bezeichnet werden. Es ist ein
unübersichtlicher Straßenkampf, ein Inferno aus Tränengas und Rauchwolken,
Polizeiknüppeln und Eisenstangen, Molotow-Cocktails und Steinen. Das
Bersten und Knallen, das Rufen und Schreien wird nur übertönt von den
Sirenen der Krankenwagen und dem Dröhnen der allgegenwärtigen
Hubschrauber. Im Scharmützel verschwindet jeder Sinn, und viele der
randalierenden Demonstranten wirken mit ihrer selbstgebauten
Schutzausrüstung, den Arm- und Beinschonern, Helmen und Gasmasken, wie das
Spiegelbild der ihnen so verhassten Polizei.
Zurück bleibt das
ausgebrannte Skelett eines Carabinieri-Manschaftswagens. Der Boden ist
übersät von Tränengaskartuschen, Scherben und Schutt. Dazwischen liegt ein
Pornoheft. Um 17.45 Uhr, nur ein paar hundert Meter entfernt, wird Carlo
Giuliani bei einem ähnlichen Gemenge erschossen.
Im
Convergence Center, dem zentralen Treffpunkt der Demonstranten,
verbreitet sich die Nachricht vom Tod Giulianis wie ein Lauffeuer.
Anfänglich ist sogar von drei Toten die Rede. Bei ihren direkten Aktionen
haben viele der Demonstranten das harte Vorgehen der Polizei selbst zu
spüren bekommen, diese Erfahrung lässt jetzt kaum Raum für differenzierte
Sichtweisen. Viele haben den Eindruck, als ob auch sie jeden Moment Opfer
von Polizeigewalt werden könnten. Ist das Convergence Center noch
sicher? Können wir unbehelligt zu den Camps zurück? Fragen wie diese sind
kaum Ausdruck einer Paranoia. Das soll sich während der großen
Demonstration am Samstag zeigen.
Oliver aus Köln ist beeindruckt.
Eine solche Demonstration hat er noch nie gesehen. Etwa 200.000 Menschen
sind gekommen. »Die Welt ist keine Ware«, skandieren sie, und beim
Auftauchen von Polizeihubschraubern immer wieder: »Assassini!« - Wie zum
Beweis, dass es hier nicht nur um die Anliegen einiger Aktivisten geht,
stehen viele Bewohner der Stadt auf ihren Balkonen, winken den
Demonstranten zu und sorgen in der Hitze für etwas Abkühlung, indem sie
eimerweise Wasser in die Menge schütten. Mit den anderen aus seiner Kölner
Gruppe hat Oliver seinen Platz im hinteren Teil der Demonstration, die
sich langsam über die Uferpromenade schiebt. Plötzlich stoppt der Zug, die
Demonstration scheint geteilt worden zu sein, von den vorderen Blöcken ist
nichts mehr zu sehen. Stattdessen Polizei, die in mehreren Reihen die
Uferstraße abriegelt. Ordner geben über Megafon durch, einige Autonome
versuchten, sich unter die Demonstranten zu mischen. Man solle sich
unterhaken und sie so aus der Demo herausdrängen - doch es geht nicht
weiter. Statt dessen versinkt die Demonstration in einem Nebel aus
Tränengas. Wieder dröhnen die Rotoren der Hubschrauber. Ein Trupp
Carabinieri macht sich bereit, eine Seitenstraße hinaufzustürmen. Ein
einzelner Mann mit bloßem Oberkörper stellt sich ihnen entgegen: »Was soll das alles? Das hat doch keinen Sinn!« Die Polizisten ignorieren ihn,
rennen links und rechts an ihm vorbei, gefolgt von Mannschafts- und
Panzerwagen. Der Mann bleibt allein zurück, hemmungslos schluchzend. »Wir
können doch nicht immer davon laufen. Sonst werden wir das noch unser ganzes Leben so machen.«
Das Gros der Demonstranten hat inzwischen den Rückzug angetreten, demoralisiert und eingeschüchtert. Für Zehntausende, darunter auch die Gruppe aus Köln, ist es das vorzeitige Ende ihres friedlichen Protestes.
Die Heimfahrt in der Nacht verläuft reibungslos. Es gibt weder Passkontrollen noch
Gepäckdurchsuchungen, eine prompte Abfertigung. Europa ist wieder grenzenlos. Oliver schlägt vor, erst am Morgen über die Ereignisse der vergangene Tage zu reden. Und dann im Scherz: »Vielleicht können wir ja noch ein Lied singen.« Doch da ist der Busfahrer vor: »Also, dass eins klar is. Jesungen wird hier nich in meinem Bus...!«
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