FREIE BAHN NACH BAGDAD!

Wie ein Jahrhundertprojekt an der
internationalen Politik scheiterte

Von Wolfgang Ludwig (Wiener Zeitung, 16.03.2001)

Eine Bahnverbindung von Europa über Kleinasien nach Bagdad und Basra am Schatt el-Arab! Von dort ist es über den Persischen Golf nur noch ein Katzensprung nach Indien. Um wie viel schneller, sicherer und bequemer wäre ein solcher Reiseweg gegenüber der herkömmlichen Schiffsreise rund um Afrika!
Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wälzten die Engländer derartige Pläne, doch als 1869 der Suezkanal eröffnet wurde, verloren sie aus verständlichen Gründen das Interesse.
Es war nun das Osmanische Reich, das die strategische und wirtschaftliche Bedeutung eines Bahnnetzes für die Entwicklung des Landes erkannte. Jedoch war die finanzielle Situation des Staates katastrophal und ließ die Verwirklichung derartiger Pläne nicht zu.

Die "Anatolische Bahn"

1875 war das Osmanische Reich bankrott, sämtliche Schuldenzahlungen wurden eingestellt. Der Krimkrieg und diverse innere Verwicklungen hatten den "kranken Mann am Bosporus" die letzten Ressourcen gekostet. Es war daher völlig unmöglich, Investoren für den Bahnbau aufzutreiben. Erst als ein internationales Gremium, dem sogar die Verfügung über Tabak-, Salz- und Spirituosensteuern sowie einige Zolleinnahmen übertragen wurde, die finanziellen Belange in die Hand nahm, besserte sich die Lage, und das Vertrauen potentieller Geldgeber wurde größer. Sultan Abdul Hamid II. konnte nun seine Bahnprojekte wieder aufnehmen. Vorerst ging es nur um die "Anatolische Eisenbahn", die das westliche Anatolien von Konstantinopel bis Ankara bzw. Konya erschließen sollte.
Zunächst erhielt, mangels anderer Interessenten, die Deutsche Bank im Jahr 1888 von Sultan Abdul Hamid eine Konzession für den Bau einer Bahn von Izmit (von Konstantinopel bis Izmit gab es bereits eine kurze Bahnlinie) nach Angora (Ankara). Dieser Konzessionsvergabe waren lange Überlegungen und schwere Bedenken der Bank, insbesondere des Vorstandssprechers Georg von Siemens, über das damit verbundene finanzielle und politische Risiko vorausgegangen. Eine Kilometergarantie der türkischen Regierung sollte das finanzielle Risiko des Betriebs der Bahn minimieren.

Riskantes Unternehmen

Als zusätzliche Sicherheit verpfändete der Sultan die Getreidesteuereinnahmen ganzer Regionen an die Deutsche Bank. Diese zahlreichen Verpfändungen von Staatseinnahmen an das Ausland ließen die Einnahmen des Sultans empfindlich schrumpfen, ohne dass dieser bereit gewesen wäre, seine Ausgabenpolitik zu überdenken.
Bezüglich Mitbeteiligungen namhafter anderer Institute an der riskanten Sache wurde die Deutsche Bank aber weitgehend enttäuscht. Carl Fürstenberg, ein potentieller Financier und Chef der Berliner Handelsgesellschaft, schrieb nach einer Erkundung der Lage, er hoffe, an dem Ort, an dem die alte Karawanenstraße, die die Bahn ersetzen sollte, das Meer berührte, "einen fortgesetzten Zug von umfangreichen Karawanen eintreffen zu sehen. Ich musste aber einige Zeit warten, bis auch nur die ersten vereinzelten Kamele mit ihren Warenballen sichtbar wurden. Das alles machte auf mich einen so weltentlegenen und von europäischen Wirtschaftsbegriffen so weit abweichenden Eindruck, dass der (...) Enthusiasmus stark abflaute".
Carl Fürstenberg kombinierte diese Erkundungsmission übrigens mit seiner Hochzeitsreise. Was seine Frau dazu sagte, ist nicht überliefert.
Trotz dieser wenig ermutigenden Vorzeichen wurde mit dem Bau 1890 begonnen. Erkrankungen, Seuchen und Raubüberfälle machten den Arbeitern der ausführenden Firma Holzmann schwer zu schaffen. Der Anführer einer der Räuberbanden wurde in einer verzweifelten Aktion zum Vorsteher einer Station ernannt, worauf die Überfälle in dieser Region schlagartig aufhörten.

Der volkswirtschaftliche Nutzen für Deutschland stellte sich jedoch bald als beachtlich heraus: Zwei Drittel der Baustoffe sowie der Großteil des rollenden Materials kamen aus Deutschland. Ende 1892 wurde Ankara erreicht, bis 1896 erfolgte der Weiterbau eines Abzweigers nach Konya.
Noch vor Fertigstellung der Anatolischen Bahn zeigte die türkische Seite großes Interesse an einem Weiterbau der Bahn nach Bagdad, einerseits zur besseren Erschließung des eigenen Landes, andererseits aus militärischen und auch aus politischen Gründen, um durch Schaffung eines Transitweges über Bagdad nach Indien dem englisch dominierten Seeweg Konkurrenz zu machen. Wieder wurden zunächst die Deutschen angesprochen, die sich vorerst zierten, war doch dieses Unterfangen das weitaus größere und risikoreichere. Schließlich entschlossen sie sich aber doch zum Weiterbau.

Bis zur Konzessionsvergabe war es aber noch ein mühevoller Weg. Wieder mussten finanzielle Garantien gegeben, technische Probleme, die das Gelände stellte, gelöst und diplomatische Verwicklungen aus der Welt geschafft werden. Russland war mit einem Weiterbau über Ankara und Ostanatolien nach Mesopotamien nicht einverstanden und drohte mit der sofortigen Einforderung der türkischen Kriegsschuldzahlungen aus 1877/78. Das Geld dafür war natürlich nicht vorhanden, daher musste die Bahn über Südanatolien von Konya weiter nach Adana gebaut werden. Hier galt es wieder französische und britische Bedenken auszuräumen, da Firmen aus diesen Ländern in diesem Raum kleinere Stichbahnen zur Küste betrieben. Erst als sich Wilhelm II. höchstpersönlich für das Vorhaben erwärmte, konnte 1903 der Bau ab Konya fortgesetzt werden. Allerdings gingen die Arbeiten nur schleppend voran, weil im Taurus schwieriges Terrain durchquert werden musste und finanzielle Schwierigkeiten den Bau immer wieder verzögerten. Da die Türkei praktisch nichts mehr zu verpfänden hatte, konnte der Staat keine Garantien mehr übernehmen.

1908 brachte der Aufstand der "Jungtürken", die gegen den Bahnbau mit ausländischem Kapital eintraten, eine zweijährige Verzögerung mit sich, schließlich wurde aber doch weitergebaut.
Bei Nusaybin an der heutigen türkisch-syrischen Grenze, die im Jahr 1918 erreicht wurde, war allerdings Endstation, weil Mesopotamien im englischen Einflussbereich stand. Auch der Eintritt der Türkei in den Ersten Weltkrieg sowie davor die Kriege gegen Italien und auf dem Balkan wirkten sich sehr negativ auf den Baufortschritt aus, weil die Rekrutierung von Arbeitern und das Auftreiben von Kapital immer schwieriger wurden. Da die türkische Seite ihren finanziellen Verpflichtungen zeitweise nicht nachkommen konnte, hatte die Baufirma des öfteren Probleme, die Löhne der Arbeiter zu zahlen. Prompt gab es Aufstände der Bauarbeiter, und deutsches Aufsichtspersonal musste evakuiert werden. Immer schwieriger gestaltete sich auch der Nachschub von Baumaterial. 1915 wurde die Bahn als militärisches Mittel benutzt, um durch Truppentransporte und Deportationen den Völkermord an den Armeniern zu beschleunigen.
Mühsam ausgehandelte Vereinbarungen mit den Engländern, die schließlich mit einem Weiterbau bis Basra, aber nicht weiter zum Golf (um eine englische Flussschifffahrtsgesellschaft zu schützen) einverstanden waren, wurden durch den Ersten Weltkrieg zunichte gemacht. Gegen Ende des Kriegs brachen die vorrückenden Engländer einen Teil der von Bagdad nach Norden gebauten Bahntrasse sogar wieder ab.
Schließlich war gegen Ende des Kriegs die Betreibergesellschaft der Bahn in einer kritischen finanziellen Lage, weil zugesagte türkische Zahlungen nicht geleistet wurden, nach Bagdad noch 300 km fehlten und die Bahn ein Spielball internationaler Politik wurde.

An den Staat verkauft

Diese Entwicklung war nicht dazu angetan, die Einnahmen zu steigern und internationalen Warenverkehr anzuziehen. 1928 wurde die Bahngesellschaft an den Staat verkauft, der den Kaufpreis in 73 Jahresraten bis ins Jahr 2002 hätte abzahlen sollen. 1944 stellte die Türkei jedoch die Zahlungen ein, um sie nie wieder aufzunehmen. Die irakischen Streckenabschnitte gingen 1932 entschädigungslos in den Besitz des Iraks über, der in den Jahren 1936 bis 1940 die noch verbliebene Lücke schloss. Der "Taurus-Express" konnte nun direkt von Bagdad nach Istanbul fahren. In Agatha Christies "Mord im Orient-Express" kam dieser Zug durch seinen berühmten Fahrgast Hercule Poirot, der damit nach Istanbul reiste, zu literarischen Ehren.
Die Idee aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die von den Engländern geboren und von den Deutschen aus höchst unterschiedlichen Motiven ausgeführt wurde, fand so nach etwa 100 Jahren ihren Abschluss. Während sich die Deutsche Bank aus reinem Rentabilitätsdenken in der Sache engagiert hatte, förderte das Wilhelminische Deutschland aus politischen Gründen das Vorhaben.

Konkurrent Suezkanal

Finanziell gesehen konnte die Bagdad-Bahn die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Durch die späte Fertigstellung wurde sie im internationalen Personenverkehr bald vom Flugverkehr überholt, denn die Fahrt von Istanbul nach Basra dauerte etwa drei Tage. Für den Warentransport war der Wasserweg billiger und für Transporte von Post oder Gütern nach Indien fehlte die Unterstützung der Engländer, die den Schiffsweg durch den Suezkanal favorisierten.
Allerdings brachte die Bahn durchaus lokale Entwicklungsimpulse mit sich, etwa die Aufwertung der Häfen Iskenderun oder Mersin durch den Baumwollexport. Verkehrsströme innerhalb der Türkei wurden etwas beschleunigt, eine Achse der Industrialisierung wie in Europa wurde die Bahn aber nie.


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